Russland und Ukraine - „Zum ersten Mal in meinem Leben eine tiefe Angst vor dem Krieg“

Der Liedermacher und Schriftsteller Wolf Biermann hat zusammen mit über 350 Intellektuellen einen Anti-Putin-Appell gestartet. Die „zynische Geschichtslüge“ Putins könne sich in eine Wahrheit verwandeln, wenn seine Aggression gegen die Ukraine in einen dritten Weltkrieg mündet, warnt Biermann im Interview mit Cicero. Entschiedener Widerstand sei nötig.

„Putin spielt Schach, der Westen Mensch-ärgere-dich-nicht“: Wolf Biermann / dpa
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Herr Biermann, Sie haben zusammen mit Ihrer Frau Pamela einen Aufruf gestartet. Mit inzwischen über 350 Persönlichkeiten appellieren Sie, der russischen „Aggression entschieden entgegenzutreten“. Was hat Sie zu dieser Aktion gebracht?
 
Wir haben diesen Anti-Putin-Appell zusammen mit dem Schauspieler Burghart Klaußner und dem Kulturmanager Ulrich Schreiber auf den Weg gebracht. Mich jedenfalls trieb Angst, die nackte Angst. Sie wissen wohl: Ich bin einer, der den Weltkrieg knapp überlebt hat. Anders gesagt: Biermann ist ein gebranntes Glückskind. In den Hamburger Bombennächten 1943 hatte ich, was Wunder, keine Angst vorm Krieg, denn wir waren ja schon mittendrin. Der riesige Feuerofen hatte den Code-Namen „Gomorrha“. Kein Kind kann im Inferno einer brennenden Stadt die Tragödie erfassen. Ich war sechs Jahre alt. Diese Hölle hat sich scharf eingebrannt in mein Gedächtnis. Ich krallte mich stumm an die Hand meiner Mutter Emma. Jetzt aber erlebe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine tiefe Angst vor dem Krieg. Treffender gesagt: Ich habe nicht die Ängste, sondern die Angst hat nun leider mich.

Zu welchen Schlussfolgerungen führt die Angst? Plädieren Sie für Waffenlieferungen an die Ukraine?
 
Mir muss keiner verklaren, dass Frieden schöner ist als Krieg. Dennoch passt zu mir nicht der Spruch: Gebranntes Kind scheut das Feuer. Für mich gilt: Gebranntes Kind sucht das Feuer. Ich hatte nie lähmende Angst vor dem Streit der Welt. Ich war immer dafür, dass man sich wehren muss, mit Worten, mit Wahrheiten, mit Geld, aber auch mit Waffen. Was aber ...  und wann, gegen wen  ... und wie ...  das ist verwirrend. Man muss immer wieder neu einschätzen und geduldig abwägen.
 
Wie sehen Sie es konkret?
 
Es ist ein echtes Dilemma! Um die Not zu wenden, wäre es notwendig, die Ukraine mit modernsten Waffen zu unterstützen.  Aber genau das wäre wahrscheinlich ein fataler Fehler. Es wäre der willkommene Anlass, den der neue Zar Putin im Propagandakrieg für seinen Krieg braucht. Russlands Überlegenheit mit Panzern und Kanonen, und zudem mit atomaren Raketen und Bomben, ist so erdrückend, dass es irrelevant ist, ob die Ukraine jetzt schnell noch mit paar Stahlhelmen und Panzerabwehrraketen gestärkt würde. Putin könnte alle Länder des ehemaligen Ostblocks mit seiner konventionellen Kriegsmaschinerie platt machen und per Knopfdruck sogar auslöschen mit seinen Atomraketen.
 
Sie verlangen eine entschiedene Haltung gegen Putin. Ist Ihnen das Agieren von Bundeskanzler Olaf Scholz entschieden genug?
 
Ich habe keine Hintergrundinformationen. Flott verurteilen ist leichter als Beurteilen. Das Schachspiel ist ja ein Gleichnis für Machtpolitik: Man opfert einen Springer, um eine Dame zu schlagen. Und man kann sich dabei verkalkulieren, weil der Gegner ja auch rechnen kann. In der aktuellen Lage aber scheint mir das uralte Gleichnis vom Schachspiel fast irreführend.  Wenn ich die weltpolitischen Strategien der Demokratien gegenüber den Diktaturen beobachte, denke ich oft: Macht-Canaillen wie Putin und Xi Jinping spielen Schach, aber der Westen würfelt und spielt Mensch-ärgere-dich-nicht. Zugleich ist die Freiheit in den Demokratien das überlegene Lebenselixier. Aber es funktioniert mühsamer als die Herrschaft in totalitären Diktaturen. Denken Sie nur an die brachialere Bekämpfung der Corona-Pandemie in China.
 
Der Politologe Herfried Münkler erinnert daran, dass die Akzeptanz von Einflusszonen im Kalten Krieg einen relativen Frieden der Blöcke garantiert habe. Muss man Russland Einflusszonen um des Friedens willen zugestehen?
 
Das atomare Gleichgewicht hat auf fast altmodische Weise im Kalten Krieg den Weltfrieden bewahrt. Doch die modern-hybriden Kriege, organisierte und improvisierte Terrorakte und global-digitale Cyberattacken, sind die neue Riesengefahr.  Sie können leicht in einen Atomkrieg überkippen. Wenn so ein banaler Diktator wie Putin panisch um seine Macht bangt,  wenn er Angst davor hat, dass sein Volk ihn vom Hof jagt, dann ist alles möglich. Es gibt, vermute ich, ein Schlüsselerlebnis in Putins Leben. Es war 1989 in Dresden, als er dort, nur mit einer Pistole bewaffnet, sich einer wütenden Menge Sachsen gegenüber sah, die seine KGB-Villa stürmen wollten. Nie will Putin wieder Leute vor sich haben, die ihn fortjagen oder lynchen wollen. Seine Todesängste vor dem eigenen Volk, vor dem lebenden Drachentöter Alexei Nawalny und vor den  ermordeten Oppositionellen wie Anna Politkowskaja und Boris Nemzow können wir ihm mit keinen Zugeständnissen austreiben.
 
Während des gesamten Kalten Krieges wurde Gas aus der Sowjetunion bezogen. Letztlich hat der Frieden gehalten. Es war doch eine Art Appeasement, die den Frieden bewahrt hat?
 
Ich verstehe den Wunsch, durch wirtschaftliche Beziehungen die Raubtiere zu besänftigen. In echten Konflikten gibt es nicht nur richtig und falsch. Es ist immer die Suche nach dem weniger falschen Weg. Man muss mit Putin verhandeln, und ich bin froh, dass nicht ich das tun muss. Der Erbe des Mao Tsetung, Xi Jinping, hat gerade vor Absolventen der Militärakademie in Peking eine Rede gehalten. Er sagte: Ihr Genossen, die ihr lernt, wie man Krieg führt, ihr seid die nächste Generation, die dazu da ist, für das Vaterland zu sterben. Er nennt das magische Datum 2048 für die Rückeroberung Taiwans und prophezeit: Ihr werdet sterben müssen, seid euch dessen bewusst. Die patriotischen Todeskandidaten waren begeistert. Die großen Verbrechen begehen die Menschen für scheinbar edle Ziele, die Wiederherstellung der Sowjetunion oder die vermeintliche Einheit des chinesischen Volkes.
 
Sie unterstellen Putin völlig irrationale Ziele und Beweggründe?
 
Putin hat eine so abscheuliche Geschichtslüge in die Welt gebracht, die so gewaltig ist, dass mir der Atem stockt. Er verkündet seit Jahren in diversen Variationen, dass der Zusammenbruch des totalitären Regimes in der Sowjetunion, dass also der Zusammenbruch dieser Diktatur das größte und tragischste Unglück der Menschheit im 20. Jahrhundert gewesen sei. Für ihn ist also der Untergang der UdSSR ein größeres Unglück als der 1. Weltkrieg, ein größeres Unglück als der 2. Weltkrieg und ein größeres Unglück als der Holocaust. Ich habe nun die Sorge, dass diese zynische Geschichtslüge sich in eine Wahrheit verwandeln könnte.
 
Inwiefern?
 
Putin könnte Recht behalten: Wenn nämlich die UdSSR nicht zusammengebrochen wäre, wenn Gorbatschow nicht Glasnost und Perestroika gewagt hätte, wenn dieser sowjetische Demokrat nicht vom versoffenen Boris Jelzin gestürzt worden wäre, wenn dieser korrupte Apparatschik in der Krise nicht den kleinen KGB-Offizier aus Dresden selbstherrlich als seinen Nachfolger eingesetzt hätte, dann wäre der Geheimdienstoffizier aus Leningrad nicht in diese Machtposition gekommen und könnte jetzt nicht Krieg spielen mit der Menschheit. Denn wenn ihm das gelingt und er uns alle mit in den Abgrund reißt, dann verwandelt er seine Geschichtslüge in eine Wahrheit, denn der dritte Weltkrieg wird ein Atomkrieg sein, schlimmer als alle Katastrophen des vorigen Jahrhunderts.
 
Ihr Vater ist als Widerstandskämpfer ermordet worden, Sie haben gelitten wegen Ihrer Widerständigkeit in einem diktatorischen System, was also müssen wir tun?
 
Wir Deutschen leben nur in einer Demokratie, weil die Armeen der Anti-Hitler-Koalition den Krieg geführt haben und unter großen Opfern gewannen. Diese Alliierten-Soldaten kämpften und starben auch für mich. Deshalb kann ich leider kein Pazifist sein. Und dass Nazi-Deutschland das Verbrechen beging, Krieg in der Ukraine zu führen, ist ein gutes Argument gegen Waffenlieferungen. Aber auch ein sehr gutes Argument für die Lieferungen von Waffen, mit denen sich die Ukrainer heute gegen Putins Russland verteidigen können.   
 
Warum gibt es mehr Verständnis für Russland in der ehemaligen DDR als im Westen und bei Ihnen?
 
Solche Deutschen haben kein Verständnis für Russland, sondern für dessen Diktator Putin und seine Mafia. Ich habe ein Gedicht geschrieben, „Angela Merkel ins Poesiealbum“ . Dieses Sonett hört auf  mit dem kaltherzlichen Couplet: „Der Wiedervereinigungsrausch ist passé / gelernten Sklaven tut Freiheit halt weh“. Wir müssen uns immer wieder entscheiden, so wie es in der Bibel steht: „Eure Rede sei: Ja! Ja! Nein! Nein!“ Und ich blutjunger Greis sage 85-mal „Nein!“ zu dieser Putin-Diktatur. Ich will auch deren Zusammenbruch noch erleben.

Die Fragen stellte Volker Resing.

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