Offener Brief an Annalena Baerbock und Olaf Scholz - Am nuklearen Abgrund: Die Eskalationsspirale durchbrechen

Bundeskanzler Scholz und Außenministerin Baerbock haben sich wochenlang bemüht, eine diplomatische Lösung für den Ukraine-Konflikt zu finden. Unser Gastautor Friedbert Pflüger plädiert dafür, auch nach dem russischen Einmarsch nicht von einem besonnenen Vorgehen abzurücken. Gerade wenn man Putins Drohungen ernstnehme, müsse man auf Deeskalation hinarbeiten, um einen Atomkrieg zu verhindern.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei der Sondersitzung des Bundestags zum Krieg in der Ukraine / dpa
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Autoreninfo

Dr. Friedbert Pflüger lehrt am CASSIS, Universität Bonn Internationale Klima- und Energiepolitik und ist seit 2014 Senior Fellow des Atlantic Council der USA. Er war 16 Jahre Bundestagsabgeordneter (CDU) und Verteidigungs-Staatssekretär in der ersten Regierung Merkel. Pflüger ist seit 2009 Geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Bingmann Pflüger International (BPI).

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Liebe Frau Baerbock, lieber Herr Scholz!

Es ist das furchtbare Ergebnis einer nüchternen Bestandsaufnahme: Ein nuklearer Vernichtungskrieg ist eine reale politische Möglichkeit in der nahen Zukunft. Die Welt bewegt sich seit der Drohung Wladimir Putins vom 24. Februar 2022 auf einen Atomkrieg zu. Putin drohte allen, „die sich von außen einmischen“, mit Konsequenzen, „wie Sie sie in Ihrer gesamten Geschichte noch nie gesehen haben“. Wir wollen das nicht wahrhaben? Alles nur Panikmache, um uns in Angst zu versetzen? Sind wir nicht seit dem Einmarsch der Putin-Truppen in der Ukraine immer wieder belehrt worden, dass der russische Präsident nicht zu leeren Drohungen neigt? Putin hat sich offenbar verrechnet und mit dem mutigen Widerstand der Ukrainer nicht gerechnet. Er steht mit dem Rücken zur Wand, wird von der gesamten Welt isoliert. Wird er einfach aufgeben oder weiter eskalieren? Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit für den Einsatz von Nuklearwaffen nur bei einem Prozent liegen sollte, dann ist das ein unerträgliches „Restrisiko“. Die Atompilze von Hiroshima und Nagasaki mit dem damit einhergehenden Grauen sind unserem – meine Generation prägenden – kollektiven Bewusstsein weitgehend entschwunden. Japan konnte damals auf die amerikanischen Atombomben nicht antworten. Heute aber bliebe ein Einsatz russischer Nuklearwaffen nicht unbeantwortet: Armageddon …

Sie beide haben im Deutschen Bundestag eindrucksvolle Reden gehalten – ebenso der neue Oppositionsführer, Friedrich Merz. Sie beide haben in den letzten Wochen immer wieder versucht, diplomatische Lösungen zu finden. Das war nicht naive Beschwichtigungspolitik, das war der ernste Versuch, Krieg und Zerstörung abzuwenden. Auch wenn der Versuch gescheitert ist, er war es wert. Und auch hier war es gut, dass der Vorsitzende der Unionsfraktion Ihnen den Rücken stärkte. Es ist beruhigend, dass es in der Krise in Deutschland einen Grundkonsens gibt.

Aber kurze Zeit nach der Bundestagsdebatte – wir wissen, dass Putin nicht selten Debatten in Deutschland am Fernseher verfolgt – versetzte er die russischen Atomstreitkräfte in Alarmzustand, weil „Spitzenpersönlichkeiten der führenden Nato-Staaten aggressive Äußerungen gegen unser Land“ zuließen.

Kriegserklärung der Allianz an Russland

Natürlich muss man diese Drohung verurteilen. Aber ich bitte Sie eindringlich, es nicht damit abzutun, sondern davon auszugehen, dass Putin auch vor diesem Schritt nicht grundsätzlich zurückschreckt. Sie haben bisher klug und besonnen gehandelt und sich von der hektischen Unruhe nicht anstecken lassen. Bitte lassen Sie sich deshalb auch zukünftig nicht durch (nach der unerträglichen Aggression Putins verständliche) Stimmen treiben, die nach immer schärferen Sanktionen rufen. Wir müssen jetzt innehalten: Wo soll das alles enden? Bitte suchen Sie nach einem Ausweg aus der Eskalationsspirale!

In der öffentlichen Debatte (z.B. am Sonntag bei „Anne Will“) ist bereits von einer Flugverbotszone die Rede, die die Nato über der Ukraine errichten möge. Das heißt de facto, dass die Nato russische Flieger vom Himmel holen soll. Das ist eine Kriegserklärung der Allianz an Russland. Das ist Wahnsinn! EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will die Ukraine in die EU aufnehmen, obwohl sie keines der Aufnahmekriterien erfüllt. Der EU-Außenbeauftragte will das Land mit Kampfjets ausrüsten. In dem Gefühl einer hilflosen Solidarität fallen uns immer wieder neue Möglichkeiten ein, was wir tun könnten, um unserer Abscheu Ausdruck zu verleihen. Alles hochgefährlich, denn Putin hat gezeigt, dass ihn alle Sanktionen der Welt nicht von seinem Kurs abbringen. Die Diplomatie ist gescheitert, aber die Politik der immer schärferen Verurteilungen und Strafen ebenso.

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hat sicher recht, dass es schwierig ist, Gesprächskanäle zu jemandem offenzuhalten, der „lügt, betrügt und völlig unberechenbar ist“ (im ZDF bei „Berlin direkt“). Aber heißt das, dass wir die Dinge einfach weiter treiben lassen?

Verbindung zwischen USA und Russland „auf operativer Ebene“

Offenbar haben die Amerikaner inzwischen die Gefahr der Situation erkannt. Wie „Politico“ berichtet, soll es einen Draht zwischen dem Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff der US-Streitkräfte, General Mark Milley, und seinem Counterpart bei den russischen Streitkräften, General Valery Gerassimov, geben. Das wäre sehr wichtig, denn es geht jetzt darum, dass kein Funke versprüht wird, aus dem ein Flächenbrand entsteht. Hochgerüstete und sehr nervöse Nato-Streitkräfte und russische Truppen stehen sich jetzt an der Grenze zur Ukraine unmittelbar gegenüber, da kann es leicht zu unbeabsichtigten Zusammenstößen kommen. Was, wenn Russland Cyber-Attacken gegen Nato-Länder startet? Wird dadurch der Bündnisfall ausgelöst? Es dürfen keine Fehleinschätzungen auf beiden Seiten entstehen, die zu einem Krieg aus Versehen führen. Um diese Gefahr abzuwenden, haben die USA auf militärischen Kanälen Russland um eine Verbindung „auf operativer Ebene“ gebeten. Das sollten wir unterstützen!

Meine Bitte ist, dass wir neben unserer eindeutigen Verurteilung Putins, der Solidarität mit der Ukraine und aller von Ihnen beiden im Bundestag geschilderten Konsequenzen uns auch auf die Suche nach diplomatischen Wegen aus der Krise begeben: Lassen wir das beschlossene Sanktionspaket wirken! Gebieten wir der rastlosen Verkündung immer neuer Strafen Einhalt! Suchen wir nach einer Persönlichkeit, die bei Gesprächen zwischen Russland und der Ukraine mit Autorität und Glaubwürdigkeit vermitteln könnte! Auch wenn die Mahnung nicht zu den Stimmungen des Tages passt: Wer aufhört zu reden, wird früher oder später Krieg führen.

Ihr Friedbert Pflüger

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