Proteste in Hongkong - Mit diesen Taktiken tricksen sich die Hongkonger zur Revolution

Was derzeit in Hongkong passiert, gleicht immer mehr einer Revolution. Vor allem die Selbstorganisation Hunderttausender Demonstranten beeindruckt. Die lassen sich selbst von der täglich wachsenden Bedrohung aus Peking nicht einschüchtern. Eine fernöstliche Lehrstunde in zivilem Ungehorsam

Hongkongs kreativer Protest ist ein leuchtendes Beispiel für cleveren Aktivismus / picture alliance
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Jannik Wilk ist freier Journalist in Hamburg. 

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Not macht erfinderisch, heißt es. Und in Not sehen sich Hunderttausende Menschen dieser Tage in Hongkong: Seit zwei Monaten rumort es in der ehemaligen britischen Kolonie. Millionen Menschen gehen auf die Straße und liefern sich inzwischen immer öfter Straßenschlachten mit der Polizei. Die Hongkonger wollen längst nicht mehr nur ein Auslieferungsabkommen mit Festland-China verhindern, dass die pekingtreue Hongkonger Regierung durchzuwinken plante. Das Gesetz, das Regierungschefin Carrie Lam inzwischen aussetzen ließ, um die Wogen zu glätten, war nur der Anlass für eine immer stärker werdende revolutionäre Stimmung. Eine Wende, die erst am Anfang zu stehen scheint.

Die Machthaber im fernen Peking versuchen diese zu verhindern – und wirken vor den Augen der Weltöffentlichkeit scheinbar machtlos. Aber auch nur scheinbar. Denn es ist abzusehen, dass China im Falle Hongkongs ernst machen würde. Militärisch. Die Volksbefreiungsarmee ließ schon mal ein marzialisches Video drehen, steht schon an den Grenzen der Sonderverwaltungszone, in Shenzhen, fährt reihenweise gepanzerte Fahrzeuge vor. Eine erste Drohgebärde in Richtung Hongkong.

Für die Bewohner der zweitausend Kilometer entfernten Millionenmetropole beginnt es, gefährlich zu werden. Polizeigewalt ist zu sehen, mutmaßlich bezahlte Schlägertrupps prügeln die Bewohner zusammen unter den Augen untätiger Ordnungskräfte, auch von Einschränkung der Pressefreiheit und Berichterstattung ist die Rede, von Schwerverletzten und ja, sogar von Toten: Mehrere Menschen warfen sich aus den Fenstern der Hongkonger Wolkenkratzer, aus Verzweiflung. In ihren Abschiedsbriefen klagen sie über die Regierung ihrer Stadt. Aus Angst vor dem Ende der Demokratie gingen sie bis in den Tod.

Gewiefte Taktiken bringen die Oberhand

Aber die Geschichte der stadtweiten Protestwelle ist nicht nur eine von Tod, Gewalt und Repression. Vielmehr ist sie eine von Mut und Zusammenhalt, ja gar von großer Menschlichkeit. Mit Klugheit und Gemeinschaftssinn wehren sich die Hongkonger in einem zivilen Ungehorsam, einem Aktivismus, der weltweit für Aufsehen sorgt. Die Protestler entwickelten eine Schwarmintelligenz, mit der die harte Hand Pekings nur schwer umgehen kann. Die Kommunistische Partei wird nervöser, setzt angeblich schon heimlich Sicherheitskräfte vom Festland in Hongkong ein.

Die zusätzlichen Beamten sind auch nötig: Denn Dank einer Handvoll gewiefter Taktiken gewinnen die Bürger momentan die Oberhand. Wie die Hongkonger zivilen Ungehorsam durchsetzen und dabei sogar staatlicher Repression trotzen, zeigen ein paar Beispiele, die der Fotograf und Autor Antony Dapiran für die Webseite New Statesman zusammengetragen hat:

1. Wie Bruce Lee aus dem Grab heraus als Inspiration dient

Eine chinesische, ja sogar eine Hongkonger Legende, die bereits tot ist, wirkt weiter in ihrem Heimatland: Kampfsport- und Filmlegende Bruce Lee. Zwar wurde Lee in San Franciscos Chinatown geboren. Allerdings stammt seine Familie aus Hongkong, wo er 1973 auch starb. Lees Ideale waren immer freiheitlicher, demokratischer und humanistischer Natur. Er sah sich gern in der Rolle des kleinen Mannes, der gegen eine höhere Kraft ankämpfte. So eignet sich Lee nicht nur bestens als Symbol des Hongkonger Widerstandes. Auch seine Lebensweisheiten finden hier Anwendung.

Lee riet seinen Schülern, zu denen viele Prominente gehörten, einst: „Sei wie Wasser. Leere deinen Geist, sei formlos, gestaltlos“. Das Zitat wurde zum Bonmot von Unnachgiebigkeit und Anpassungsfähigkeit, und noch heute kann man Lee diese Worte in Aufnahmen sprechen hören. Das taten wohl auch die Hongkonger Protestler, meist junge Menschen, die noch Helden haben, so wie Lee. Sie übertrugen dessen Lehren auf ihre Demonstrationen: In der Regel meiden sie festgelegte Strategien, wenn sie in Massen durch die Straßen marschieren. Es wird ein hochbeweglicher, agiler Stil des Widerstands gepflegt. So lernten sie, wie sich eine Kundgebung blitzschnell in einen Marsch wandeln kann. Wie ein Marsch unvermittelt die Richtung ändert, ohne Absprache. Wie man den Fokus einer Protestaktion bestimmt, während diese schon läuft. Kleine Guerillagruppen der Protestierenden kapseln sich manchmal ab und legen ein Regierungsgebäude, einen Hauseingang lahm. Immer in Bewegung, stets flexibel, bereit für den nächsten Moment. Flüssig wie Wasser. Bruce Lee wäre stolz. 

2. Kopflos zum Sieg

Wenn möglich, erstickten repressionistische Regimes in der Menschheitsgeschichte drohende Revolutionen bereits im Keim. Wie sie das schafften? Die Rädelsführer einsperren, mundtot machen, bestechen oder sie aber gleich umbringen. Ohne sie ist eine Bewegung orientierungslos, inspirationslos, so der Gedanke. Hongkonger Freiheitskämpfer und Protestführer wurden in der Vergangenheit aggressiv verfolgt. Joshua Wong, der noch vor drei Jahren die „Umbrella-Bewegung“ der Millionenstadt anführte, wurde erst vor Kurzem aus dem Gefängnis entlassen. Andere sitzen immer noch hinter Gittern, so wie die Anführer Benny Tai und Chan Kin-man, die der Hongkonger „Occupy Central“-Bewegung ein Gesicht gaben.

Die Hongkonger wissen das. Dass so etwas passiert, wollten sie diesmal von vornherein verhindern. Also agieren sie führerlos, gesichtslos, quasi kopflos. Natürlich gibt es Freiwillige und Koordinatoren mit Megaphonen und Walkie Talkies. Anführer sind sie aber nicht. Anhänger der Proteste betonen, dass eine führerlose Bewegung nicht etwa an fehlender Führung krankt, sondern das Kollektiv ermutigt, sich zu engagieren. Der Widerstand verschwimmt dann in den tausenden Gesichtern, den Hunderten Köpfen der Märsche, die sich durch die Straßen ziehen. Pekings dicke Pranken bekommen die Bewegung so nicht recht zu fassen. Verhaften sie einen Demonstranten, ersetzt ihn der nächste. Die Hongkonger haben genug Leute. Sie lassen sich nicht einfangen.

3. Das Internet – für Hongkonger kein Neuland 

Auch im Internet wissen sich die Protestler zu bewegen. Es ist die Heimat der jungen Aufmüpfigen. Es gibt hunderte Gruppen in verschlüsselten Messenger-Diensten wie Telegramm, die größten von ihnen bestehen aus zehntausenden Usern. Hier organisieren sie sich, teilen Inhalte miteinander, stimmen in organisierten Umfragen über die nächsten Schritte ab. „Open Source“-Protest nennt man das hier.

Mit der Technologie lassen sich Botschaften und Anweisungen schnell untereinander verbreiten. Dazu nutzt man neben Messengern auch das Apple-Tool AirDrop, mit dem sich per Daumendruck Daten zwischen tausenden Mobiltelefonen teilen lassen. Dem Tool liegt Bluetooth-Technologie zugrunde. Bei den Protesten bricht nämlich nicht selten das Handynetz zusammen. Mit Airdrop ist das egal. Man kann sich weiter organisieren, Marschrouten teilen, Treffpunkte und Uhrzeiten weitergeben.

4. Wortlos kämpfen

Die Hongkonger haben über die Jahre gelernt, dass sie im Zusammenstoß mit der chinesischen Polizei, die inzwischen brutal agiert, gute Ausrüstung benötigen. Manchmal gleicht die vorderste Linie eines Protestmarschens im Angesicht eines Polizistenblocks in Vollmontur einer Frontlinie. Von Gummigeschossen über Knüppelschläge bis hin zu Reizgasen geht es dort gefährlich zu. Ein Lehrer erblindete fast, weil die Beamten vorsätzlich auf die Köpfe der Demonstranten zielen, eine andere Demonstrantin hatte vor wenigen Tagen weniger Glück: Sie ist von nun an auf einem Auge blind. Nicht selten laufen in den vordersten Reihen die Greise, damit die Polizisten sich aus Respekt davor hüten, auf die Demonstranten einzuprügeln.

Dagegen kann man sich nur wappnen, wenn man allerhand Alltagsgegenstände kreativ zur Verteidigung einsetzt, darunter: Helme, Regenschirme, Kabel, Augenbinden, Asthmaspray, Einpackpapier, Marker, Scheren. Für jedes dieser Werkzeuge gibt es Handzeichen, die in einer eigens erdachten Zeichensprache angefordert werden können.

Brauchen die jungen Männer an der Front etwa neue Masken, heben sie die Hände auf Augenhöhe, als schauten sie durch ein Fernglas. Dann wissen die Leute in den hinteren Reihen, die eine Versorgungsstraße bilden, was benötigt wird. Brauchen Sie vorne Helme, wandern die Arme auf die Schädeldecke. Manches Mal gibt man auch ein Kärtchen, ein Schildchen, auf dem die entsprechende Handbewegung abgebildet ist, zu den Versorgungsdepots durch. Die wissen dann, was sie auf den Weg schicken müssen. Bis zu einem Kilometer sind diese menschlichen Lieferketten lang und sehen von oben recht beeindruckend aus. 

5. Verkehrskegel gegen Tränengas

Seit 2016, dem Jahr der „Umbrella-Bewegung“ in Hongkong, wurde der Einsatz von Tränengas in der Stadt allzu alltäglich. Die Hongkonger lernten auch hiermit umzugehen. Schießt eine Tränengasbombe in die Menge, preschen aus dem Nichts junge Männer mit Verkehrskegeln hervor, die sie sofort auf die kleinen Rauchgranaten stellen: So entsteht ein kleiner „Schornstein“, der das Gas in den Himmel leitet. Jemand anderes gießt dann Wasser in den Kegel und löscht damit die Granate. „Feuerwehrleute“ nennen die Hongkonger das. Ist mal kein Verkehrskegel zur Hand, weichen sie auf feuchte Handttücher aus, oder aber ein junger Protestler wirft die rauchende Patrone zurück in in die Reihen der Polizisten.

6. Crowdfunding und Internationale Unterstützung

Auch wenn es nicht so aussieht: Die Hongkonger brauchen Unterstützung aus aller Welt. Das wissen auch sie. Auch eine Protestbewegung muss finanzielle Mittel haben, um entsprechend agieren und reagieren zu können. Seit Wochen werben junge Chinesen für die Revolution, starten Crowdfunding-Aktionen, schalten ganzseitige Anzeigen in Zeitungen auf dem gesamten Globus, schreiben Blogeinträge. Mit einer Spendenaktion erreichten sie in wenigen Stunden über 600.000 britische Pfund. So finanzieren sie den Widerstand, samt Werbeaktionen. Aufrufe werden in dutzende Sprachen übersetzt und verbreitet, auch in deutschen Städten sieht man Aufkleber, die markige Sprüche wie „Stand with Hong Kong“ verbreiten. Sogar in der New York Times, im Guardian, in Le Monde oder der Süddeutschen Zeitung fand man ihre Aufrufe. Auch diese Woche sollen wieder große Anzeigen in großen Zeitungen weltweit erscheinen. Um diese bezahlen zu können, haben die Demonstranten erneut innerhalb kürzester Zeit rund zwei Millionen Dollar gesammelt.

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