Prozess um Tiergarten-Mord - Russland vor Gericht

Heute beginnt der Prozess gegen einen Russen, der vor einem Jahr im Berliner Kleinen Tiergarten einen Tschetschenen ermordete. Mit auf der Anklagebank sitzt der russische Staat: Im Raum steht der Vorwurf des Staatsterrorismus.

Polizisten bewachen den Eingang zum Gerichtssaal, in dem am Mittwoch der Prozess zum Tiergarten-Mord beginnt / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Es sind sehr schlechte Zeiten für Menschen, die für gute Beziehungen zu Russland eintreten: Gerhard Schröder, Ex-Bundeskanzler und heute Lobbyist für russische Energieunternehmen, musste sich von Alexej Nawalny gerade einen „Laufburschen Putins“ schimpfen lassen. Angesichts seiner windelweichen Äußerungen zum Mordversuch an dem russischen Oppositionellen kann er dem wenig entgegensetzen. Nawalny ist zwar nach der Rettung durch Ärzte der Charité auf dem Weg der Besserung, aber der Kreml scheint nicht gewillt, die Täter ausfindig zu machen. Stattdessen wirft er eine Nebelkerze nach der anderen.

Der 2014 maßgeblich von Russland losgetretene militärische Konflikt in der Ostukraine ist beinahe in Vergessenheit geraten, schwelt aber noch immer und belastet die europäisch-russischen Beziehungen: Er ist einer der Gründe dafür, dass sich viele Länder in der EU gegen das Projekt Nord Stream 2 stemmen, weil dies Gasleitungen durch die Ukraine praktisch überflüssig machen würde. Und wer es vergessen haben sollte: Auch die Halbinsel Krim, die Russland 2014 annektierte, sieht der Westen bis heute als ukrainisches Territorium.

Der Prozess, der heute vor dem Berliner Kammergericht beginnt, wird die angeschlagenen deutsch-russischen Beziehungen an einen neuen Tiefpunkt führen. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Angeklagte von „staatlichen Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation“ beauftragt wurde. Im Klartext heißt das: Staatsterrorismus.

Ein Mord zwei Kilometer vom Kanzleramt

Keine 500 Meter von der Anklagebank, auf welcher der Russe Wadim Krassikow nun sitzt, liegt der Kleine Tiergarten entfernt, zum Kanzleramt sind es zwei Kilometer: Am 23. August 2019 näherte sich also im Kleinen Tiergarten am hellichten Tage eben jener Russe auf einem Fahrrad von hinten seinem Opfer, schoss ihm in den Rücken und dann zweimal in den Kopf. Auf der Flucht wurde er von der Polizei festgenommen.

Das Opfer war Selimchan Changoschwili, ein 40-jähriger georgischer Staatsangehöriger, der zur tschetschenischen Minderheit in dem südkaukasischen Land gehört. Im zweiten Tschetschenienkrieg kämpfte er auf Seiten eines islamistischen Rebellenführers gegen russische Truppen, zog sich aber danach nach Georgien zurück. 2008 stellte Changoschwili eine Freiwilligentruppe auf, um im Georgienkrieg gegen Russland zu kämpfen. Die Gruppe kam jedoch in dem nur acht Tage währenden Krieg nicht mehr zum Einsatz. 2015 gab es einen ersten Anschlag auf Changoschwili in der georgischen Hauptstadt Tiflis, danach floh er zunächst in die Ukraine und später weiter nach Deutschland, wo er politisches Asyl beantragte – erfolglos.

Der Mörder hat Verbindungen zum Geheimdienst GRU

Angesichts der Biografie des Ermordeten kamen die deutschen Ermittler schnell darauf, dass es sich um keinen „gewöhnlichen“ Mord aus dem kriminellen Milieu handelte. Journalisten fanden heraus, dass der mutmaßliche Mörder, der einen Pass mit dem Namen Sokolow nutzte, in Wahrheit Wadim Krassikow war, ein Mann, der 2013 in Moskau einen Geschäftsmann erschossen haben soll, und dafür von der russischen Staatsanwaltschaft gesucht wurde, allerdings nur bis 2015. Weitere Indizien in dem Fall deuten darauf hin, dass Krassikow vom russischen Militärgeheimdienst GRU mit einer Tarnidentität ausgestattet wurde – und auch von diesem seinen Auftrag erhalten hat.

Die Tat reiht sich ein in eine Reihe von Morden an Regimegegnern und Abtrünnigen, die russische Geheimdienste oder der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow in den vergangenen 15 Jahren in Auftrag gaben. Die Bedeutung des Falls Changoschwili sollte gerade deshalb aber nicht unterschätzt werden: Zwar ist der Fall weit weniger prominent als der versuchte Mord an Oppositionsführer Nawalny, aber im Unterschied dazu steht nun der Vorwurf im Raum, dass der Kreml den Auftrag zur Ermordung eines Menschen auf deutschem Staatsgebiet gegeben hat – „staatliche Stellen der Zentralregierung“, wie es in der Anklageschrift heißt. Das macht den Fall vergleichbar mit der versuchten Vergiftung des Ex-Geheimdienstlers Sergej Skripal 2018 in Großbritannien.

Was Russland Changoschwili vorwirft

Dabei ist es völlig unerheblich, ob es zutrifft, was Putin nach dem Mord über Changoschwili gesagt hat, nämlich dass er „ein blutrünstiger Mörder“ sei, der „während einer  einzigen Aktion 98 Menschen getötet hat.“ Dabei geht es um eine Attacke tschetschenischer Kämpfer in Dagestan und Inguschetien im Juni 2004, an der Changoschwili tatsächlich teilgenommen hat. Laut Putin soll der Tschetschene aber auch an Anschlägen auf die Moskauer Metro beteiligt gewesen sein. Beweise dafür hat der Kreml jedoch nie geliefert.

Wenige Monate nach dem Tiergarten-Mord wies die Bundesregierung zwei als Diplomaten getarnte GRU-Mitarbeiter aus, weil Moskau nicht kooperierte. Manche kritisierten die Reaktion der Bundesregierung als zu lasch. Wenn das Berliner Kammergericht bei der Urteilsverkündung im kommenden Januar nun zu dem Schluss kommt, dass Krassikow tatsächlich im Auftrag staatlicher Stellen gehandelt hat, muss eine harte Antwort folgen. Ungeachtet der geschäftlichen Beziehungen und der internationalen Konflikte, in denen Deutschland und der Westen auf die Zusammenarbeit mit Russland angewiesen ist – jüngstes Beispiel ist der Konflikt in Berg-Karabach: Mehr als pragmatische, gar freundschaftliche Beziehungen zu Russland rücken in weite Ferne.

Ähnlich sieht man das auch in Moskau: Vor wenigen Wochen schrieb der Moskauer Außenpolitik-Experte Dmitri Trenin an dieser Stelle, dass die Zeit der deutsch-russischen Sonderbeziehungen mit dem Fall Nawalny beendet sei. Vielleicht, so viel Hoffnung sei erlaubt, bildet der Fall Nawalny aber auch den Beginn einer neuen Sonderbeziehung, wenn die bleierne und von zynischen Lügen geprägte Ära Putin zu Ende geht. Nawalny, für den Deutschland bislang unter ferner liefen rangierte, sagte in seinem erstem Interview nach seiner Vergiftung: „Ich empfinde eine riesige Dankbarkeit allen Deutschen gegenüber. Ich weiß, das klingt jetzt etwas pathetisch, aber Deutschland ist für mich ein besonderes Land geworden.“

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