Rechtsstaatlichkeits-Kompromiss - Viktor Orbáns vermeintlicher Gipfel-Erfolg

Der Brüsseler Kompromiss ist in Sachen Rechtsstaatlichkeit ein Meisterstück vernebelnder Bürokratenprosa. Bedeutet „qualifizierte Mehrheit“ in Wahrheit „Einstimmigkeit“? Und gab es Absprachen zwischen Merkel und Orbán?

Orbán hat alles gegeben, damit das Artikel-7-Verfahren eingestellt wird / dpa
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Boris Kálnoky ist freier Journalist und lebt in Budapest. Er entstammt einer ungarisch-siebenbürgischen Familie

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Regierungsfreundliche Medien in Ungarn (und Polen) feiern das Ergebnis des EU-Gipfels als vollen Erfolg für den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. „Drei Milliarden Euro mehr als ursprünglich vorgeschlagen“ sowie ein Versprechen von Bundeskanzlerin Angela Merkel, das Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn noch während der deutschen Ratspräsidentschaft zu beenden – das seien die greifbaren Zugeständnisse an Ungarn, schrieb das Nachrichtenportal origo.hu.

Zudem werde es keine Kopplung der Gelder an „politische oder ideologische Bedingungen“ geben. Orbán selbst sagte nach dem Gipfel: Wir haben erfolgreich alle Versuche abgewehrt, den Zugang zu EU-Mitteln an Rechtsstaatlichkeits-Kriterien zu binden.

Beendet der Kompromiss das Artikel-7-Verfahren?

Diesem Gesamtbild widerspricht freilich, außer den drei Milliarden Euro, das Bild, das westeuropäische Politiker und Medien vom Gipfel-Ergebnis zeichnen. Da ist nirgends von einem Versprechen der Kanzlerin die Rede, das Artikel-7-Verfahren zu beenden. Zudem kann die Kanzlerin das gar nicht, höchstens kann sie ihren Einfluss geltend machen, um eine Lösung zu erreichen.  

Nach Darstellung einer hochrangigen ungarischen Regierungsquelle Cicero gegenüber ist aber genau das versprochen worden, und es klingt fast so, als gehe es da nicht nur um Angela Merkel. „Wir haben ein Zugeständnis gemacht“, heißt es da – „indem wir den Brüsseler Kompromiss akzeptierten. Im Gegenzug wurde uns versprochen, das Artikel-7-Verfahren zu beenden.“

Zwei Seiten einer Geschichte

Etwas kryptisch äußerte sich dazu der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert: „Ungarn hat sich bereit erklärt, im Artikel-7-Verfahren alle notwendigen Schritte zu tun, damit es im Rat (der Mitgliedstaaten) zu einer Entscheidung kommen kann“, erklärte Seibert. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft habe zugesagt, „im Rahmen ihrer Möglichkeiten diesen Prozess voranzubringen“.

Auf die Frage, was für „notwendige Schritte“ Ungarn denn zu tun gedenke in dieser Sache, antwortete die ungarische Regierungsquelle: „Das haben wir bereits getan – unsere Zustimmung zum Brüsseler Kompromiss.“

Bindung an rechtsstaatliche Kriterien?

Zum Thema Rechtsstaatlichkeit heißt es in dem Dokument, auf das sich die 27 Regierungschefs in Brüssel einigten: „Der Europäische Rat unterstreicht die Bedeutung des Respekts für die Rechtsstaatlichkeit.“ Und dann, unter Punkt 23 im Annex des Beschlusses: „Vor diesem Hintergrund wird ein Konditionalitätsregime eingeführt, um das Budget und Next Generation EU (also das 750-Milliarden-Paket zur wirtschaftlichen Bewältigung der Covid-19-Krise) zu schützen.“

In diesem Kontext wird die Kommission im Fall von Verstößen Maßnahmen vorschlagen zur Annahme durch den Rat mit qualifizierter Mehrheit. „Das klingt wie eine tatsächliche Bindung der Mittel-Vergabe an rechtsstaatliche Kriterien, ohne Veto-Recht. Ungarn und Polen könnten also eventuelle Strafen nicht abblocken.“ 

Noch keine Festlegung der Regeln

Aber im Text steht wenig Konkretes. Was Ungarn und Polen erreicht haben, ist wohl vor allem das: Noch keine echte Festlegung der Regeln. „Den anderen war wichtig, dass es einen Rechtsstaatsmechanismus und eine qualifizierte Mehrheit darin gibt“, sagt eine hochrangige ungarische Regierungsquelle. „Uns war wichtig, dass der Rat der Ministerpräsidenten danach nochmal drauf schauen und etwaige Sanktionen absegnen muss. Einstimmig.“ Das wäre de facto ein Veto-Recht. Aber das steht nicht im Beschluss. Der ungarischen Quelle zufolge geht es um den abschließenden Satz von Absatz 23 des Annex: „Der Rat wird rasch zur Sache zurückkehren.“ 

Ausschließlich „finanzielle Kontrollen“?

Aber was das heißen soll, weiß offenbar niemand so recht. Kehrt der Rat der Regierungschefs bald zur Frage der Rechtsstaatlichkeit zurück, um die Details der Regeln zu klären? Oder soll der Rat, nachdem er bereits eine Sanktionsentscheidung mit qualifizierter Mehrheit getroffen hat, erneut diese Entscheidung besprechen? Oder (das ist eher denkbar) trifft letztlich ein Ministerrat (im Gegensatz zum Rat der Regierungschefs) die Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit, Sanktionen zu verhängen, muss dann aber von den Regierungschefs bestätigt werden? Fragen über Fragen. 

Zum Beispiel diese: Stimmt es, wie Orbán nach dem Gipfel sagte, dass es keine politischen oder ideologischen, sondern ausschließlich „finanzielle Kontrollen“ bei der Verwendung der Gelder geben wird? Das ist unwahrscheinlich. An mehreren Stellen im Gipfel-Beschluss wird auf Artikel 2 des Europavertrages hingewiesen (Grundrechte). Zwar ist der Text des Dokuments so strukturiert, dass es nicht ins Auge sticht. Aber die Verbindung zwischen Geldern und Einhaltung der Grundrechte ist sehr wohl eingebaut. 

Deutschlands Position ist entscheidend 

Auf dem Gipfel ging es bei den Details zum Rechtsstaatlichkeitsmechanismus auch darum, was „qualifizierte Mehrheit“ bedeuten soll. Eine Zweidrittelmehrheit, um Sanktionen zu beschließen? Oder eine Zweidrittelmehrheit, um Sanktionen zu verhindern? Letzteres würde es viel schwerer machen, einer Strafe zu entgehen. Im Text des Dokuments ist all das einfach weggelassen. Auf die Details wird man später zu sprechen kommen. „Diese Runde haben wir gewonnen, aber es ist noch lange nicht zu Ende. Auch im Rahmen des neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus wird man uns künftig dauernd angreifen“, sagt die ungarische Quelle.

Da hängt viel davon ab, welche Positionen Deutschland in dieser Frage einnimmt. In einem Bericht der Bild-Zeitung vom Gipfel hieß es, Kanzlerin Merkel habe sich in Sachen Rechtsstaatlichkeit auf die Seite Polens und Ungarns gestellt. Tatsache ist, dass Ungarns Kanzleramtsminister Gergely Gulyás und die Vizepräsidentin der Regierungspartei Fidesz, Katalin Novák, vor dem Gipfel in Berlin waren, um sich mit den Unionsparteien auszutauschen.

Hat es Absprachen gegeben?

Und Orbán hat sich trotz seiner Veto-Drohungen vor dem Gipfel in Brüssel als Teamplayer gezeigt, der in fast allen Fragen die deutschen Positionen unterstützte. Da mag er sich in Berlin politisches Kapital erworben haben. Auch der oben erwähnte nebulöse Hinweis von Regierungssprecher Steffen Seibert bezüglich eines denkbaren Endes des Artikel-7-Verfahrens deutet darauf hin, dass sich hinter den Kulissen zwischen Berlin, Warschau und Budapest einiges bewegt. 

Am Ende läuft es womöglich tatsächlich darauf hinaus, dass dieses Verfahren beendet wird. Budapest feuert seit Wochen aus allen Rohren gegen dieses Ziel (Justizministerin Judit Varga in Interviews und auf Twitter), und dem EuGH liegt eine Klage Ungarns gegen die Legalität der Abstimmung im Europaparlament vor, mit der im September 2018 alles begann. Damals wurden die Enthaltungen nicht als abgegebene Stimmen gezählt.

Gefahr für Ungarn und Polen 

Nur so kam die erforderliche Zweidrittelmehrheit zustande für die Forderung, die Kommission solle gegen Ungarn ein Artikel-7-Verfahren einleiten. Nach ungarischer Sicht widerspricht diese Auszählung der Stimmen den internen Regeln des Parlaments. Ob die Richter es auch so sehen werden, das wird sich voraussichtlich im November herausstellen.  

Aber selbst wenn das Verfahren eingestellt würde: Der neue Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ist für Ungarn und Polen selbst in der weichest denkbaren Variante potentiell gefährlicher. Da geht es früher oder später ums Geld. Und weniger Geld bedeutet eine schwächere Wirtschaft und weniger Wählerstimmen.

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