Russland, Ukraine und die Nato - „Putin bewertet Nuklearwaffen anders als wir“

Der Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter (CDU) warnt vor einer weiteren Eskalation des Ukrainekonflikts. Er traue Putin zu, taktische Nuklearwaffen einzusetzen, so der Bundestagsabgeordnete und Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages. Als deutliches Signal plädiert er für einen zeitweiligen Stopp der Erdgasimporte.

„Zwischen 1990 und 2014 die Bundeswehr eher als Steinbruch für den Bundeshaushalt gesehen“, beklagt Roderich Kiesewetter / dpa
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Roderich Kiesewetter ist Oberst a.D. der Bundeswehr und seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages, in dem er den Wahlkreis Aalen–Heidenheim als Direktkandidat vertritt.

Herr Kiesewetter, Sie waren 27 Jahre Soldat, Sie waren bei der Nato, in Auslandseinsätzen auf dem Balkan und auch zu Dienstreisen in Afghanistan. Sie sind jetzt Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages, das die Nachrichtendienste des Bundes kontrolliert. Wie schätzen Sie die gegenwärtige Lage in der Ukraine ein?

Ich befürchte, dass wir vor schrecklichen Eskalationen stehen, bis hin zum Einsatz taktischer Nuklearwaffen. Das Grosny-Szenario einer völligen, brutalstmöglichen Zerstörung einer Stadt, wird Präsident Putin aber mit Kiew nicht machen können. Militärisch, sozusagen aus Putins Sicht gesprochen, wäre auch der Aufwand unverhältnismäßig groß. Die russischen Truppen haben einen Großteil ihrer Präzisionswaffen und ihrer Munition schon verbraucht. Ich befürchte, dass Putin versucht, mit einer falschen Legende, also mit Desinformation als Teil der hybriden Kriegsführung, über biologische Labore oder Chemiewaffen der Amerikaner seinen Einstieg in die atomare Eskalation zu rechtfertigen.

Der Einsatz von Nuklearwaffen gilt nicht mehr als absolutes Tabu, versagt die Abschreckung?

Putin bewertet Nuklearwaffen anders als wir. Es geht nicht um den großen Atomkrieg. Der Westen hat Atomwaffen als politische oder strategische Waffen zur Abschreckung. Auch so genannte taktische Atomwaffen sieht die Nato als politische Waffen. Für den Kreml ist ein konventionell nicht gewinnbarer Krieg mit taktischen Nuklearwaffen weiterhin ein konventioneller Krieg. Den Einsatz solcher Waffen kann Putin gemäß der russischen Militärdoktrin nach unten delegieren. Und wenn es zum Einsatz dieser taktischen Atomwaffen kommt, dann fliehen nicht fünf Millionen Menschen aus der Ukraine, sondern zwanzig. Ich bin überzeugt, dass Putin diese Massenmigration als Waffe einsetzen will.

Welche weitere Ausweitung des Krieges ist zu befürchten?

Eine große Gefahr liegt an der Südostflanke der Nato. Wenn Putin Moldau angreift, könnte Rumänien als Schutzmacht sagen, wir helfen. Dann wäre die Nato involviert. Das ist eine große Gefahr. Des Weiteren hat Belarus seinen Status als nuklearwaffenfreier Staat aufgehoben. Damit könnten sie Nuklearwaffen stationieren, und wir hätten direkt an der Grenze zum Baltikum eine nukleare Erpressung mit Atomwaffen. Dazu kommt der Korridor nach Kaliningrad.

Welche Wege stehen uns offen? Können wir durch den Stopp russischer Gaslieferungen Druck auf Putin ausüben, oder schwächen wir uns nur selbst?

Wir müssen ein Signal setzen und – gegebenenfalls zeitlich begrenzt für vier bis fünf Monate – die Energielieferungen aus Russland stoppen. Es ist nicht mehr hinzunehmen, dass wir mit Hunderten von Millionen Euro täglich Putins Krieg finanzieren. Wir müssen den Druck auf Putin erhöhen. Zumal wir sowieso einen Notfallplan brauchen, für den Fall, dass Putin den Gashahn abstellt. Außerdem gibt es eine gute Chance, den Bedarf schon bald aus anderen Quellen zu stillen, etwa mit Energie aus Norwegen, mit Flüssiggas aus Katar, mit Gas aus Algerien.

Lässt sich die Bevölkerung für eine solche drastische Maßnahme gewinnen?

Warum sollte nicht der Bundeskanzler vor die Öffentlichkeit treten und sagen: Angesichts des Krieges müssen wir uns alle für eine gewisse Zeit einschränken. Auch die Politik muss für eine gewisse Zeit ihre ideologischen und werteorientierten Forderungen zurückstellen, um Energiesicherheit zu gewährleisten. Ein kleines persönliches Beispiel: Per Video telefonierte ich mit meinem Bruder, der ist Verteidigungs-Attaché in Tokio. Ich sagte, wie sitzt du denn da? Er saß mit seiner Frau eingehüllt in Decken. Wusstest du das nicht, sagte er. Seit Fukushima sind die Strompreise so teuer, da sitzen wir in der Wohnung normalerweise bei 11 Grad – mit Decken. „Frieren für den Frieden“, ich finde, Deutschland sollte bereit sein, Einschränkungen zu verkraften, wenn es zum Kriegsende beiträgt.

Könnte sich das nicht als kurzsichtig erweisen, wenn unser Land dabei bankrott geht?

Wir gehen nicht bankrott. Die Akademie Leopoldina hat berechnet, dass wir für eine begrenzte Zeit aussteigen können. Klar müssen Hilfsmaßnahmen für bestimmte Wirtschaftszweige und vor allem große Energiesparmaßnahmen stattfinden. Wir sollten auch überlegen, möglicherweise die Kernkraftwerke länger am Netz zu lassen. Aber das hilft nur minimal. Aber wir müssen in Sachen Energieversorgung international schnell eine Allianz der Vernünftigen bilden.

Ein Erdgas-Embargo beendet nicht sofort den Krieg. Wie müssen wir mit Putin umgehen? 

Putin will den Krieg. Wir müssen uns darauf einstellen, dass Putin, solange er etwas zu sagen hat, diese Eskalation vorantreibt. Eine Verständigung mit jemandem, der sein Gesicht vor der Weltöffentlichkeit verloren hat, ist nicht mehr denkbar. Da ist keine Brücke mehr da. Wer setzt sich noch mit ihm an den Tisch, außer Gerhard Schröder? Ich rechne aber damit, dass er sich nicht mehr lange halten wird. Gerade deshalb ist auch die weitere militärische Unterstützung der Ukraine wichtig.

Welche Perspektive hat Russland?

Unser Interesse ist es, erstens, dass Russland nicht zerfällt. Zweitens, dass nach Putin nicht ein Putin im Quadrat oder Putin Kubik kommt. Und drittens, dass Russland nicht das Ressourcenfeld als Juniorpartner von China wird. Das sind unsere drei wesentlichen strategischen Interessen. Wenn wir nicht wollen, dass ein Putin im Quadrat kommt, müssen wir Druck auf die Zivilgesellschaft machen, alles tun, dass diese desinformierte und massiv in der Freiheit eingeschränkte Gesellschaft formiert und informiert wird. Russland und die russische Gesellschaft hätten so große Chancen, aber sie werden klein gehalten. Sie haben eine Lebenserwartung bei Männern von 68 Jahren, als eigentlich hochentwickeltes Land.

Der Krieg hat in Deutschland auch verteidigungspolitisch zu einer „Zeitenwende“ geführt. Der SPD-Kanzler will deutlich mehr Geld für die Armee ausgeben. Doch wie sind wir in diese Lage gekommen?

Eine Ursache ist, dass zwischen 1990 und 2014 die Bundeswehr eher als Steinbruch für den Bundeshaushalt gesehen wurde. Legendär ist, wie damals Verteidigungsminister zu Guttenberg acht Milliarden Euro ohne Rücksprache mit dem eigenen Haus eingespart und dann auch noch die Wehrpflicht gekippt hat. Aber die zweite Ursache ist, dass wir nach der Wiedervereinigung in Deutschland keine strategische Kultur entwickelt haben. Wir sahen uns von Freunden und Partnern umgeben und haben uns deshalb fast ausschließlich um die soziale Dimension von Sicherheit gekümmert, nicht um die innere, nicht um die äußere und auch nicht um die strategische wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Das lief scheinbar von alleine.

Von neun Verteidigungsministern seit 1992 kamen sechs von der Union. Sie tragen also eine Mitschuld an der Lage?

In der Tat gibt es Versäumnisse. Die Union hat sich immer als Partei der Bundeswehr definiert und gedacht, das reicht schon. Sie hat aber die Bundeswehr nicht zum Herzstück der außenpolitischen Sicherheit Deutschlands gemacht. Es fehlt nach wie vor eine nationale Sicherheitsstrategie, eine Aufwertung des Bundessicherheitsrats und generell zusammen mit dem Parlament eine Evaluierung der Einsätze. Dazu kamen Koalitionspartner, die deutlich pazifistischer orientiert waren. Bis vor kurzem hat die SPD noch gegen die nukleare Teilhabe argumentiert und gegen bewaffnete Drohnen. Das ist das Bedeutende an dem Paradigmenwechsel, dass Scholz jetzt mit den alten Haltungen der SPD gebrochen hat. Ob er sich durchsetzt, ist noch offen.

Doch was muss jetzt passieren? Die Schwäche der Bundeswehr liegt offenbar nicht nur am fehlenden Geld, sondern an Ineffizienz, überflüssigen Standorten, vielleicht unnötigen Prestigeobjekten?

Es fehlt eine nationale Sicherheitsstrategie, in der Interessen formuliert, Prioritäten gesetzt und daran Preisschilder geknüpft werden. Zudem ist die Bundeswehr in einer strukturellen Krise. Es gibt eine Verschachtelung der Zuständigkeiten, eine überbordende Bürokratie, und es fehlt eine vernünftige Führungsstruktur. Verantwortung wird nicht richtig organisiert. Wenn ich als Gruppenführer für mein Material verantwortlich wäre, ginge ich anders damit um. Ich sage es mal ganz praktisch aus meiner Erfahrung. Als Kommandeur eines Raketenlehrbataillons hatte ich damals 32 Raketenwerfer, davon waren immer mindestens 27 einsatzbereit. Heute hat die ganze Bundeswehr 24 Raketenwerfer und davon sind vielleicht 12 einsatzbereit. Aber wenn ich jetzt der verantwortliche Vorgesetzte wäre, wäre ich gar nicht wirklich verantwortlich. Zuständig ist heute eine privatisierte Heeres-Instandsetzungs-Firma, der ich nichts befehlen oder anordnen kann. Ich kann nicht sagen, ich brauche das schnell, denn da gibt es Arbeitszeiten, da gibt es Verträge, die müssen dann gegebenenfalls neu verhandelt werden. So funktioniert es nicht.

Ist zu erwarten, dass Verteidigungsministerin Lambrecht das jetzt ändert?

Ich glaube, dass Frau Lambrecht mit dem Gegebenen, was sie hat, versucht, das Bestmögliche zu machen. Wenn sie jetzt noch mit einer Bundeswehrreform beginnen würde, dann würde das offensichtlich noch Dringendere nicht geschehen können. Sie muss zunächst das ganz Notwendige angehen, dazu gehört die Anschaffung eines schweren Transporthubschraubers, überhaupt das Auffüllen der Munitionsbestände und die Anschaffung bewaffneter Drohnen. Das allein sind zusammen schon rund 50 Milliarden Euro. Und da sollte sie auch nicht auf Druck von der Rüstungsindustrie reagieren.

Warum hat die Bundeswehr denn seit Jahren diese so genannten Beschaffungsprobleme. Platt gesagt, was ist so schwer daran, Sachen einzukaufen?

Die europäische Ausschreibung ist ein großes Problem, wir müssten – wie Frankreich – die Ausstattung der Bundeswehr als sicherheitsrelevant einstufen und so schneller werden. Dann fehlt es bei der Bundeswehr schlicht an Vertragsanwälten, im verantwortlichen Bundesamt BAAINBw in Koblenz allein fehlen um die 1000. Schließlich ist es die angesprochene falsche Verantwortungsstruktur. Ein Inspekteur einer Teilstreitkraft hat keine Materialverantwortung mehr. Da muss also ein General viel Schreibarbeit leisten, um mit den vielen Behörden innerhalb der Bundeswehr zu verhandeln. So wird das nichts.

Wie wird denn die vom Bundeskanzler angekündigte Zeitenwende, jetzt politisch umgesetzt. Für die Schaffung des 100-Milliarden-Sondervermögens braucht Scholz die Union. Machen Sie mit?

Ich habe Scholz zunächst mal so verstanden, dass er ab diesem Jahr endlich das Zwei-Prozent-Ziel im Haushalt einhalten will und zusätzlich wegen des dramatischen Zustands der Bundeswehr ein 100 Milliarden Sondervermögen einplant. Nun liegt der Haushaltsplan vor und es sieht ganz anders aus, offenbar weil seine Ampel-Regierungsfraktionen nicht in seinem Sinne mitgemacht haben. Der Verteidigungshaushalt wurde auf 51 Milliarden Euro festgeschrieben, das entspricht aber nicht den versprochenen zwei Prozent, das wären etwa 70 bis 80 Milliarden Euro. Es soll aber dieses Sondervermögen im Grundgesetz festgeschrieben werden. um dann auf vier oder fünf Jahre gestreckt scheibchenweise das Zwei-Prozent-Ziel zu ermöglichen. Das dient dann nur einer kurzfristigen Beruhigung der Alliierten. Das ist aus jetziger Sicht für die Union nicht zustimmungsfähig, weil es keine nachhaltige und sinnvolle Lösung ist.

Kann die Union sich verweigern, wenn es um die nationale Sicherheit geht?

Wir wollen Scholz ja unterstützen, wenn er mit uns redet. Wir wollen beteiligt werden. Die 100-Milliarden, die an der Schuldenbremse vorbei ausgegeben werden sollen, müssen strikt zweckgebunden für die Bundeswehr sein. Neue Windkraftanlagen auf einem Truppenübungsplatz gehören nicht dazu. Wir werden nicht die Mehrheitsbeschaffer sein, wenn die Ampel sich selber uneinig ist. Dann muss Scholz aus der Regierung aussteigen und mit uns koalieren.

Die Fragen stellte Volker Resing.

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