Rückzug aus Afghanistan - Warum Amerika Kriege verliert

Nach 20 Jahren erfolglosen Kampfs ziehen sich die Vereinigten Staaten aus Afghanistan zurück. Es ist nicht der erste Krieg seit 1945, den die USA trotz weit überlegener militärischer Fähigkeiten verloren haben. Schuld auch an dieser Niederlage ist eine völlig überkommene Strategie.

Wrack eines abgeschossenen US-Militärflugzeugs in Afghanistan / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Der Rückzug der USA aus Afghanistan geht seinem unvermeidlichen Ende entgegen. Die Taliban, jene radikalen Islamisten, die von den USA bekämpft wurden, übernehmen die Kontrolle über das Land; eine Stadt nach der anderen fällt ihnen in die Hände. Anders ausgedrückt: Die Vereinigten Staaten haben den Krieg, den sie in den vergangenen 20 Jahren geführt haben, verloren

Manche wollen zwar weiterkämpfen, aber ich bezweifle, dass weitere 20 Jahre den Sieg bringen würden – denn die Definition von „Erfolg“ ist in diesem Fall vage und sehr ehrgeizig. Das Ziel in Afghanistan bestand darin, eine von alten Traditionen geprägte und komplexe Gesellschaft in ein Gemeinwesen nach amerikanischem Vorbild zu verwandeln. Aber ein Land zu besiegen, das sich im Wesentlichen aus rivalisierenden Kriegsparteien zusammensetzt, und dort auch noch Frieden sowie eine neue politische Kultur durchzusetzen, lag außerhalb der Möglichkeiten Washingtons.

Erklärungen sind nötig

Dies ist nicht der erste Krieg, den die USA seit 1945 verloren haben, und angesichts der überwältigenden militärischen Macht der Vereinigten Staaten sind Erklärungen dringend nötig. Dafür müssen wir mit dem Zweiten Weltkrieg beginnen, in dem die Vereinigten Staaten mit einem von Japan und Deutschland ausgelösten Konflikt konfrontiert waren. Die Vereinigten Staaten reagierten darauf, indem sie den Krieg so definierten, dass sie das gegnerische Militär ausschalten und die feindlichen Staaten durch Zerstörung ihrer Industrieanlagen und Städte besiegen wollten. 

Der Sieg erforderte die Niederlage des Feindes und eine soziale und geistige Umgestaltung der unterlegenen Gesellschaftssysteme. Der Zweite Weltkrieg hielt für die Vereinigten Staaten eine Reihe von Lehren bereit. Die erste war, dass die Entscheidung über das Timing von den Feinden der Vereinigten Staaten getroffen wurde. Mit dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor und der Kriegserklärung Hitlers war Washington eine selbstbestimmte Entscheidung über den Eintritt in einen weltumspannenden Militärkonflikt aus der Hand genommen worden. Dadurch war der strategische Vorteil militärischer Eigeninitiative perdu, die Amerikaner waren plötzlich nicht mehr nur am Rande, sondern auf einmal voll involviert. 

Zweitens lernte Washington, dass man im Kampf gegen einen Feind überwältigende Kräfte einsetzen muss und dass es unerlässlich ist, nicht nur das Militär, sondern auch die Moral einer gesamten Nation zu erschüttern. Die USA würden dies tun, indem sie mit überwältigender Kraft auf das Militär und die Gesellschaft des Feindes einwirkten.

Militärisch-industrieller Komplex

Der Sieg veränderte die Vereinigten Staaten. Ihre Macht war von da an gewaltig und erstreckte sich über einen Großteil der Welt. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten die USA dies nicht gekannt; nunmehr waren sie davon besessen. Sie schufen einen riesigen militärisch-industriellen Komplex und betrachteten ihn als das entscheidende Element der nationalen Sicherheit. 

Mit dem Machtzuwachs wurde auch die Reibung größer als je zuvor. Aber Amerika hatte noch eine weitere Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen. Es reichte demnach nicht aus, das Militär des Gegners zu besiegen. Wie im Falle Deutschlands und Japans konnte ein Krieg offensichtlich nur durch eine moralische und kulturelle Kapitulation der gegnerischen Nation und durch deren Übergang zur liberalen Demokratie beendet werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Hauptgegner der USA die Sowjetunion. Die Sowjetunion war aus amerikanischer Perspektive ein Albtraum: Die sowjetische Macht war erschreckend, und die Vereinigten Staaten standen vor einer globalen moralisch-ideologischen Herausforderung. Realpolitik und der Kampf um geistige Vorherrschaft gingen Hand in Hand; die USA und die Sowjetunion kämpften darum, andere Nationen zu Parteigängern entweder der liberalen Demokratie oder des Marxismus-Leninismus zu machen. 

Im Laufe der Zeit erwuchs daraus auf beiden Seiten massiver Zynismus, aber im Kern vermischten sich die „moralischen“ und die geopolitischen Strategien, und der eigentliche Kampf in Form verdeckter und offener Kriege ging um die Herzen und Köpfe der jeweiligen Bevölkerungen.

Von Korea bis Vietnam

Korea war der erste Krieg des moralischen Absolutismus, der jedoch von einem sehr konventionellen Waffengang geprägt war. In Vietnam wurde eine neue Strategie erprobt. Vietnam war von den Franzosen besetzt worden, die in ihrem Krieg gegen die Kommunisten eine Niederlage erlitten hatten. Er endete mit der Teilung des Landes zwischen Kommunisten und Antikommunisten – wobei letztere sich als liberale Demokraten ausgaben, um die Herzen der Amerikaner zu gewinnen, aber in Wirklichkeit ehrgeizige Männer waren, die sich dem Machterhalt verschrieben hatten und den Antikommunismus nutzten, um Hilfe durch das US-Militär zu bekommen.

Der Krieg dort wurde in Form von endlosen Bodenkämpfen und einer Luftkampagne ausgefochten, die die Moral der Nordvietnamesen brechen sollte – so, wie die USA die Deutschen und die Japaner gebrochen hatten. Aber es ging um noch mehr: Ziel war es, eine Regierung zu schaffen, die den Kommunismus ablehnte und sich der liberalen Demokratie verschrieb. Doch das Regime, das die USA aus der Taufe zu heben und zu schützen versuchten, hatte kein Interesse an einer liberalen Demokratie.

Das Problem in Vietnam war die Unvereinbarkeit von strategischen und moralischen Aspekten. Die Strategie forderte die Niederlage der feindlichen Armee und gleichzeitig eine Umgestaltung der vietnamesischen Gesellschaft (was mit der Vorstellung einherging, daraus würde automatisch eine Opposition der Bevölkerung gegenüber der Ausbreitung des Kommunismus erwachsen). Was der amerikanischen Strategie aber fehlte, war eine Antwort auf die Frage, ob Vietnam der richtige Ort ist, um den Weltkommunismus zu bekämpfen, und ob Amerika die Kraft hatte, um einen geistigen Wandel zu erzwingen. Der Kommunismus breitete sich auch anderswo aus – warum also diesen Kampf ausgerechnet in Vietnam austragen?

Zermürbung im eigenen Land

Die Vereinigten Staaten hatten einen militärischen Grund, die Japaner im Pazifik zu bekämpfen. Aber in Vietnam schwankten die militärischen Gründe, die politischen Gründe und die moralisch-ideologischen Grundsätze permanent. Die Strategie der USA bestand darin, das nordvietnamesische Militär zu zermürben, die Bevölkerung kriegsmüde zu machen und den Willen der USA durchzusetzen. Stattdessen erzeugten die US-Streitkräfte nach sieben Jahren des Konflikts eine Zermürbung und eine Kriegsmüdigkeit im eigenen Land. 

Die USA haben Vietnam verloren, aber aus ihrer Sicht drehte sich die Welt weiter. Trotz all des Todes und der Zerstörung hatte der Krieg nicht viel verändert. Es war der falsche Krieg, der am falschen Ort mit der falschen Strategie und den falschen Zielen geführt worden war. 

Die Lektion des Zweiten Weltkriegs besteht darin, zu bestimmen, wie und wo ein Krieg geführt wird. In Vietnam lief es anders: Indem sie sich jedem kommunistischen Eindringen widersetzten, erlaubten die USA es dem Feind, sowohl den Zeitpunkt wie auch den Ort zu bestimmen, an dem Washington seine vorgefertigte Strategie ausrollen konnte.

Auch der islamistische Extremismus war eine geistige Herausforderung für Amerika – aber zuvor waren die Islamisten nützliche Verbündete gegen Moskau gewesen. Als die Sowjets in Afghanistan einmarschierten, fanden die Widerstandskämpfer Lob und Unterstützung in den USA. Die Amerikaner gingen davon aus, dass die Gegner der Sowjetunion in Afghanistan ihre eigenen Überzeugungen teilten. So diente jeder den Interessen des anderen, und die Sowjets wurden besiegt.

Wendepunkt 11. September

Dann erfolgte mit dem 11. September die Kriegserklärung der Islamisten gegenüber den USA. Das amerikanische Bestreben, den Ausbruch eines Krieges zu bestimmen, war durchbrochen – genauso, wie es in Vietnam durchbrochen worden war. Washington musste reagieren; wie in Vietnam wurden die Vereinigten Staaten fast unbewusst in den Konflikt hineingezogen. Sie mussten Al-Qaida zerstören. Nachdem das US-Militär die Terrororganisation zwar geschwächt, aber nicht eliminiert hatte, sah Amerika sich gezwungen, weiterzumachen. 

Aber um das amerikanische Engagement fortzusetzen, musste auch ein gewisses Maß an offensiver Kriegsführung betrieben werden – bis es notwendig wurde, ein neues Regime zu installieren, das für liberale demokratische Werte einsteht. Mit anderen Worten: Abermals sollte eine altertümliche Gesellschaft umgestaltet werden, jedoch ohne das Ausmaß der Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs. Das Strategische und das Moralische kollidierten. Strategisch gesehen war Afghanistan ein riesiges Land, das nur zu einem Bruchteil unter Kontrolle gebracht werden konnte. Moralisch gesehen hatten die Afghanen ihre eigene politische Ordnung, die die liberale Demokratie ebenso wenig schätzte wie den Marxismus.

Die Kriege gegen die Sowjetunion und gegen die Taliban hatten ein gemeinsames Thema: Die USA fühlten sich von den Werten der Afghanen angegriffen und formulierten eine darauf basierende nationale Strategie. Irgendwann ging die nationale Strategie zu weit, da der moralische Anspruch die strategischen Möglichkeiten überstieg. Weil man sich kein Scheitern eingestehen wollte, wurde der Krieg bis zur Erschöpfung weitergeführt.

Das Problem mit der Moral

Der Zweite Weltkrieg brachte die globale Vorherrschaft der USA. Die geistige Dimension dieses Krieges wurde zu einer notwendigen Dimension künftiger Kriege, die mit dem Aufstieg der USA zur Weltmacht immer häufiger wurden. Die geistige Dimension war leicht zu erkennen: Man musste nicht nur eine klare Strategie für die Kriegsführung entwickeln, sondern auch ein Maß dafür finden, wann ein Krieg scheiterte. Vor allem aber muss man wissen, wann die Strategie nicht funktioniert – und vermeiden, dass man in die Falle tappt, indem man auf Moral zurückgreift, um harte Entscheidungen zu vermeiden.

Die Welt hat sich an das militärische Eingreifen der USA gewöhnt. Sie verurteilt sie und findet Trost in ihren Verurteilungen. Aber Kriege nach jahrelangem Kampf zu verlieren (oder Kriege weiterzuführen, die man aus moralischen Gründen oder zur Verschleierung der Realität verliert), ergibt keinen Sinn. Die USA müssen die Kontrolle darüber haben, wo und wie sie in den Krieg ziehen. Ihre Vorstellung vom Sieg beinhaltet es aber auch, die Geisteshaltung der Besiegten zu verändern. Doch was, wenn die Menschen überhaupt kein Interesse daran haben, ihre Geisteshaltung abzulegen? 

Ein Krieg um Ideen und Wertvorstellungen kann erfolgreich sein, wenn er auf bekanntem Terrain und mit dafür geeigneten Waffen erfolgt. Auf unbekanntem Terrain und mit ungeeigneten Waffen stehen die Chancen für einen Sieg weitaus schlechter.

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