Russlands Ambitionen in Zentralasien - Zurück in die Zukunft

Noch bis vor kurzem hatte Moskau keine kohärente Strategie für Zentralasien – immerhin eine der dynamischsten Regionen der Welt. Das ändert sich gerade. Der künftige Einfluss des Kremls wird auf psychologischer Kriegsführung und Anreizen beruhen, nicht auf direkter Intervention.

Ein Soldat der usbekischen Ehrengarde auf dem Flughafen Taschkent / dpa
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Ekaterina Zolotova ist Analystin für Russland und Zentralasien beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Während Russland mit dem Auf- und Abzug seiner militärischen Streitkräfte entlang der Westgrenze zur Ukraine Aufmerksamkeit erregte, machte es in einer anderen Pufferregion einen anderen diplomatischen Vorstoß: Zentralasien. Am 30. April trafen sich die Staats- und Regierungschefs der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU) – Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Russland sowie Beobachterstaaten – in Kasan, Russland.

Wenige Tage vor dem Treffen reiste der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu nach Tadschikistan und Usbekistan, das ein Beobachtermitglied der EAEU ist. Natürlich ist die russische Zusammenarbeit mit den Ländern Zentralasiens nichts Neues. Aber die Treffen waren sinnbildlich für einen Wandel in der russischen Strategie, weg vom Ad-hoc-Ansatz der vergangenen Jahrzehnte und hin zu etwas Kohärenterem. Angesichts des zunehmenden Wettbewerbs um regionalen Einfluss und des schwindenden politischen und wirtschaftlichen Kapitals, um seinen Willen durchzusetzen, versucht Moskau, die EAEU aufzubauen und mit subtileren Mitteln zu führen.

Zentralasien bleibt eine kritische Region für Russland

Die Sowjetunion gab Russland durch die Ausdehnung seiner Grenzen immense Sicherheit. Diese Sicherheit ging verloren, als die UdSSR zusammenbrach. Nachdem sich Russland stabilisiert hatte, widmete es seiner westlichen Grenze mehr Aufmerksamkeit, da dort die unmittelbarere Bedrohung durch das Vordringen der Nato und der EU lag. Die zentralasiatischen Staaten hingegen blieben enger mit Russland verbunden. 

Darüber hinaus waren die zentralasiatischen Staaten untereinander in territoriale Streitigkeiten verwickelt, was die Chancen auf einen Zusammenschluss zu einer Union, die Russland widerstehen könnte, verringerte.

Aber Zentralasien ist immer noch eine kritische Region für Moskau. Sie bildet einen Puffer, der Russland von China und dem Rest Asiens trennt. Besonders wichtig ist Kasachstan, das keine natürlichen Grenzen zu Russland hat, was bedeutet, dass Instabilität in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens leicht auf Russland selbst übergreifen kann. 

Für Moskau ist es auch wichtig, sein bedeutendes industrielles Potenzial zu schützen, das sich entlang der kasachischen Grenze konzentriert, sowie die Verkehrsverbindungen, welche den zentralen Teil Russlands mit Sibirien und dem Fernen Osten verbinden und die entweder in der Nähe oder durch Kasachstan verlaufen.

Eine der dynamischsten Regionen der Welt

Schließlich hat Zentralasien das Potenzial, eine der sich am aktivsten entwickelnden Regionen der Welt für die Produktion und den Transport von Öl und Kohle zu werden, was die Aufmerksamkeit externer Akteure wie der Vereinigten Staaten, des Iran, der Türkei und Chinas auf sich zieht.

Doch bis in die 2020er Jahre hatte Russland keine kohärente Strategie für Zentralasien. Stattdessen wirkte sein Vorgehen oft chaotisch und unkoordiniert. Im Allgemeinen hat es versucht, seinen Einfluss durch die Verteilung von Krediten und die Verstärkung seiner militärischen Präsenz zu erhalten.

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zerfall der Sowjetunion lenkte Russland Wirtschaftshilfe und meist unrentable Investitionen in die Region – im Wert von etwa 20 Milliarden Dollar, von denen etwa die Hälfte (47 Prozent) in den Energiesektor, weitere 22 Prozent in die Nichteisenmetallurgie und 15 Prozent in die Telekommunikation flossen. Russland fungierte auch weiterhin als Sicherheitsgarant für Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan innerhalb der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit und baute russische Militärbasen und -einrichtungen in der Region auf.

Angst um den Verlust der Unabhängigkeit 

Diese Politik stieß oft auf Kritik der zentralasiatischen Länder, die gerade ihre Unabhängigkeit erlangt hatten und diese nicht im Tausch gegen russische Kredite verscherbeln wollten. Sie war auch bei vielen Russen unpopulär, die nicht nur mit der großen Zahl zentralasiatischer Einwanderer unzufrieden waren, sondern auch damit, dass die Regierung den Republiken Unterstützung zukommen ließ, anstatt die eigene schleppende Wirtschaft Russlands zu unterstützen.

Fast 30 Jahre später erkennt der Kreml die Notwendigkeit einer durchdachteren und ausgewogeneren Politik. Die Länder Zentralasiens sind nicht länger verlorene Teile der Sowjetunion, sondern völlig unabhängige Staaten mit eigenen Außenbeziehungen und keinem Interesse daran, ihre Souveränität aufzugeben.

Wachsende Konkurrenz für Russland

Es gibt mehrere Gründe für Russlands Sinneswandel. Erstens ist da die wachsende Konkurrenz: Moskau ist nicht mehr der einzige wichtige Handelspartner und Gläubiger Zentralasiens. Zweitens gelangt Russland an die Grenzen seiner Strategie gegenüber dem Westen oder hat diese schon erreicht und sieht sich an dieser Front einem erhöhten politischen Druck ausgesetzt. Im vergangenen Jahr hat Russland seine Beziehungen zu Weißrussland deutlich ausgebaut, und die enormen militärischen Übungen auf und um die Krim im vergangenen Monat haben gezeigt, dass Kiew und Moskau ihre eigenen Grenzen kennen und wissen, was sie voneinander erwarten können.

Im Osten muss Russland jedoch noch seine strategische Tiefe ausbauen und die Handelsmärkte weiter öffnen. 

Drittens hat der Kreml eingesehen, dass seine bisherige Politik gegenüber Zentralasien nicht sehr effektiv war und die territorialen Streitigkeiten in der Region, die heute aufzuflammen drohen, eigentlich ignoriert. Unter seiner alten Politik hatte Russland keinen Mechanismus, um potenzielle militärische Konflikte – wie die Zusammenstöße zwischen Tadschikistan und Kirgisistan in der vergangenen Woche – zu lösen, da eine russische militärische Beteiligung unmöglich war, weil Moskau es vorzieht, zu allen Parteien gleich gute Beziehungen zu unterhalten. Außerdem würde die Entsendung von russischen Friedenstruppen in der Region wahrscheinlich eine negative Reaktion des Westens hervorrufen.

Die Gefahren durch die Pandemie 

Auch andere Faktoren dürften eine Rolle gespielt haben. So warf die Pandemie ein Schlaglicht auf alle möglichen bestehenden und potenziellen Gefahren: wirtschaftliche Ungleichheit, massive versteckte Arbeitslosigkeit, verringerte Rücküberweisungen aufgrund sozialer Distanzierungsmaßnahmen, das Risiko einer Wirtschaftskrise und die Ineffektivität politischer und administrativer Systeme. Soziale und wirtschaftliche Unruhen könnten ein Segen für die Rekrutierungsbemühungen lokaler terroristischer Gruppen sein.

Außerdem kehrte die Biden-Administration zu den so genannten C5+1 (die fünf Republiken Zentralasiens plus die USA) zurück und begann, die Möglichkeit der Einrichtung von Militärstützpunkten nach dem Abzug der US- und Nato-Truppen aus Afghanistan zu diskutieren.

Der türkische Präsident schlug unterdessen vor, den Kooperationsrat der turksprachigen Staaten formell aufzuwerten. Schließlich bedrohten die Volatilität der Ölpreise und das bescheidene Wachstum der russischen Wirtschaft Russlands Investitionsansatz in der Region.

Psychologische Kriegsführung statt Intervention

Die Details des neuen russischen Ansatzes müssen noch ausgearbeitet werden, aber er wird über die Eurasische Wirtschaftsunion laufen, die nicht nur ein Wirtschaftsblock, sondern auch ein politisches Forum ist. Russland kann nicht mehr darauf hoffen, die Region zu dominieren – zumindest nicht zu einem Preis, den es zu zahlen bereit ist. Der künftige Einfluss des Kremls wird stattdessen auf psychologischer Kriegsführung und Anreizen beruhen, nicht auf direkter Intervention.

Zu diesem Zweck ist es für Russland wichtig zu zeigen, dass die Zusammenarbeit mit ihm oder mit Projekten unter russischer Führung ein Prozess ist, der für beide Seiten vorteilhaft ist, und dass seine Partner nicht ihre Unabhängigkeit verlieren, sondern eher an Einfluss gewinnen werden. Der jüngste tadschikisch-kirgisische Konflikt ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass Russland die EAEU als Plattform für die Lösung eines Konflikts nutzt, anstatt eigene Friedenstruppen zu entsenden oder mit beiden Seiten separat zu verhandeln.

Kooperationen statt Aufbau russischer Streitkräfte 

Auch der militärische Aspekt ändert sich. Moskau strebt nicht mehr danach, russische Streitkräfte in Zentralasien aufzubauen, sondern zieht es vor, eine Plattform für Lastenteilung und gemeinsame Zusammenarbeit zu schaffen, in der sich jedes beteiligte Land als wichtiges und vollwertiges Mitglied fühlt.

So initiierte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu bei seinem letzten Besuch in Usbekistan die Bildung einer Anti-Taliban-Front. Unterstützt wird diese durch die Schaffung eines gemeinsamen Luftabwehrsystems mit Tadschikistan und die neue strategische Partnerschaft mit Usbekistan. Letztere leitete eine Initiative Washingtons ein, das hoffte, Usbekistan würde nach dem Abzug der westlichen Truppen als Reservestützpunkt für die Bekämpfung von Terroristen in Afghanistan dienen.

Wenn die neue Strategie funktioniert, kann Russland seine Bedeutung in der Region zu minimalen Kosten steigern. Noch wichtiger ist, dass es dies tun wird, ohne eine Gegenreaktion von Drittländern auszulösen. China wird sich wahrscheinlich nicht widersetzen, da Peking ein stabiles Zentralasien braucht, um seine „Belt and Road“-Strategie umzusetzen. Wenn die Länder Zentralasiens einen einheitlichen Wirtschaftsraum bilden, wird der Warentransport zudem auf weniger bürokratische Hindernisse stoßen.

Iranische Ambitionen in der Region

Auch die iranischen Ambitionen in der Region können von Russland sanft kontrolliert werden, insbesondere wenn es Russland gelingt, den Iran in die EAEU zu holen, was Teheran helfen könnte, die US-Sanktionen zu umgehen. Die wirtschaftlichen Ambitionen der Türkei in der Region werden in den Hintergrund gedrängt, und eine starke russische Präsenz wird die russische Kultur stärken und den Pan-Turkismus daran hindern, Wurzeln zu schlagen. Und schließlich: Wenn die EAEU eine Verhandlungsplattform darstellt, in der die Länder nicht von Russland dominiert werden, dann werden die westlichen Länder auch kaum einen Grund finden, das Projekt mit Sanktionen zu bedrohen.

Eine solche Strategie bedeutet jedoch, dass sich Russland eher mit mehr Einfluss als mit totaler Kontrolle zufrieden geben und eine Reihe von Zugeständnissen machen muss. Moskau hat bereits die Folgen der Einführung des Konsenses in der EAEU erlebt, als Armenien gegen den Willen Russlands die Teilnahme Aserbaidschans an einer Sitzung des zwischenstaatlichen Rates des Blocks ablehnte.

Der Kreml wird sich daran gewöhnen müssen, sich langsamer zu bewegen und nicht immer seinen Willen zu bekommen. Die einzige Frage ist, ob Moskau die Geduld und die Zeit haben wird, seine neue Strategie umzusetzen. Und, was noch wichtiger ist, ob die zentralasiatischen Länder den friedlichen Absichten Moskaus vertrauen werden.

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