Die Pandemie in der Schweiz - „Corona-Politik ist wie Akkordeonspielen“

In der Schweiz verhält sich das Coronavirus mysteriös: Erst war das Gesundheitssystem am Anschlag, dann folgten verhältnismäßig moderate Maßnahmen, und die Fallzahlen halbierten sich. Was machen die Schweizer anders als die Deutschen? Ein Interview mit „Blick“-Chefredakteur Christian Dorer.

In der Schweiz sind die Skigebiete wieder offen / dpa
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Christian Dorer ist Chefredakteur der Schweizer Tageszeitung „Blick“.

Herr Dorer, die Schweiz ist in Sachen Corona im Moment das eigentliche Schweden: kein Lockdown, offene Hotel und Restaurants, offene Skigebiete. Wie kommt das Land mit dem Virus dabei zurecht?
Es gab bei uns wie überall verschiedene Phasen. Im Frühjahr hatten auch wir einen ziemlich harten Lockdown und brachten die Zahlen herunter. Dann hat die Schweiz sehr früh gelockert, was lange gut ging. Und plötzlich explodierten die Zahlen im Oktober. Jetzt geht die Schweiz einen Mittelweg, indem es relativ moderate Maßnahmen gibt für das ganze Land, und die einzelnen Kantone können je nach Situation verschärfen.

Wie hat sich das ausgewirkt?
Die Fallzahlen haben sich innerhalb von zwei Wochen halbiert, obwohl die Maßnahmen ziemlich moderat sind im Vergleich zu Deutschland.

Was denn konkret, was wird denn derzeit überhaupt heruntergefahren?
Landesweit gilt: Es dürfen keine Events stattfinden mit mehr als 50 Personen, alle Restaurants und Bars müssen um 23 Uhr schließen, es gibt Maskenpflicht in allen öffentlichen Einrichtungen drinnen und draußen, wenn es eng wird. Es wird einfach verhindert, dass große Massen von Leuten beisammen sind. Es wird ein Kompromiss gesucht, ganz praktisch. Und das ist typisch für die Schweiz. Die Schweiz ist ja grundsätzlich ein großer Kompromiss.

Christian Dorer / Ringier

Zwischenzeitlich hat Ihre Zeitung aber auch Alarm geschlagen. „1046 Tote in zwei Wochen - und die Schweiz schweigt“, heißt eine Schlagzeile. „Warum findet das große Sterben so wenig Widerhall?“, hieß eine zweite. Warum fand das keinen Widerhall, und wieso gehen die Zahlen jetzt gleichwohl zurück?
Zwei schwere Fragen auf einmal. Wir betrachten das wie ein Akkordeon, auf Schweizerdeutsch heißt das Handorgel. Man muss aufmachen, so weit es geht, und dann wieder ein bisschen schließen, wenn es schlimm wird. Und es gab tatsächlich diese Phase Anfang Oktober, als die Fallzahlen exponentiell anstiegen. Teilweise über 10.000 bestätigte Neuinfektionen am Tag, hochgerechnet auf Deutschland wären das fast 100.000 Fälle am Tag. Da haben wir die Regierung massiv kritisiert. Denn sie hat die Entwicklung verschlafen, bis sie dann endlich aktiv wurde und die eben geschilderten Maßnahme getroffen hat.

Die moderat waren, und dennoch gehen die Zahlen deutlicher herunter als in Deutschland bei härteren Maßnahmen. Wie erklärt sich denn das?
Das ist tatsächlich ein großes Rätsel. Selbst unsere Experten wissen nicht genau, warum die Zahlen erst so explodiert und jetzt so deutlich heruntergegangen sind bei vergleichsweise moderaten Maßnahmen. Das Virus hält für uns alle viele Mysterien bereit. Unsere Regierung macht bei diesem Ritt ins immer wieder Ungewisse einen insgesamt guten Job, verfällt nicht der Versuchung eines harten Lockdowns, was ja das Einfachste wäre. Politiker wollen immer handeln und möglichst viel tun. Dieser Versuchung des Aktivismus verfallen die politisch Verantwortlichen in der Schweiz glücklicherweise nicht.

Einer Ihrer Bundesräte, Ueli Maurer, hat ganz offen von einer notwendigen „Güterabwägung“ zwischen Wirtschaft und Gesundheitsschutz gesprochen. Ist das der Hintergrund für den Schweizer Weg?
Wissen Sie, was der große Unterschied ist zu Deutschland, Österreich und Frankreich: Wir haben keine Regierung mit einem Regierungschef, der die alleinige Verantwortung trägt und dann einfach befehlen kann, wie er das machen will. Unsere Regierung besteht aus sieben gleichberechtigten Mitgliedern. Die haben völlig unterschiedliche Ansichten, Ueli Maurer von der SVP, der findet das eigentlich alles übertrieben, sieht in Corona nicht mehr als eine schwerere Grippe und möchte am liebsten überhaupt nichts machen. Auf der anderen Seite gibt es Bundesrätin Viola Amherd von der CVP, die würde am liebsten einen knallharten Lockdown über das ganze Land verhängen. Die müssen dann zu siebt jede einzelne Maßnahme ausdiskutieren und einen Kompromiss finden, hinter dem alle stehen, oder mindestens eine Mehrheit. Das führt automatisch zu moderaten Lösungen. Nicht nur in dieser Pandemie. Aber hier sieht man es sehr exemplarisch.

Schweden hat den schwedischen Weg verlassen und einen Lockdown verhängt. Könnte das in der Schweiz auch passieren?
Wenn jetzt das Gesundheitssystem mit einem Mal massiv überlastet wäre, was es zum Glück nicht ist ...

... vor einigen Wochen gab es bei Youtube aber den Hilferuf eines Intensivarztes aus Fribourg, der eindringlich darauf hinwies, dass das System am Anschlag sei ...
... ja, punktuell waren Spitäler am Anschlag, aus Fribourg etwa wurden Patienten nach Bern verlegt. Aufs ganze Land gesehen waren bisher zum Glück nie alle Betten voll. Die Auslastung der Intensivstationen lag ziemlich konstant bei 75 Prozent. Wenn es aber zu einem Szenario wie in Bergamo käme, wir haben alle die Horrorbilder im Kopf, dann würde auch in der Schweiz kein Weg an einem harten Lockdown vorbeiführen.

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