Selenskyjs Wirtschaftsberater im Interview - „In wirtschaftlicher Hinsicht ist dieser Krieg eine Katastrophe“

Seit 2019 berät Alexander Rodnyansky den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei der Durchführung von Wirtschaftsreformen. Im Interview mit Cicero berichtet er darüber, auf welche Weise sich die Ukraine von russischem Gas unabhängig gemacht hat. Angesichts des Krieges in der Ukraine sagt er für die Weltwirtschaft starke Einbußen voraus.

Der staatliche Energiekonzern Naftogaz galt vor dem Krieg als wirtschaftliches Vorzeigemodell. Dank der Wirtschaftsreformen der ukrainischen Regierung schreibt er schwarze Zahlen / Foto: dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Dr. Alexander Rodnyansky ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler. Seine Forschungsschwerpunkte sind Finanzen und Makroökonomie. Nach der Promotion in Princeton im Jahr 2017 wurde er als Juniorprofessor für Volkswirtschaft nach Cambridge berufen. Seit 2019 berät Rodnyansky den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei der Durchführung von Wirtschaftsreformen.

Herr Rodnyansky, wie erhält die Ukraine angesichts des Krieges ihre Infrastruktur und Wirtschaft aufrecht?

Während des Krieges ist das natürlich nicht einfach. Aber die Bauern haben ungefähr 80 Prozent des Saatguts für die nächste Ernte schon bekommen. Das ist ein sehr großer Anteil, wenn man bedenkt, dass im Land Krieg herrscht. Insofern ist das eine gute Nachricht. Und das ist ein Anzeichen dafür, dass es sogar im Krieg noch so etwas wie eine Normalität gibt.

Wie sieht diese Normalität aus?

Viele Menschen sind in der Ukraine geblieben. Sie gehen weiterhin zur Arbeit und versuchen, ihr Leben so normal wie möglich weiterzuführen. Deswegen funktionieren bestimmte Segmente der Wirtschaft nach wie vor. Wir müssen schließlich sicherstellen, dass sich die Menschen ernähren können, dass es Energie gibt und dass nicht alles zusammenbricht. Das ist bislang nicht geschehen – trotz aller Lieferengpässe, trotz aller logistischen Probleme und trotz der Probleme in der Produktion.

Wie ist zurzeit die Situation im industriellen Sektor?

Es gibt sehr schwere Schäden. Ein sehr großer Teil der Infrastruktur ist beschädigt oder zerstört. Vor allem, wenn man sich etwa Brücken, Straßen oder Gebäude anschaut. Das ukrainische Wirtschaftsministerium beziffert die Schäden auf mittlerweile rund 118 Milliarden US-Dollar. Zum Vergleich: Die Ukraine hat von der EU im Zeitraum von 2013 bis 2020 etwa 103 Milliarden US-Dollar für Infrastrukturprojekte überwiesen bekommen. Und es werden auch Fabriken bombardiert. In Gebieten, in denen unmittelbar gekämpft wird, ist die Zerstörung am schlimmsten. Mariupol ist beispielsweise fast vollständig zerbombt, das betrifft aber auch viele andere kleinere Städte im Osten. Deswegen ist es sehr schwer, die Wirtschaftsleistung der Ukraine auf einem guten Niveau zu halten. Und es gibt sehr viele Männer, die jetzt an der Front kämpfen. Deswegen kommen viele Produktionsprozesse zum Stehen.

Woran werden sich diese Ausfälle bemerkbar machen?

In wirtschaftlicher Hinsicht ist dieser Krieg eine Katastrophe. Wir werden wegen des Krieges wahrscheinlich bis zu 50 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts verlieren. Aber es gibt auch Lichtblicke. Um Ihnen ein Beispiel aus meiner Arbeitserfahrung zu geben: Ich bin Mitglied im Aufsichtsrat der Oschadbank, der größten Bank der Ukraine nach Filialen (und der zweitgrößten gemessen an den Aktiva). Über die Jahre haben wir ein sehr starkes Segment im Kreditbereich aufgebaut. Es gibt viele Kleinunternehmer und Unternehmer aus dem Mittelstand, die mit uns arbeiten. Und zwar aus den verschiedensten Bereichen: Von Agrarfirmen bis hin zu Pharmaunternehmen sind sehr viele Sektoren dabei. Es besteht immer noch eine hohe Nachfrage nach Darlehen. Die Menschen wollen ihr Land wieder aufbauen. 

Eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union kann der Ukraine sicherlich beim Wiederaufbau helfen. Wie ist der aktuelle Stand der Verhandlungen mit der EU? 

Die Verhandlungen mit der Europäischen Union stehen gerade erst am Anfang. Um es deutlicher zu sagen: Es gibt vier Phasen auf dem Weg zum Beitritt. Die erste Phase ist die Bewerbung, und in der befinden wir uns jetzt. Danach kommt der Kandidatenstatus, auf den wir aktuell warten. Die wirklichen Beitrittsverhandlungen – das ist die dritte und vierte Phase – stehen noch aus. Und in unserem Fall werden sie einige Jahre dauern. 

Wird die Ukraine dann auch Teil des europäischen Binnenmarkts werden?  

Sobald wir den ganzen Prozess durchlaufen haben werden: Ganz klar. Dafür müssen wir aber noch viele institutionelle Reformen durchsetzen, die die EU von uns verlangt. Sobald die durch sind, würden wir nicht nur Teil des Güterhandel-Binnenmarktes werden, sondern auch im gesamteuropäischen Dienstleistungs- und Arbeitsbereich aktiv sein. Wir wären also in allen wirtschaftlichen Bereichen EU-Vollmitglied. Das ist das Ziel. Aber bis zu diesem Punkt ist es noch ein langer Weg. Denn als Kandidat muss man die Kopenhagener Kriterien erfüllen, die sehr streng sind.

In der Ukraine ist Korruption ein stets wiederkehrendes Problem. In welchem Ausmaß ist sie in der Ukraine verbreitet?

Wir haben in den letzten Jahren viele Maßnahmen gegen die Korruption ergriffen. Natürlich sind wir noch sehr weit von westlichen Standards entfernt, was die Korruptionsbekämpfung angeht. Denn Korruption ist ja vor allem ein Symptom struktureller Probleme, die sich nicht schnell beheben lassen. Aber wenn wir die aktuelle Situation mit dem Stand von 2013 vergleichen, haben wir schon riesige Fortschritte gemacht und einige Erfolge verzeichnet. Um das im internationalen Vergleich zu unserem größten Nachbarn zu sehen: Schauen Sie sich einmal an, wie die Lage in Russland ist. In dieser Relation stehen wir gar nicht so schlecht da.

Viele Oligarchen und hochrangige Politiker verlassen jetzt Russland. Und wegen des Dual-use-Exportembargos fehlen selbst in der russischen Rüstungsindustrie Ersatzteile. Wir sehen also, dass die westlichen Sanktionen schon sehr hart wirken. Können sie auch kriegsentscheidend sein?  

Mittelfristig sind die Sanktionen, die Sie ansprechen, sehr wirksam. Langfristig könnten sie auch kriegsentscheidend sein, wenn wir davon ausgehen, dass der Krieg sich noch weiter in die Länge zieht. Kurzfristig werden sie aber nicht viel beitragen können, weil sie allein nicht ausreichen. 

Welche zusätzlichen Sanktionen fordern Sie?

Wir brauchen ein europäisches Öl- und Gasembargo. Denn Russland kann sich nach wie vor den Krieg finanzieren. Es verkauft in einem großen Volumen und zu sehr hohen Preisen Gas, Öl und Kohle in die EU. Bedenken Sie: Ein Großteil der russischen Gas- und Ölexporte geht nach Europa. Insofern ist der russische Staatshaushalt sehr stark von der Nachfrage aus der EU abhängig. Ein Embargo würde die russische Wirtschaft also empfindlich treffen. Und es wird schon kurzfristig im Krieg die Wende bringen, weil sich dann Russland seinen Krieg nicht mehr leisten kann. Deswegen sollte da so schnell wie möglich etwas passieren. Aber leider sehe ich bislang zu wenige Schritte in die Richtung.

Gestern hat Bundeskanzler Olaf Scholz behauptet,  dass wir das Gas ruhig weiter fließen lassen sollten, weil Putin wegen der Finanzsanktionen sowieso gar nicht mehr auf die Einnahmen zugreifen könne. Stimmt das überhaupt?

Nein, das stimmt natürlich nicht. Wenn man diese Logik zu Ende denkt, kann man sich fragen: Warum führt Putin nicht selbst das Embargo ein? Es würde schließlich Deutschland und der EU erheblichen Schaden zufügen. Aber Russland behält seine Einnahmequellen aus dem Ressourcenverkauf. Und das muss es auch um jeden Preis tun. Denn es finanziert nicht nur das Militär durch die Devisenverkäufe, sondern den gesamten Staatsapparat.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Schauen Sie sich den Unterdrückungsapparat innerhalb des russischen Staates an. Ohne das Geld aus dem Gasverkauf könnte sich der Kreml seinen Polizeistaat nicht mehr leisten. Wir reden hier von riesigen Summen, die notwendig sind, um ihn aufrecht zu erhalten. Ohne die entsprechende Finanzierung würde er zusammenbrechen. Ich denke, das wäre auch ein Dienst an der russischen Demokratiebewegung, wenn die EU ein Öl- und Gasembargo durchsetzt. Denn indem wir dem russischen Unterdrückungsapparat den Geldhahn abdrehen, können wir die Demokratisierung Russlands beschleunigen. 

Die Ukraine hat viele Erfahrungen gesammelt, was die Gas-Erpressung durch Russland angeht. Denn schon einige Male hat Russland der Ukraine das Gas abgedreht. Wie hat sich die Ukraine von russischem Gas unabhängig gemacht?

Das war für uns kein einfacher Prozess. Es gibt zwar noch russische Transit-Pipelines nach Europa, die weiterhin genutzt werden. Durch die Transitgebühren erzielen wir weiterhin Einnahmen. Aber für unseren Bedarf importieren wir kein russisches Gas mehr. Natürlich musste die Bevölkerung dafür einiges in Kauf nehmen. Wir haben zum Beispiel die Energiepreise anheben müssen. Und wir haben neue Marktmechanismen geschaffen, damit die Endverbraucher mit diesen Preisen leben können. Daran waren unsere Verbraucher damals überhaupt nicht gewöhnt. Denn das postsowjetische System vor dem Maidan ist auch in wirtschaftlicher Hinsicht ein sehr stark subventionierter, ineffizienter und korrupter Apparat gewesen. Ich kann Ihnen das gern anhand eines Beispiels erklären.

Bitte.

Der staatliche Energiekonzern Naftogaz war noch 2014 ein Riesenproblem, da die Firma kontinuierlich auf finanzielle Hilfe vom Staat angewiesen war. Das „Naftogaz-Defizit“ stieg 2014 sogar auf sechs Prozent des BIP. Das war ein Riesenloch im Haushalt. Aber mittlerweile ist die Firma sehr profitabel: Elf Prozent unseres Haushaltes werden durch Naftogaz generiert. Damit ist Naftogaz der größte Steuerzahler in der Ukraine geworden. Und das konnte natürlich nur dank unserer Reformen so zustande kommen. 

Wie hat die Bevölkerung ab 2014 die Reformen wahrgenommen?

Obwohl die Reformen ein großer Fortschritt sind, hat sie Bevölkerung nicht immer positiv aufgenommen. Ich kann auch verstehen, warum diese Reformen anfangs nicht besonders beliebt waren. Und warum die Deutschen bei derart drastischen Umstellungen im Energiesektor skeptisch sind. Denn wenn die Preise steigen, dann merken das die Konsumenten sehr schnell. Das würde auch in Deutschland so passieren. 

Welche Möglichkeiten gibt es, um die negativen Effekte von Preissteigerungen im Energiesektor abzufedern?

Für den Endverbraucher gibt es relativ einfache Mechanismen, wie man die Preissteigerungen abfedern kann: Man kann ärmere Haushalte subventionieren. Dagegen braucht es in der Industrie große Infrastrukturreformen, um sie von russischem Gas langfristig unabhängig zu machen. Kurzfristig könnte die Bundesregierung zumindest den Atomausstieg überdenken oder Flüssiggas importieren, damit der Energiemix stimmt.

Wir sprechen inzwischen von den globalen wirtschaftlichen Folgen des Krieges. Denn die Ukraine produziert nicht nur Getreide, sondern auch Neongas und Palladium für die Hightech-Industrie. Das alles fehlt, Lieferketten brechen zusammen. Welche Mechanismen sind kurz- und langfristig nötig, um diesen Auswirkungen entgegenzutreten?  

Es gibt keine einfachen Lösungen. Man müsste zuerst einmal den Krieg beenden. Nur so können wir die Wirtschaft wieder vollständig in Gang bringen. Momentan ist die Produktion sowieso beeinträchtigt, weil viele Fabriken durch Bombardements beschädigt sind. Ich weiß aber, dass es Versuche gibt, bestimmte Produktionsstätten in die Westukraine zu verlegen. Das gilt nicht nur für die Industrie, sondern auch für den IT-Sektor. Momentan wird zum Beispiel ein großer Teil der IT-Infrastruktur der „Oschadbank“ nach Lwiw verlegt, weil sie dort sicherer ist. Aber diese Prozesse brauchen alle viel Zeit und Mühe. 

Wie könnte für die Ukrainer in Zukunft ein freundschaftliches Verhältnis mit Russland aussehen? Hat es in den letzten Jahren auch Phasen der Kooperation gegeben?

Es gibt für wirtschaftliche Zusammenarbeit auch nach 2014 genug positive Beispiele. Trotz der russischen Annexion der Krim und der Besetzung des Donbass gab es nicht wenige russische Unternehmer, die in die ukrainische Wirtschaft investiert und sie dadurch vorangebracht haben. Wer von Russland aus im ukrainischen Bankensektor tätig sein wollte, musste dafür aber einen Umweg nehmen. Es gab zum Beispiel russische Banken in der Ukraine, die bei uns als westliche Banken registriert waren. Wenn sie zum Beispiel einen Standort in Holland als Hauptsitz angegeben haben, dann war das so völlig in Ordnung. Natürlich wurde das mit der Zeit schwieriger. Und jetzt, wo Russland einen Krieg gegen uns führt, ist an eine Kooperation gar nicht mehr zu denken. 

Welche Perspektiven gibt es für die Wiederaufnahme der ukrainisch-russischen Beziehungen?

Sobald der Krieg zu Ende ist, werden wir uns wieder darum bemühen, die eingestürzten Brücken wieder aufzubauen. Denn Russland bleibt nach wie vor unser größter Nachbar. Und es müsste eigentlich im Interesse aller sein, dass sich unsere Wirtschaftsbeziehungen irgendwann normalisieren. Aber für solche Träume ist es jetzt noch zu früh. Russland müsste nur eines tun, damit wir den bilateralen Handel wieder aufnehmen: Es muss den Krieg gegen die Ukraine beenden.

Das Gespräch führte Nathan Giwerzew.

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