Prozesse gegen Kriegsverbrecher im Ukraine-Krieg - „Eine objektive Beurteilung von Handlungen des Gegners ist schwierig“

Heute endete der erste Kriegsverbrecherprozess in der Ukraine. Ein 21 Jahre alter russischer Soldat wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Auch in Russland sollen gefangene ukrainische Kämpfer vor Gericht gestellt werden. Der Völkerrechtsexperte Matthias Hartwig erklärt im Cicero-Interview, warum nicht jede Tötungshandlung im Krieg ein Kriegsverbrechen darstellt und warum derartige Prozesse besser vor internationalen Gerichten verhandelt werden sollten.

Im Prozess gegen den russischen Soldaten Vadim Chicimarin sagt eine Zeugin aus / dpa
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Sophia Martus hat Soziologie studiert und absolviert derzeit ein Redaktionspraktikum bei Cicero.

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Matthias Hartwig ist Jurist und Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.

Herr Hartwig, in der Ukraine ist der erste Prozess gegen einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher angelaufen. Kriegsverbrechen werden vom Internationalen Strafgerichtshof auf Basis des Römischen Statuts verhandelt. Weder Russland noch die Ukraine haben allerdings dieses Statut unterzeichnet. Wie sieht die Rechtsgrundlage aus, auf der dort über Kriegsverbrechen verhandelt werden kann?

Im Römischen Statut ist genau definiert, wann ein Kriegsverbrechen im Sinne des humanitären Völkerrechts vorliegt. Zum Beispiel sind vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung als solcher, die Misshandlung von Kriegsgefangenen oder die willkürlichen Hinrichtung von Zivilisten unter Strafe gestellt. Deutschland hat die Straftatbestände des Statuts in das Völkerstrafgesetzbuch übernommen und kann auf dieser Grundlage Kriegsverbrechen strafrechtlich verfolgen, und zwar nach dem Weltrechtsprinzip unabhängig davon, wo und von wem die Verbrechen begangen werden.  
 
Die Ukraine hat sich 2015 in einer Erklärung der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für alle Taten unterworfen, die auf ukrainischem Territorium verübt werden. Für solche ist damit der Internationale Strafgerichtshof zuständig. Ukrainische Gerichte können das Romstatut nicht unmittelbar anwenden, weil es nicht in ukrainisches Recht überführt worden ist. Wenn aber zum Beispiel ein russischer Soldat auf ukrainischem Boden eine Zivilperson erschießt, dann ist das auch nach ukrainischem Recht Totschlag oder Mord und kann entsprechend bestraft werden.  
 
Ist jede Tötung von Zivilisten automatisch Totschlag oder Mord?

Nein. Wenn etwa russische Truppen ein Dorf beschießen, aus dem heraus ukrainische Streitkräfte Kampfhandlungen vornehmen, und dabei auch Zivilisten sterben, sind sie in zynischer Sprache Kollateralschäden, welche im Zuge des humanitären Völkerrechts hingenommen werden müssen; solange bei der Inkaufnahme von Zivilopfern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht verletzt wird, kann ein Kriegsverbrechen nicht festgestellt werden. Wenn aber Soldaten gezielt Jagd auf Zivilisten machen, dann sind das ganz klar Kriegsverbrechen, und die können auch gemäß dem einfachen Strafrecht verurteilt werden. Soldaten werden für Kriegshandlungen nur dann nicht bestraft, wenn sie selbst das Völkerrecht beachten.
 
Lassen sich in einem gerade noch umkämpften, möglicherweise verminten Gebiet überhaupt Ermittlungen anstellen? Wie verlässlich sind die Indizien in solchen Prozessen?

Prinzipiell ist das möglich, im Einzelfall kann es allerdings schwer sein. Nehmen wir etwa das Beispiel des russischen Soldaten, der jetzt in Kiew vor Gericht stand: Er hat, laut den Berichten, gestanden, dass er auf einen unbewaffneten Zivilisten geschossen hat. Der Fall ist also relativ einfach, weil dieses Geständnis vorliegt. Ganz anders sähe die Sache allerdings aus, wenn der Soldat angegeben hätte, der Zivilist habe ihn oder seine Einheit zum Beispiel vorher beschossen oder mit Molotowcocktails angegriffen. Dann wäre er nicht mehr ein herumlaufender Zivilist, sondern hätte sich an einem bewaffneten Konflikt beteiligt, und dann darf zurückgeschossen werden. Und wenn der russische Soldat das behauptet hätte, wäre es Sache der Staatsanwaltschaft, das Gegenteil zu beweisen.

Auch in Russland sollen die Gefangenen aus Mariupol vor Gericht gestellt werden. Teilweise handelt es sich hier, neben Armeeangehörigen, um Kämpfer des Asow-Bataillons. Russland betrachtet diese Einheit als Faschisten, die nicht dem Völkerrecht entsprechend behandelt werden sollten. Wie kann Russland ein derartiges Vorgehen rechtfertigen? 

Matthias Hartwig

Wenn die Angehörigen des Asow-Bataillons nicht dem Völkerrecht entsprechend der Prozess gemacht wird, entbehrt das der rechtlichen Grundlage. Soweit ich weiß, handelt es sich bei diesem Bataillon um eine Einheit, die den Polizeieinheiten des ukrainischen Innenministeriums angegliedert wurde. Wenn diese Polizeieinheiten aktiv beteiligt und ihre Mitglieder als gekennzeichnete Kombattanten an den Kämpfen teilgenommen haben, dann unterliegen sie genauso wie die Soldaten dem Kriegsrecht und müssen entsprechend behandelt werden. Für den Kombattantenstatus spielt es keine Rolle, ob man bei der Polizei oder bei den offiziellen Streitkräften tätig ist. Nur wenn die Kämpfer des Asow-Bataillons nicht als Kombattanten gekennzeichnet gewesen sein sollten, kann Russland sie wie Zivilisten behandeln. Tötungshandlungen von Zivilisten im Krieg sind als Mord oder Totschlag zu bewerten. Tötungen von Gegnern durch einen Kombattanten nach den Regeln des humanitären Völkerrechts sind hingegen Kriegshandlungen, die nicht bestraft werden können.

Sollten Mitglieder des Asow-Bataillons vor ihrer Eingliederung in die Polizeikräfte des Innenministeriums als ungekennzeichnete Kämpfer Tötungshandlungen vorgenommen haben, können sie entsprechend strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden.

Allerdings sollen jetzt auf internationaler Ebene in Den Haag Prozesse wegen der Verbrechen im Ukraine-Krieg stattfinden. Inwieweit ähneln oder unterscheiden sich diese Verhandlungen?  

Die Kompetenzen von internationalen und nationalen Strafgerichten unterscheiden sich voneinander. Wenn etwa Waldimir Putin wegen der Anordnung von Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden sollte, dann kann das vor einem nationalen Gericht nicht geschehen, da er Immunität genießt. Vor dem Internationalen Strafgerichtshof hingegen genießen Staatsoberhäupter keine Immunität. Da könnte Putin theoretisch angeklagt werden. Hinzu kommt, dass man immer davon ausgeht, dass das internationale Gericht mit mehr Abstand auf das Geschehen blickt und damit objektiver und unabhängiger ist als ein nationales Gericht, welches diese Verbrechen direkt vor Augen hat. Dann wird mit einer gewissen Emotionalität entschieden. Insofern sind diese nationalen Kriegsverbrecherprozesse problematisch.  
 
Werden auch der ukrainischen Seite hier Verbrechen vorgeworfen?

Die bisherigen Untersuchungen richten sich, soweit ich weiß, ausschließlich auf russische Kriegsverbrechen, was ich auch für nicht unproblematisch halte, denn es ist keineswegs ausgeschlossen, dass auch auf der ukrainischen Seite so etwas geschieht. Vor geraumer Zeit, vor zwei oder drei Wochen, tauchte ja kurz eine Meldung auf, ukrainische Einheiten hätten russische Kriegsgefangene erschossen. Auch das wäre ein Kriegsverbrechen. Auch solche Vorgänge müssen untersucht werden. Ich sähe es als hochproblematisch an, wenn nur die russischen Kriegsverbrechen vom Internationalen Strafgerichtshof verfolgt würden. Das würde dessen Unabhängigkeit einen großen Schaden zufügen.  
 
Das heißt, der Internationale Strafgerichtshof ist parteiisch?

Eine Untersuchung wird immer begonnen, wenn ein Anfangsverdacht vorliegt, aber wenn von vornherein nur gegen eine Seite ermittelt wird, wäre das eine klare Parteinahme. Bei den Jugoslawien-Prozessen zum Beispiel haben wir gesehen, dass lange Zeit nur Kriegsverbrechen einer Seite im Fokus standen, gegen die Kosovaren beispielsweise zunächst nicht ermittelt wurde. Und was den Internationalen Gerichtshof anbelangt, darf man nicht vergessen, dass der jetzige Chefankläger Karim Khan vor geraumer Zeit erklärte, dass die Kriegsverbrechen der US-Streitkräfte in Afghanistan nicht weiterverfolgt würden, weil die Ermittlungen voraussichtlich ergebnislos verliefen. Es ist natürlich hoch bedenklich, wenn er so etwas sagt und im gleichen Zug gegen die Russen mit aller Schärfe vorgeht. Das alles gewinnt damit auch eine politische Dimension. Der Chef-Ankläger muss darauf bedacht sein, dass er nicht in den Verdacht gerät, gewissermaßen allein im westlichen Interesse Untersuchungen anzustellen.  
 
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass gegen beide Seiten ermittelt werden wird?

Ich bin zuversichtlich, dass, sobald Verdachtsmomente vorliegen, sicherlich auch gegen den Verdächtigen ermittelt wird. Allerdings gilt auch für den Internationalen Gerichtshof das Subsidiaritätsprinzip. Wenn die nationalen Gerichte in dem entsprechenden Land, dessen Staatsangehörige die Verbrechen begangen haben, ihrerseits wirkungsvolle Strafverfolgungsmaßnahmen einleiten gegen mögliche Täter, dann tritt die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs zurück. Wenn also die Ukraine bei Vorkommnissen, die Kriegsverbrechen betreffen, in glaubwürdiger Weise auch ihre eigenen Leute verfolgt, dann könnte der Strafgerichtshof sein Verfahren einstellen. Aber eine effektive Verfolgung möglicher ukrainischer Kriegsverbrechen müsste sichergestellt sein. Und man muss sagen, dass die Ukraine in der Vergangenheit nicht immer sehr glücklich in diesem Bereich operiert hat. Bis heute ist etwa nicht aufgeklärt worden, wie es im Mai 2014 bei Zusammenstößen in Odessa zum Brand eines Gewerkschaftshauses kam, bei dem rund 40 mutmaßlich prorussische Kräfte ums Leben kamen. Vom Europarat ist da immer wieder Druck ausgeübt worden, die ukrainischen Gerichte haben sich aber kaum gerührt. Vor diesem Hintergrund ist die Reputation der ukrainischen Gerichtsbarkeit im Hinblick auf die Verfolgung von möglichen Taten von Ukrainern gegen prorussische Personen nicht besonders hoch.  

Es gibt Bilder, auf denen Jugendliche aus Autos Molotowcocktails auf russische Panzer werfen. Das wurde als große Heldentat gefeiert, was man natürlich so sehen kann, kriegsvölkerrechtlich ist das aber katastrophal. Das müsste eigentlich auch vor einem ukrainischen Gericht verhandelt werden, ob das in der Öffentlichkeit Zustimmung findet oder nicht. Rechtlich ist es aber so, dass auch die Ukraine die eigenen Leute zur Rechenschaft ziehen muss.  
 
Die Ermittlungen in Den Haag laufen noch. Warum finden andererseits Verhandlungen in nationalem Rahmen bereits jetzt, während des Krieges, auf kürzlich noch umkämpften Territorium statt? 

Es muss nicht das Ende des Krieges abgewartet werden, bevor eine solche Straftat abgeurteilt wird. Das kann auch während des Krieges sein, zumal man ja nicht weiß, wie lange der Krieg sich hinzieht. Und von vornherein dienen solche Prozesse auch der Abschreckung, sodass möglichst keine Wiederholung stattfindet und solche Taten auch ernstgenommen werden. Wichtig ist natürlich die Vermutung, die bei dieser Frage mitschwingt: In Kriegszeiten ist eine objektive Beurteilung, eine emotionsfreie Beurteilung von Handlungen des Gegners immer sehr schwierig. Das spiegelt sich auch in der allgemeinen Diskussion, übrigens auch in der Presse, wo es auch vorsichtige Aufrufe gibt, sich auch auf ukrainischer Seite an bestimmte Regeln des humanitären Völkerrechts zu halten, etwa zwischen Kombattanten und Zivilisten zu unterscheiden.
 
Umgekehrt, welche Botschaft sendet es an die Ukraine aus, wenn etwa Russland Kriegsgefangene einfach erschießt?

Da kann man nur sagen, es geht hier nicht um Gerechtigkeit. Man kann nicht sagen, nur weil die andere Seite das tut, ist es legitim, wenn ich es auch tue. Im Völkerrecht ist zwar grundsätzlich immer eine gewisse Reziprozität gegeben, aber in vielen Bereichen gilt diese, wie hier, eben nicht. Es ist ausdrücklich im humanitären Völkerrecht festgelegt, dass Staat A Kriegsgefangene des Staates B nicht erschießen darf, nur weil Staat B dies zuvor getan hat. Das ist absolut verboten. Das Problem beim humanitären Völkerrecht ist aber leider, dass es kein wirkliches Druckmittel gibt, um es faktisch durchzusetzen.  

Das Gespräch führte Sophia Martus.

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