Neun Jahre Straflager für Alexej Nawalny - Der Angeklagte hat das letzte Wort

Der Kremlkritiker Alexej Nawalny ist heute zu einer neuen Haftstrafe verurteilt worden. Als Angeklagter hat er das letzte Wort. Er nutzt es für einen Appell, der es in sich hat: Der Krieg in der Ukraine wäre erst dann beendet, sobald die russische Elite gestürzt sei.

Alexej Nawalny (r.) während seines Prozesses / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Neun Jahre Strafkolonie und 1,2 Millionen Rubel Bußgeld. Das ist die Strafe für den Angeklagten Alexej Nawalny. Ihm werden die Beleidigung eines Richters und organisierter Betrug vorgeworfen.

Im August 2021 hatte der Kremlkritiker nur knapp einen Giftanschlag überlebt, weil er zur Behandlung in die Berliner Charité ausgeflogen worden war. Wie in russischen Geheimdienstkreisen gemunkelt wurde, habe man sich damals einfach mit der Dosis verschätzt.

Obwohl Nawalny wusste, dass man ihn nach seiner Rückkehr nach Russland hinter Gitter bringen würde, entschied er sich, zurückzufliegen. Dort landete er sofort auf der Anklagebank. Im Fall „Yves Rocher“ ist er für Geldwäsche zu dreieinhalb Jahren Straflager verurteilt worden – ein Urteil, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für willkürlich befunden hatte. Seit Februar letzten Jahres ist der Kritiker in Haft.

Opfer eines Schauprozesses

Es ist ein offenes Geheimnis, dass sich die aktuell für Nawalny zuständige Richterin in Kontakt mit der russischen Präsidialverwaltung befindet. Von den angeblich tausenden Betrogenen sagten im Schauprozess gegen Nawalny nur vier Zeugen aus, deren Auftritte wie gescriptet klangen. Auf den Vorwurf der Richterbeleidigung ging die Staatsanwaltschaft kaum ein; trotzdem floss die Anklage ins Urteil ein. 

Den neuesten Betrugsvorwurf begründet die russische Staatsanwaltschaft damit, dass der russische Oppositionspolitiker Spendengelder für seine „Stiftung für den Kampf gegen die Korruption“ veruntreut habe. Damit habe er seinen Wahlkampf für den Präsidentenposten finanzieren wollen.

Der politische Charakter des aktuellen Prozesses wird einem sofort klar, wenn man bedenkt, dass diese Stiftung in Russland ohnehin schon als „extremistisch“ gebrandmarkt und verboten wurde. Das eigentliche Problem der Staatsanwaltschaft besteht darin, dass Nawalny eine Bedrohung für den russischen Präsidenten Putin werden könnte. Deshalb muss er so lange wie möglich hinter Gitter.

Der Krieg als Ablenkungsmanöver?

Das letzte Wort, das Nawalny heute im Gericht gewährt wurde, nutzte er als Gelegenheit, um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen. Und über die Ursachen des Krieges unterbreitet der Kremlkritiker eine originelle Theorie. Nawalny interpretiert den Krieg als ein Ablenkungsmanöver der russischen Elite, die das Volk seit vielen Jahren um seinen Wohlstand prellen würde. Mit dem Krieg würde sie die soziale Unzufriedenheit klein halten wollen.

Es lohnt sich, einige Ausschnitte aus seinem letzten Wort genauer zu analysieren. Zunächst einmal geht es um das Timing des Gerichtsprozesses. Dazu sagt Nawalny, dass er ganz bewusst im Windschatten des Krieges in der Ukraine stattfinden würde:

Dieser Gerichtsprozess ist besonders. Das liegt daran, dass mein Fall niemanden mehr interessiert hat. Mein Fall soll niemanden mehr etwas angehen, denn angesichts des Krieges hat die Bevölkerung aktuell andere Sorgen. Die Präsidialverwaltung hat deshalb den Prozesstermin auf den jetzigen Zeitpunkt gesetzt … ‚Der Krieg wird alle Schuld erlassen.‘ Deshalb findet das jetzt alles statt.

In Nawalnys Behauptung steckt ein wahrer Kern: Denn nach seiner Verurteilung im Februar 2021 erfasste ganz Russland eine riesige Protestwelle. Hunderttausende gingen auf die Straße und forderten seine Freilassung. Das wird angesichts des aktuellen Krieges wahrscheinlich nicht passieren.

Unpatriotische Oligarchen als Kriegsschuldige

Hören wir den Angeklagten weiter an:

Jedes Land hat seine Probleme. Und trotzdem kann man unser Land, das seine Ressourcen verschwendet, mit keinem europäischen Land vergleichen. Dabei haben wir eigentlich alles, um genauso gut leben zu können. … Seit 2007 verfügen wir über einen riesigen Geldstrom an Petro-Dollars. Das steigerte nicht nur den Wohlstand der Wenigen, sondern auch das Volk genoss mit der Zeit einen höheren Lebensstandard. Aber seit 2013 fallen die Reallöhne der Bevölkerung ohne Ende. … Natürlich richtet die Bevölkerung nur eine Frage an die Machthaber: Was ist da los? 

Und sofort liefert Nawalny die Antwort hinterher:

Die Volkswirte sprechen von den ‚verlorenen Jahrzehnten‘. Aber wieso sind es verlorene Jahrzehnte? Haben wir sie etwa verloren? Sind wir auf der Straße herumgelaufen und sind uns dann diese paar Jahrzehnte aus der Tasche gefallen? Nein. Das sind gestohlene Jahrzehnte. Die Menschen, die sie uns gestohlen haben, haben Namen und Anschrift. Ihre Nachnamen können Sie in allen unseren Berichten nachlesen ... Sie haben Betriebe geplündert, sie haben Milliarden auf Schweizer Konten deponiert. Sie haben die Yachten gekauft, die jetzt in Europa beschlagnahmt werden. ... Die vielen Londoner Immobilien, die Côte d'Azur in Frankreich gehört Russen – aber was sind das für Russen? Das sind wunderbare Kosmopoliten. Das ist unser gesamter Wohlstand, den wir für immer verloren haben. Um denen den Mund zu verbieten, die darüber reden, um die taub zu machen, die diese Botschaft vielleicht hören könnten  dazu braucht man aktuell den Krieg. 

Interessanterweise kehrt hier also Nawalny Putins Vorwurf gegen die russischen Kriegsgegner kunstvoll um. Nicht sie seien es, die sich wie „unpatriotische Kosmopoliten“ verhalten würden. Ganz im Gegenteil: Es seien die putintreuen russischen Oligarchen, die die Interessen ihres Landes verraten würden. Ihr eigener Wohlstand sei ihnen wichtiger als das Schicksal ihrer Heimat, so Nawalny.

Ein blinder Fleck in Nawalnys Beweiskette: Putins Großmachtdenken

Dass Nawalny zuallererst das Eigeninteresse der russischen Oligarchen im Blick hat, verstrickt seine Kriegstheorie in einen merkwürdigen Selbstwiderspruch. Sie ist insofern widersprüchlich, als dass er schwer erklären kann, wie dieser Krieg den Oligarchen nützen soll. Denn verlieren nicht auch sie Vermögen im Ausland – ganz zu schweigen von Profiten innerhalb der russischen Föderation? Putin nimmt er in seinem letzten Wort fast vollständig aus der Schusslinie, vermutlich weil er ihn nur für eine Marionette reicher Oligarchen hält. Und das, obwohl die Initiative zum Krieg zuallererst von ihm ausging, nicht von den politisch eher zögerlichen Oligarchen.

Wie können also die Oligarchen diesen Krieg gewollt haben, der sie um ihr Vermögen bringt? Für ein bloßes Ablenkungsmanöver sind die Kosten eigentlich viel zu hoch, als dass dieses Argument tragbar wäre. Es fehlt also ein wichtiges Kernelement, ohne das der Krieg nicht zu verstehen ist – und das nicht bei den Oligarchen, sondern bei Putin persönlich liegt.

Das fehlende Glied in Nawalnys Argumentationskette ist dasjenige, was für Putin alle ökonomischen Kosten des Krieges rechtfertigt: das Projekt einer großrussischen Expansion. Russland, die Ukraine und Belarus sollen seiner Vorstellung nach unter russischer Führung eine Union bilden. Belarus und die Ukraine sind in seinem Weltbild gar keine unabhängigen Länder mit eigenen Staatsformen und einer nationalen Identität oder Geschichte. Dass sich in beiden Ländern prowestliche Bewegungen formiert hatten – und in Kiew sogar ab 2014 eine demokratische Regierung –, ist für Putin Kriegsgrund genug.

Russlands Weg in die Selbstzerstörung

Nawalnys Prognose für Russland ist düster. Selbstzerstörung und Zerfall – das wären die absehbaren Folgen des Krieges für die Russische Föderation. Dass die russischen Oligarchen dieses Risiko in Kauf nehmen, erklärt Nawalny zum Schluss seiner Rede nicht mit ihrem mangelnden Patriotismus. Stattdessen tituliert er die russische Elite offen als eine Gruppe wahnsinniger Altherren, denn nicht einmal er selbst hätte die russische Invasion für möglich gehalten. 

Ich habe diesen Anwälten, die hier sitzen, am 16. Februar gesagt, dass alle, die glauben, dass ein Krieg kommt, einen Dachschaden haben. ... Na und? Das ganze Mantra über die Zerstörung Russlands, über den Zerfall unseres Landes, all das wird immer wahrscheinlicher. Denn wir merken, dass bei uns Leute an der Macht sind, die nicht nur geizig, boshaft, rücksichtslos und primitiv, sondern die auch wahnsinnig sind. Das ist eine Gruppe wahnsinniger, verrückter Altherren, die nichts wissen wollen, die nichts verstehen.

Vom unpatriotischen Ablenkungsmanöver zum offenen Wahnsinn – der logische Sprung in Nawalnys Argumentation ist hier offensichtlich. Man muss zwar Nawalny darin Recht geben, dass die russische Führung offenbar ein verkehrtes Weltbild hat. Aber wer sie für vollends wahnsinnig hält, sollte sich fragen, ob er hier nicht einem Bluff des Kreml auf den Leim geht.

„Ein Affe mit einer Granate in der Hand verfügt über die beste Verhandlungsposition“ – so könnte man einen Kernaspekt der russischen Militärstrategie auf den Punkt bringen. Der Kreml täuscht seine Gegner bewusst mit dieser Aura der Unberechenbarkeit, etwa indem er versucht, den Westen mit der Drohung eines atomaren Erstschlags einzuschüchtern. Wie man sieht, überzeugt der Bluff der Ex-Geheimdienstler im Kreml nicht nur politische Beobachter im Westen, sondern sogar ihren radikalsten Kritiker.

Was tun?

Über diese grundsätzliche Frage zerbrechen sich russische Revolutionäre schon seit fast 160 Jahren den Kopf. Nikolaj Černyševskijs Revolutionsroman „Was tun?“ (1863) kreist unter anderem um die Lebensweise eines Berufsrevolutionärs. Und der Bolschewikenführer Wladimir Iljič Lenin widmete im Jahr 1902 seinem Lieblingsschriftsteller Černyševskij einen gleichnamigem Aufsatz.

Ungefähr aus dieser Zeit entlehnt Nawalny auch die Antwort auf diese brennende Frage. Er greift allerdings weder auf Černyševskij noch auf Lenin zurück, sondern auf den großen Schriftsteller Leo Tolstoj. Der hatte sich 1904 gleichermaßen deutlich gegen den Krieg des russischen Zarenreiches gegen Japan wie gegen das politische System Russlands ausgesprochen. Wie kommt Nawalny auf Tolstoj? Im Gerichtssaal erzählt er:

Die Pflicht eines jeden Menschen ist der Kampf gegen den Krieg. … (Es stellt sich) die Frage, was man genau tun soll … Eine Antwort auf diese Frage gibt mir einer unserer großen Landsleute, dem ich während dieses Prozesses sehr oft in die Augen geschaut habe. … Wie Sie wissen, werde ich jeden Tag vier oder sogar acht Mal komplett gefilzt. Weil in dem Gebäude hier fast immer alle Räume belegt sind, werde ich manchmal auch in der Häftlingsschule durchsucht. Genauer gesagt: Im Klassenraum für den Russischunterricht. Und das mehrmals am Tag. Der Wachmann hält meine Unterhose in der Hand, die er dann mit seinem Metalldetektor scannt. Ich stehe nackt daneben und blicke auf die Wand. Und von der Wand her schaut auf mich Leo Tolstoj, ein großartiger russischer Mensch, der sehr viel Richtiges über sinnlose Kriege gesagt hatte. Tolstoj hat am 4. Juni (1904) einen seiner Gedanken zu diesem Thema in einem Tagebucheintrag festgehalten.

Leo Tolstoj als Stichwortgeber

Auf Leo Tolstojs Tagebuch griffen in der russischen Geistesgeschichte schon einige große Denker zurück. Der Literaturtheoretiker Viktor Šklovskij beispielsweise machte ein Zitat aus Tolstojs Tagebuch, in dem es um die Abnutzung unserer alltäglichen Wahrnehmung geht, zum Dreh- und Angelpunkt seines Theorems der Verfremdung.

Auch Nawalny erzeugt einen Verfremdungseffekt. Von der großen Politik – einem Allgemeinen also – schafft er eine Überleitung zur individuell besonders erniedrigenden Praxis des Filzens, bei der ihn der große Schriftsteller beobachten würde. Dadurch erzeugt er eine „semantische Verschiebung“ (Šklovskij), die unsere Wahrnehmung zum Kernthema zurückführt: Dass die Beendigung des Krieges nur durch den Sturz des Kreml-Regimes möglich sei, genau wie es Tolstoj gefordert hatte.

Tolstoj-Philologen würden Nawalny Recht geben. Denn der Gedankengang Tolstojs, den Nawalny im Gericht zitiert hatte, lautet in voller Länge so: 

Der Krieg ist ein Produkt der Despotie. Sobald sie fällt, wird es keinen Krieg mehr geben können. Es könnte vielleicht noch Schlägereien geben, aber ein Krieg wird unmöglich sein. Die Despotie produziert den Krieg, und der Krieg stützt die Despotie. Wer gegen den Krieg kämpfen will, der muss nur die Despotie bekämpfen. 
 

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