Offener Brief an den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk - Keine Brandbeschleunigung im Ukraine-Konflikt!

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, lässt kaum einen Tag verstreichen, an dem er nicht die Bundesregierung kritisiert - weil sie keine Waffen an Kiew liefere und Sanktionen gegen Russland sowie eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine blockieren würde. Gastautor Friedbert Pflüger mahnt dagegen eine Entspannungspolitik im Geiste Willy Brandts an und ruft auch die Ukraine zu einem Interessenausgleich auf.

Der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk / dpa
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Autoreninfo

Dr. Friedbert Pflüger lehrt am CASSIS, Universität Bonn Internationale Klima- und Energiepolitik und ist seit 2014 Senior Fellow des Atlantic Council der USA. Er war 16 Jahre Bundestagsabgeordneter (CDU) und Verteidigungs-Staatssekretär in der ersten Regierung Merkel. Pflüger ist seit 2009 Geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Bingmann Pflüger International (BPI).

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Sehr geehrter Herr Botschafter Melnyk!

Es hat mich gefreut, Sie vor kurzem beim Abendessen im kleinen Kreis kennenzulernen. Schon vorher hatte ich Sie durch ihre zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen wahrgenommen. Ich glaube Ihnen, dass Sie das Beste für Ihr Land anstreben. In meiner Zeit als Politiker habe ich die Ukraine oft besucht. Mit Ausnahme von Janukowitsch und Selenskiy habe ich mit allen Ihren Präsidenten gute politische Gespräche geführt. Bei allem Respekt, der dem Botschafter eines so großen, wichtigen und aktuell bedrohten Landes zusteht, erlauben Sie mir bitte doch offen auszusprechen, dass Sie bei Ihrem Engagement über das Ziel hinausschießen und im derzeitigen Konflikt leider weiteres Öl ins Feuer gießen.

Nachtreten beim Admirals-Rücktritt

Als der Inspekteur der deutschen Marine, Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach, nach Kritik an seinen öffentlich gewordenen Äußerungen aus einer Diskussionsrunde einer indischen Denkfabrik von seinem Amt zurücktrat, meinten Sie, nachtreten zu müssen: Der Vorfall stelle „die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit Deutschlands massiv infrage“. Die Ukrainer fühlten sich von dieser „herablassenden Attitüde an die Schrecken der Besatzung durch die Nationalsozialisten erinnert, als die Ukrainer als Untermenschen behandelt wurden“.

Vielleicht wäre es für den Marineinspekteur besser gewesen, in der derzeit aufgeheizten Situation zu schweigen (obwohl wir doch dem Leitbild des „Soldaten als Bürger in Uniform“ mit dem Recht auf eigene Meinung verpflichtet sind …). Wie immer man das beurteilt: Es ist unerträglich, einen in vielen internationalen Missionen bewährten, in der Nato und der eigenen Truppe hoch angesehenen Offizier mit dem Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen! Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, der vier Jahre auch als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses gedient hat, stellte sich vor Schönbach und signalisierte sogar grundsätzliche Zustimmung. Dass Sie, Herr Botschafter, von der Bundesregierung bisher nicht offiziell gerügt wurden, liegt nur daran, dass man dem Stress, dem Ihr Land ausgesetzt ist, nicht weitere Probleme hinzufügen mag.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem Sie nicht die Bundesregierung kritisieren: Sie sprechen von der „befremdlichen Blockadehaltung Berlins“ beim Thema Waffenlieferungen an die Ukraine. Sie fordern „präventive Sanktionen“ gegen Russland. Sie drängen darauf, die fertig gebaute Pipeline Nord Stream 2 zu stoppen und Russland vom internationalen Zahlungssystem Swift auszuschließen – ein Schritt, den der neue CDU-Vorsitzende Friedrich Merz zu Recht als „Atombombe für die Kapitalmärkte“ bezeichnet hat. Sie beschuldigen Deutschland, die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern. Sie kritisieren also fortgesetzt das Land, das die Ukraine wahrscheinlich mehr als jedes andere – mit Taten(!) – unterstützt hat!

Unterschied zwischen Beschwichtigung und Entspannung

Herr Botschafter, es ist in Europa unstrittig, dass der russische Militäraufmarsch an Ihrer Landesgrenze nicht akzeptabel ist und der Westen im Falle eines Einmarsches mit entschiedenen Sanktionen reagieren wird. Aber zumindest in Deutschland und Frankreich gibt es einen ebenso breiten Konsens darüber, dass neben der Abschreckung auch der Dialog gesucht werden muss. Leider wird jeder, der sich für Deeskalation oder Interessenausgleich einsetzt, von Ihnen als Verräter oder bestenfalls als schwächlicher Appeasement-Politiker beschimpft. Es gibt jedoch einen großen Unterschied zwischen einer Beschwichtigungspolitik, wie sie Chamberlain gegenüber Hitler betrieb, und einer Entspannungspolitik, wie Willy Brandt sie im Kalten Krieg erfolgreich durchsetzte: Eindämmung ja! Aber eben auch Angebote zur Zusammenarbeit! Auch Brandt wurde damals von innenpolitischen Gegnern der Liebedienerei gegenüber einer kommunistischen Diktatur bezichtigt. Aber er beharrte darauf, die Beweggründe der „anderen Seite“ zu verstehen, nach einer Balance der Interessen und allmählicher Vertrauensbildung zu suchen.

Ich gehöre, wie Sie wissen, nicht der Partei Willy Brandts an. Aber ich bin sehr froh, dass es ihn gab und er die Eskalationsspirale von Drohungen und Rechthabereien des Kalten Krieges mit seiner Politik durchbrach. Ich weiß noch, wie Egon Bahr, sein Unterhändler gegenüber der Sowjetunion, angegriffen wurde, er mache sich mit dem Kreml gemein. Gerade in krisenhaften Situationen braucht es Persönlichkeiten, die auch auf „der anderen Seite“ Vertrauen genießen und von dort die Ängste, Ambitionen und „rote Linien“ vermitteln. Ach, hätten wir doch jetzt einen Egon Bahr!

Für eine Klima-KSZE

Russland verfügt über nukleare Waffen. Ist es vor dem Hintergrund der schrecklichen Weltkriege und der historischen Erfahrung, dass Kriege auch ausbrechen können, obwohl sie kaum einer wirklich möchte, nicht ratsam, auf rhetorische Abrüstung und tatsächliche Rüstungskontrolle, auf Dialog und Zusammenarbeit zu setzen? Wie wäre es, wenn Sie – statt immer neue Sanktionen zu fordern – einmal den Vorschlag einer Klima-KSZE unterbreiten würden? Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) hatte Mitte der siebziger Jahre die USA, Kanada, die europäischen Staaten und die Sowjetunion an einen Konferenztisch gebracht. Die Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975 war ein Meilenstein bei der Sicherung des Friedens – und später auch bei der friedlichen Überwindung der Teilung unseres Kontinents. Warum nicht jetzt einen ähnlichen Versuch wagen – unter Einbeziehung des alles überragenden Klimathemas? So könnten wir gemeinsam dazu beitragen, unseren Planeten zu retten, aber vor allem auch den Frieden zu wahren.

Wenn Russland Ihr Land angreift, dann wird das furchtbar für alle. Dann haben wir Krieg in Europa, getötete und verletzte Menschen, zerstörte Städte, Flüchtlinge – unermessliches Leid. Die USA und die Nato haben klargemacht, dass sie im Kriegsfall nicht militärisch eingreifen – zu groß ist die Angst vor einer Eskalation zum nuklearen Vernichtungskrieg. Ist es nicht ein zu hohes Risiko, darauf zu setzen, wirtschaftliche Sanktionen und Panzerabwehrraketen könnten Russland aufhalten, wenn es seine Kerninteressen bedroht sieht? Vielleicht ist es doch besser, nach einem Interessenausgleich zu suchen, anstatt die bestehenden Brände noch zu beschleunigen.

Eine starke Ukraine zwischen Russland und dem Westen

Der Kern des derzeitigen Konfliktes liegt darin, dass Russland aufgrund seiner Geschichte und seiner Geographie das offenkundige Interesse hat, dass die Ukraine nicht Mitglied der Nato wird. Ein liberalerer Kremlchef als Putin (wahrscheinlicher ist leider das Gegenteil) würde das nicht anders sehen. Ihr Land hat natürlich das Recht, nach Mitgliedschaft in der Nato zu streben. Da kann es kein Veto aus Moskau geben. Wahr ist aber auch, dass die Nato – wie bisher – die Meinung vertreten kann, dass eine solche Mitgliedschaft der Sicherheit Europas nicht dient. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat kürzlich in diesem Sinne unterstrichen, dass er sich eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Allianz auf absehbare Zeit nicht vorstellen könne. Leider hatte die Trump-Administration in Kiew auf unverantwortliche Weise gegenteilige Illusionen wachsen lassen. Diese müssen jetzt der Einsicht weichen, dass die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine bis auf weiteres nicht auf der Tagesordnung steht.

Ich wünsche mir eine unabhängige, demokratische und wirtschaftlich prosperierende Ukraine zwischen Russland und dem Westen, eng verbunden mit den euro-atlantischen Institutionen – gleichzeitig aber die wesentlichen Interessen seines östlichen Nachbarn achtend. Und für die Ostukraine wünsche ich mir endlich Frieden und Selbstbestimmung, vielleicht eine Art Südtirol-Lösung, die die staatliche Souveränität der Ukraine respektiert, aber die russische Sprache und Kultur sowie die Bindungen vieler Menschen an Russland achtet. Herr Melnyk, Sie mögen das als ungerecht empfinden, aber Russland und die Ukraine sind unverrückbar. Und deshalb muss man aufeinander Rücksicht nehmen.

Mit freundlichem Gruß
Friedbert Pflüger

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