Präsidentschaftswahl in Belarus - Erkaltete Liebe zur EU

In Belarus ist die Lage vor der Präsidentschaftswahl angespannt wie nie. Diktator Lukaschenko hat seinen Konkurrenten Viktor Babariko vorsorglich festnehmen lassen.

Beliebter Herausforderer Lukaschenkos darf nicht zur Wahl antreten: Viktor Babariko / Nadia Buzhan
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Die großen Puppenspieler dieser Welt, also EU, die USA, Russland und neuerdings China, haben sich in diesem Sommer versammelt und ihre Puppen in Stellung gebracht, um die Insel der Seligkeit angeblich in ein Schlachtfeld der Geopolitik zu verwandeln – so wie sie es einige Jahre zuvor mit der Ukraine getan haben.

Die Insel der Seligkeit heißt Belarus, besser bekannt als Weißrussland. Und der dieses Szenario mit ernstem Blick und umringt von seiner Ministerriege im Staatsfernsehen zeichnet, ist seit 26 Jahren Präsident des Zehn-Millionen-Einwohner-Landes: Alexander Lukaschenko.

Der Präsident zeichnet ein düsteres Bild

Dass der Präsident dieses düstere Bild zeichnet, liegt daran, dass er vor der am 8. August geplanten Präsidentschaftswahl erstmals in seinem politischen Leben ernsthaft in Bedrängnis ist. Denn die wichtigsten Gegenkandidaten kommen diesmal nicht aus der prowestlichen Intelligenzija oder aus der ewigen Opposition, sondern aus dem System: Waleri Zepkalo war einst Vize-Außenminister, Viktor Babariko leitete die drittgrößte Bank des Landes. Letzterer sitzt seit Mitte Juni zusammen mit seinem Sohn in der Amerikanka, dem KGB-Gefängnis in Minsk.

Der 65-jährige Lukaschenko, das lässt er seine Bürger wissen, hat die Gefahr rechtzeitig erkannt: „Wir waren einige Schritte voraus und konnten die Pläne verhindern, Belarus zu destabilisieren.“ Man habe den Puppen ebenso wie den Puppenspielern die Masken vom Gesicht gerissen. „Es geht“, so schließt der Mann mit der Halbglatze und dem markanten Schnurrbart, „um nichts weniger als die Existenz und die Unabhängigkeit des Staates Belarus.“

Taktiker zwischen Ost und West

Lukaschenko, in den achtziger Jahren Leiter eines staatlichen Agrarbetriebs, wurde 1994 zum Präsidenten gewählt, drei Jahre nach der Unabhängigkeit des kleinen Landes zwischen Polen und Russland. Im Gegensatz zu anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion bewahrte er sein Land in den neunziger Jahren vor Staatszerfall, grassierender Armut und Massenarbeitslosigkeit. Die wichtigsten Betriebe blieben in öffentlicher Hand, der Staat zahlte die Renten, auch wenn sie bescheiden waren, weiter pünktlich. Privatunternehmen wurden nur mit großer Vorsicht zugelassen, um eine „Oligarchisierung“ von Wirtschaft und Politik zu verhindern.

Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends profitierte auch Belarus vom Öl- und Gasboom, der Russlands Wirtschaft erfasste. Die Zuwachsraten waren in manchen Jahren zweistellig, der Deal mit Moskau, wonach Russland sein Öl zu „innerrussischen“ Preisen an ­Belarus verkauft, dieses wiederum Öl und in den belarussischen Raffinerien produzierte Ölprodukte zu Weltmarktpreisen ins Ausland veräußern darf, spülte Milliarden in die Kassen des Staates.

Seit der Finanzkrise 2008 stagniert die Wirtschaft jedoch, der seit 2014 andauernde russisch-ukrainische Konflikt hat die wirtschaftlichen Verwerfungen nur noch verstärkt. Dem Niedergang der Staatsunternehmen versuchte Lukaschenko mit einer liberaleren Wirtschaftspolitik zu begegnen – private Unternehmen bringen heute ein Drittel der Wirtschaftsleistung –, aber die wichtigste Einnahmequelle bleibt die Subventionierung von Öl durch Russland. Um die wurde immer wieder hart gefeilscht: Zum einen, weil Moskau inzwischen aus wirtschaftlichen Gründen seine Kopeken genauer zählen muss. Zum anderen machte Lukaschenko seit 2014 dem Westen immer deutlicher Avancen – der Kreml stellte sich die Frage, warum er ihn da eigentlich noch mit billigem Öl helfen sollte. 

Auf das Väterchen ist kein Verlass mehr

Um die Jahreswende spitzte sich der Konflikt derart zu, dass Russland für mehrere Wochen die Öllieferungen einstellte. Belarus verlor Hunderte Millionen an Deviseneinnahmen, eilig einigte sich Lukaschenko mit Putin im Februar. Doch da zog schon das nächste Gewitter auf.

50 Gramm Wodka pro Tag, dreimal pro Woche in die Sauna und Traktor fahren, das empfahl Lukaschenko seinen Bürgern im Kampf gegen das Coronavirus, und mokierte sich über die „Corona-Psychose“, welche die Welt erfasst habe und die die Wirtschaft ruiniere. Der Präsident ließ das öffentliche Leben bis auf kleinere Einschränkungen weiterlaufen, zu Ostern ging er demonstrativ in die Kirche. Im Gegensatz zu Russland, das den Ernst der Lage zu diesem Zeitpunkt realisiert hatte, ließ Lukaschenko sogar am 9. Mai Panzer durch Minsk rollen und seine Soldaten marschieren, um den „Tag des Sieges“ zu feiern. 

Offiziell hatte das Land Mitte Juli weniger als 500 Corona-Opfer und 65 000 Infektionen zu verzeichnen. Aber an die offiziellen Zahlen glaubt kaum jemand in Belarus. Während Lukaschenko so tat, als passiere nichts, ergriffen die Belarussen selbst die Initiative: Überall im Land schlossen sich Menschen zusammen, um Ärzte und Krankenschwestern, die über Wochen die Krankenhäuser nicht verlassen durften, mit Schutzkleidung und Essen zu versorgen. Lukaschenkos Versagen zeigte den Menschen: Auf den „Batka“, das Väterchen, wie er scherzhaft genannt wird, kann man sich nicht mehr verlassen. Man muss das Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Neue Opposition regt sich

Ohne die Corona-Episode ist nicht zu erklären, warum sich im Mai lange Schlangen auf den Plätzen des Landes bildeten, auf denen Aktivisten Unterschriften für die Oppositionskandidaten sammelten. Auch früher mobilisierte die Opposition ihre Anhängerschaft, die war aber meist auf eine prowestliche, junge und großstädtische Schicht beschränkt. Diesmal entlud sich der Ärger über Lukaschenko landesweit in Unterschriften: Babariko sammelte nach eigenen Angaben über 400 000, Zepkalo 200 000 Unterschriften. 100 000 sind notwendig, um als Kandidat registriert zu werden.

Neu ist auch, dass Lukaschenko zwei Kandidaten aus der Elite entgegenstehen. Früher hatten den volksnahen Präsidenten Intellektuelle wie 2006 der Professor Alexander Milinkewitsch oder ewige Oppositionelle wie 2010 Nikolai Statkewitsch herausgefordert. Mit einer Mischung aus Einschüchterung und Wahlfälschung, aber auch aufgrund seiner Popularität bei den einfachen Leuten, hatte sich Lukaschenko stets klar durchgesetzt.

Die „klassischen“ Oppositionellen gibt es auch diesmal, aber die zwei populärsten Kandidaten sind Newcomer in der Opposition: Zepkalo war in den Neunzigern stellvertretender Außenminister, dann Botschafter in den USA und leitete im vergangenen Jahrzehnt das belarussische „Silicon Valley“, in dem sich über 200 IT-Unternehmen ansiedelten. 2017 entließ ihn Lukaschenko, weil Zepkalo sich gegen staatliche Versuche gewehrt hatte, die IT-Unternehmen stärker zu „melken“.

Noch überraschender war die Kandidatur von Babariko: Der 56-Jährige leitete zwei Jahrzehnte lang und bis zuletzt die drittgrößte Bank des Landes, Belgazprombank. Wie der Name erahnen lässt, gehört das Institut mehrheitlich dem russischen Staatskonzern Gazprom. Von Konflikten mit der Staatsmacht ist, anders als im Falle Zepkalos, nichts bekannt. Babariko gab in einem Interview sogar zu Protokoll, dass er seit 1994 bei keiner einzigen Wahl abgestimmt habe.

Wahl-Umfragen regelt jetzt das Ministerium

Seine Popularität gründet darauf, dass er sich nicht wie ein klassischer Oppositioneller verhält. Der Vater zweier erwachsener Kinder, seine Frau ist verstorben, zeigt demonstrativ gute Laune und Optimismus. In Interviews gab er sich bis zuletzt überzeugt davon, dass ehrliche Wahlen möglich seien. Da saß keiner, der Rache nehmen wollte an Lukaschenko, gleichwohl aber der Meinung war, dass der Präsident das Land in eine wirtschaftliche Sackgasse geführt und in der Corona-Krise versagt habe. Trotz der engen persönlichen Beziehungen zu Russland plädiert Babariko für eine „Diversifizierung“ der Wirtschaftsbeziehungen. Dass er von Moskau gesteuert ist, wie es die Propaganda insinuiert, scheint unwahrscheinlich: Der russische „Erste Kanal“, der auch in Belarus großen Einfluss hat, erwähnt ihn mit keinem Wort. 

Bleibt die Frage, warum Babariko dieses Risiko eingeht. „Ich habe lange versucht, mich hinter anderen zu verstecken“, sagt er in einem Promo-Video. „Dann kam ich zu dem Schluss, dass ich die Sache selbst in die Hand nehmen muss.“

In der jüngsten unabhängigen Umfrage schlug Babariko Lukaschenko um Längen: Auf dem populären Portal tut.by stimmten Mitte Mai von 70 000 Belarussen 55 Prozent für den Oppositionellen, Lukaschenko landete mit 6 Prozent auf Platz vier. Repräsentativ ist eine Onlinebefragung natürlich nicht. Ende Mai wurden die Chefredakteure der nichtstaatlichen Medien ins Informationsministerium geladen und „eindringlich“ gebeten, derartige Erhebungen nicht mehr zu veröffentlichen. Der Staat liefert nun eigene Zahlen: Mitte Juli hieß es im Fernsehen, knapp 70 Prozent der Belarussen wollten für Lukaschenko stimmen, Babariko bliebe unter 6 Prozent. Immerhin kam er in der Umfrage vor. 

Ein schwerer Rückschlag für die Beziehungen mit der EU

Denn seit Mitte Juni sitzen er und sein Sohn in Untersuchungshaft. Die Fernsehzuschauer erfuhren zur besten Sendezeit, dass Babariko ein gewissenloser Oligarch sei, der die Bank zur persönlichen Bereicherung genutzt und brave belarussische Kleinunternehmer in den Ruin getrieben habe. „Wollen die Belarussen weiter in einem sicheren Rechtsstaat leben – oder wollen sie sich von Gaunern und ihren Kreditversprechen kaufen lassen“, fragte die Stimme aus dem Off.

Lukaschenko holzt – und zeigt damit seine Nervosität. Früher hatte er Oppositionelle festnehmen lassen, wenn sie nach den Wahlen protestierten. Diesmal lässt er die Kandidaten gar nicht erst antreten: Im Juli schloss die Wahlkommission Babariko aus, weil er falsche Angaben über seine Besitzverhältnisse gemacht hätte. Zepkalo wurde nicht registriert, weil nur 75 000 seiner Unterschriften gültig gewesen seien. Tausende Belarussen gingen auf die Straße, die Staatsmacht reagierte mit massenhaften Verhaftungen.

Westliche Beobachter blicken mit Sorge auf den bevorstehenden Wahltag: Lukaschenko näherte sich in den vergangenen Jahren der EU an und lockerte dafür seinen politischen und wirtschaftlichen Griff. Die jetzige Entwicklung ist für die Beziehungen zur EU ein schwerer Rückschlag.

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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