Entwicklungen in Westafrika - „In Niger werden Putschisten auch als fortschrittliche Kraft gesehen“

Ende Juli haben Militärs die Macht in Niger übernommen und den gewählten Präsidenten abgesetzt. Im Interview erklärt die Konfliktforscherin und Afrika-Expertin Lisa Tschörner die Gründe für den Putsch und warum er zu einem Flächenbrand in der Region führen könnte.

Menschen demonstrieren in Nigers Hauptstadt Niamey, um damit ihre Unterstützung für die Putschisten zu zeigen / picture alliance
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Lisa Tschörner ist Konfliktforscherin und Expertin für Afrika südlich der Sahara mit den Schwerpunkten Konflikte, Konflikt- und Krisenprävention, Peacebuilding und Politische Ordnungen. Seit Mai 2022 forscht sie im Rahmen des Projektes „Megatrends Afrika: Auswirkungen und Handlungsoptionen für die deutsche und internationale Politik“.

Frau Tschörner, am 26. Juli haben Militärs die Macht in Niger übernommen und den gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum abgesetzt. Sie kennen sich in der Region bestens aus. Hat Sie der Putsch trotzdem überrascht? 

Ich war schon überrascht, dass es am 26. Juli zu diesem Putsch gekommen ist. Aber wenn man sich die Geschichte des Niger anschaut, dann muss man auch feststellen, dass das Militär immer schon einen großen Einfluss auf das politische Geschehen im Land hatte. Es gab bereits vier Militärputsche im Niger. Das war jetzt der fünfte. 

Das wäre auch meine nächste Frage gewesen: Ohne zynisch klingen zu wollen, aber dass in einem afrikanischen Land ein Militärputsch stattfindet, kommt durchaus mal vor. Was macht diesen Putsch in Niger denn besonders – oder vielleicht auch gerade nicht? 

Das Militär ist, wie gesagt, in Niger schon immer ein wichtiger politischer Akteur gewesen und interessanterweise auch ein Akteur, der im Falle einer politischen Krise das Steuer in die Hand nimmt und vorgibt, für Ordnung zu sorgen. Das ist einerseits das Selbstverständnis des Militärs, andererseits nimmt die Bevölkerung die Putschisten auch so wahr. Der letzte Putsch im Jahr 2010 hat zum Beispiel zu einem demokratischen Erneuerungsprozess geführt, nachdem der damalige Präsident Mamadou Tandja eine verfassungswidrige dritte Amtszeit antreten wollte. Insofern werden Putschisten in Niger auch als treibende oder fortschrittliche Kraft gesehen. 

Viele Nigrer sind anschließend auf die Straße gegangen und haben den Putsch gefeiert. Sie sagten gerade, das Militär gebe vor, für Ordnung zu sorgen. Wo war also die Unordnung, die das Militär nun mit einem Putsch ordnen musste oder wollte?  

Es gibt viele Schwierigkeiten, mit dem das Land derzeit konfrontiert ist. Dazu zählt zum Beispiel die Sicherheitskrise. Seit über zehn Jahren spielen auch im Niger dschihadistische Gruppen eine große Rolle und gewinnen immer mehr an Einfluss. Das sind lokale Ableger von Al Kaida und vom Islamischen Staat, die soziale und politische Missstände ausnutzen, um Kämpfer zu rekrutieren und immer weitere Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen.

Von dem, was wir bis jetzt über den Putsch wissen, soll es etwa Differenzen zwischen der Militärführung und Präsident Bazoum im Umgang mit dieser Sicherheitskrise gegeben haben. Der Präsident hat zuletzt den Ansatz der ausgestreckten Hand verfolgt, das heißt, den Dialog mit diesen Gruppen gesucht. Außerdem wurden inhaftierte Dschihadisten frei gelassen, was von der Militärführung wohl nicht begrüßt wurde. 

Nun ist die Region, die Sahelzone, dafür bekannt, dass islamistische Gruppen dort Einfluss haben. War der Ansatz der ausgestreckten Hand, damit nicht einfach nur eine pragmatische Herangehensweise Bazoums an die Thematik? 

Das war eine sehr pragmatische Herangehensweise. Schon unter dem Vorgängerpräsidenten wurde ein Amnestiegesetz auf den Weg gebracht, das Menschen den Ausstieg aus dschihadistischen Gruppen erleichtern sollte. Aber das war auch nicht der einzige Grund, der unter den Militärs für Unmut gesorgt hat. Teile der Militärführung haben sich zum Beispiel auch gegen eine Militärkooperation mit Frankreich ausgesprochen. Ein Grund ist, dass Frankreich vorgeworfen wird, in der Region eigenmächtig Militäroperationen durchzuführen.  

Das verstehe ich nicht ganz. Einerseits diagnostiziert man eine Sicherheitskrise, andererseits weigert man sich aber, Unterstützung von Frankreich anzunehmen, um diese zu lösen? 

Das hat mit der Geschichte des Landes zu tun und mit Frankreich als ehemaliger Kolonialmacht. Frankreichs Auftreten im Niger wird von vielen Menschen dort bis heute als sehr paternalistisch wahrgenommen und damit als Widerspruch zum Souveränitätsbestreben des Landes. Diese Kritik kommt auch aus den Reihen des Militärs. 

Aber warum gingen Unterstützer der Militärjunta nach dem Putsch ausgerechnet mit Russland-Flaggen auf die Straße? 

Ich glaube, dass man das nicht überbewerten sollte; dass die Menschen Russland irgendwie als Helden sehen oder als möglichen Retter. Ich würde die Russland-Flaggen eher in Zusammenhang damit sehen, dass es eine große Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung gibt. Den Menschen wurde in den vergangenen Jahren viel versprochen hinsichtlich Demokratie und der Verbesserung ihrer Lebensumstände. Von diesen Versprechen spüren die Menschen bis heute aber nicht viel. 

Da sind wir beim nächsten Punkt. Rund um den Putsch war und ist viel zu lesen darüber, dass der Niger ein strategisch wichtiger Partner des Westens sei. Davon, dass dort ein demokratisch gewählter Präsident weggeputscht wurde. Verklären westliche Medien respektive der Westen den Zustand des Niger? 

Ein Grund, warum viele Leute im Westen der Putsch überrascht hat, ist, dass in westlichen Medien und in der Politik immer der Eindruck übermittelt wurde, der Niger sei ein Stabilitätsanker in einer von Krisen überschütteten Region. Ich glaube, dass da häufig zu viel Wunschdenken dahintergesteckt hat. Es stimmt, dass die abgesetzte Regierung 2021 durch demokratische Wahlen legitimiert wurde. Allerdings ist umstritten, inwiefern die Wahl wirklich frei und demokratisch war. 

Definiere „demokratisch“. Die Wahlen in der Türkei waren auch demokratisch legitimiert, aber drumherum hat es dennoch undemokratische Vorfälle gegeben. Und die Berichterstattung türkischer Medien war sehr einseitig pro Erdogan. 

Ja. Der Niger hat zum Beispiel auch eine sehr aktive Zivilgesellschaft, die von der Regierung zuletzt stark unterdrückt wurde; etwa, indem Demonstrationen verboten wurden. Auch das war ein Grund, warum der Missmut innerhalb der Gesellschaft zugenommen hat – weil man von einer demokratischen Regierungsführung nicht wirklich sprechen konnte. Auch deshalb gehen die Menschen jetzt für die neuen Machthaber auf die Straße und protestieren für eine neue Strategie im Umgang mit der Sicherheitskrise; weil sie das bisher nicht konnten.

 

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Mit welchen Problemen ist die Bevölkerung des Niger noch konfrontiert, also im Alltag? 

Niger ist ein Land, das auf dem UN-Index für menschliche Entwicklung regelmäßig am unteren Ende zu finden ist. Rund 50 Prozent der Bevölkerung leben in extremer Armut, vor allem Frauen sind betroffen. Gleichzeitig hat Niger mit das höchste Bevölkerungswachstum der Welt. Ressourcenkonflikte, zum Beispiel um Land und Wasser und auch die Ernährungssicherheit sind große Probleme. Immer wieder kommt es zu Hungersnöten. Naturkatastrophen wie Dürren und Überschwemmungen verschlimmern die Lage. Hinzu kommt, dass staatliche Institutionen jenseits der urbanen Zentren schon immer sehr wenig präsent und damit nur einer von vielen Akteuren waren, die um politischen Einfluss und Macht konkurrierten. Und jetzt steht auch noch ein potentieller Bürgerkrieg vor der Tür. Das macht den Menschen natürlich große Sorgen. 

Wie groß ist denn Ihre Sorge, dass so ein Bürgerkrieg tatsächlich einsetzen könnte? 

Ich finde die jüngsten Entwicklungen schon sehr besorgniserregend. Ende letzter Woche ist das Ultimatum der Ecowas (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft; Anm. d. Red.) an die Putschisten abgelaufen. Danach ist erstmal nichts passiert, aber die Androhung einer militärischen Intervention besteht fort. Die Bevölkerung leidet schon jetzt unter den verhängten Sanktionen. Deshalb gehen die Menschen auch für die Militärjunta auf die Straße, statt das Vorgehen der Ecowas zu begrüßen.

Sowohl Putsch-Befürworter als auch pro-demokratische Kräfte äußern sich vehement gegen die Maßnahmen der Ecowas, zum Teil mit erschreckender Kriegsrhetorik. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben zudem zur Formierung von sogenannten patriotischen Brigaden aufgerufen, die sich jetzt schon an strategisch wichtigen Straßenkreuzungen versammeln und Checkpoints aufgebaut haben, um vorbeifahrende Autos zu kontrollieren und sich gegebenenfalls ausländischen Truppen in den Weg zu stellen. Sowas kann schnell eine gewaltsame Eigendynamik entwickeln.

Unter den pro-demokratischen Kräften gibt es auch die Sorge, wie die Militärjunta wohl reagieren würde, wenn es tatsächlich zu einer militärischen Intervention kommt. Was, wenn der von den Putschisten festgesetzte Bazoum und seine Familie umgebracht werden? Wen wird es als nächstes treffen? Es gab bereits zahlreiche Verhaftungen und Medienvertreter haben Drohungen erhalten. Die Leute haben berechtigterweise Angst vor einer Gewalteskalation.

Lassen Sie uns diese Gemengelage mal kurz aufdröseln. Da gibt es also einerseits Länder der Ecowas, der westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft, die mit einer Intervention drohen. Es gibt aber auch Länder wie Mali und Burkina Faso, die an der Seite der Militärjunta stehen. Wer würde bei einer Intervention also wem gegenüberstehen? 

Es gibt einige Länder der Ecowas, die sich bereit erklärt haben, Truppen für eine militärische Intervention in Niger zur Verfügung zu stellen. Dazu zählt zunächst Nigeria, das eine der größten Armeen Afrikas hat und laut Ecowas auch als größter Truppensteller vorgesehen wäre. Allerdings hat sich der Senat Nigerias gegen eine Teilnahme an einer Intervention ausgesprochen. Und auch in den anderen Ländern, die Truppen stellen würden – Senegal, Elfenbeinküste und Benin – regt sich Protest gegen ein militärisches Vorgehen, was innenpolitische Krisen zur Folge haben könnte. Es bleibt also unklar, inwiefern die Gewaltandrohung der Ecowas-Staaten überhaupt praktisch umsetzbar ist – beziehungsweise zu welchem Preis.

Andererseits haben sich die Militärregierungen der derzeit von der Ecowas suspendierten Länder Mali, Burkina Faso und Guinea solidarisch mit Niger erklärt – und betont, Niger militärisch unterstützen zu wollen, sollte es zu einer Ecowas-Intervention kommen. Sie sehen also, dass die Gefahr besteht, dass sich der Putsch in Niger zu einem Flächenbrand in der gesamten Region ausweitet, sollte die Ecowas doch militärisch intervenieren; dass sich die gesamte Region in eine Gewaltspirale bewegt – mit offenem Ende. 

Lisa Tschörner / SWP 

Frankreich hat unterdessen angekündigt, die Entwicklungshilfe für Burkina Faso – also ein Unterstützer Nigers – einzustellen. Ist das der einzige Weg, wie der Westen hier aktiv werden kann? Oder gibt es noch weitere? 

Ich glaube, dass man jetzt erst mal die Entwicklungen beobachten muss. Es ist jetzt noch zu früh, zu entscheiden, wie die Kooperation Europas oder Deutschlands mit Niger weiter gestaltet werden kann. Was auf jeden Fall feststeht, ist, dass der bisherige politische Ansatz des Westens überarbeitet und überdacht werden muss. Bisher wurde ja neben der Entwicklungshilfe vor allem der Akzent auf die Ertüchtigung des Militärs gesetzt – und das Militär hat sich jetzt gegen die eigene Regierung gewendet.

Was das Einfrieren von Entwicklungshilfe betrifft: Ich denke, es ist der falsche Weg, jetzt die Bevölkerung als Ganzes zu bestrafen. Mit Entwicklungshilfe werden ja zum Beispiel auch lokale Friedensinitiativen finanziert. Einen solchen Weg zu gehen, wäre fatal – und wird sicher nicht dazu führen, dass die Bevölkerung die Putschisten verurteilt, im Gegenteil. Wir sehen ja, dass auf Grund der Sanktionen die Rufe nach mehr Patriotismus lauter werden, was wiederum von den Putschisten genutzt wird, um die Massen weiter zu mobilisieren. 

Die US-Regierung hat sich derweil für eine diplomatische Lösung ausgesprochen. Ich habe mich gefragt, wie eine solche diplomatische Lösung denn aussehen könnte? Denn die Putschisten werden sich wohl kaum zurückziehen. 

Eine diplomatische Lösung würde natürlich immer auf einen Kompromiss hinauslaufen. Da ist jetzt die Frage, wie ein solcher Kompromiss aussehen könnte. Höchste Priorität hat ja zunächst einmal die Befreiung von Bazoum und seiner Familie, die weiterhin als Geiseln gehalten werden. Ein Kompromiss könnte beispielsweise darauf hinauslaufen, dass Bazoum im Gegenzug zu einer Freilassung offiziell sein Amt niederlegt, aber sich beide Parteien auf einen Zeitplan für einen Übergangsprozesses und die zügige Organisierung von Neuwahlen einigen. Das wäre ein möglicher Weg, um ein Blutbad zu vermeiden.  

Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund das Treffen der Ecowas am Donnerstag? 

Auch wenn bei dem Treffen die Option der militärischen Intervention weiter bekräftigt wurde, so wurde doch auch deutlich gemacht, dass dies nur das allerletzte Mittel sein soll; dass zuvor alle Versuche unternommen werden sollen, um doch noch eine diplomatische Lösung zu finden. Das ist erstmal ein gutes Zeichen. Und eventuell auch ein Weg für die Ecowas, aus dem Dilemma der einerseits vorschnell aufgebauten Drohgebärden bei gleichzeitig fraglicher Handlungsfähigkeit einigermaßen gesichtswahrend wieder herauszukommen. 

Das Gespräch führte Ben Krischke. 

 

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