Meistgelesene Artikel 2021: Dezember - Wertegebundene Außenpolitik: ja! - Selbstgerechtes Moralisieren: nein!

Die Außenpolitik demokratischer Staaten soll auf Werten wie Demokratie und Menschenrechten beruhen. Doch das darf nicht dazu führen, Brücken einzureißen, legitime Interessen zu verleugnen oder die eigenen Möglichkeiten zu überschätzen. Die historische Erfahrung zeigt: Moralische Kreuzzüge führen am Ende immer in die Katastrophe.

Von einer, die auszog, die Welt zu belehren: Annalena Baerbock / dpa
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Autoreninfo

Dr. Friedbert Pflüger lehrt am CASSIS, Universität Bonn Internationale Klima- und Energiepolitik und ist seit 2014 Senior Fellow des Atlantic Council der USA. Er war 16 Jahre Bundestagsabgeordneter (CDU) und Verteidigungs-Staatssekretär in der ersten Regierung Merkel. Pflüger ist seit 2009 Geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Bingmann Pflüger International (BPI).

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Frau Ministerin, liebe Frau Baerbock!

Herzliche Gratulation zur Berufung als Außenministerin. Sie übernehmen eine der wichtigsten und erfüllendsten Aufgaben. Ich wünsche Ihnen dafür eine glückliche Hand und nachhaltigen Erfolg.

Erlauben Sie mir einige Anmerkungen zu der von Ihnen propagierten „wertegebundenen Außenpolitik“. Ich habe mich seit meiner Doktorarbeit an der Universität Bonn vor 40 Jahren in Theorie und Praxis immer wieder mit der Frage beschäftigt, wie eine „wertegebundene Außenpolitik“ aussehen sollte. Um meine Erfahrungen auf den Punkt zu bringen: Eine wertegebundene Außenpolitik ist vor dem Hintergrund unserer Geschichte und dem Geist unserer Verfassung richtig. Aber sie darf nicht zu moralischer Selbstgerechtigkeit und menschenrechtlichen Kreuzzügen führen. Und: Zu einer wertegebundenen Außenpolitik gehört eine kluge Menschenrechtspolitik, vor allem aber auch die Bewahrung des Friedens.

Österreich bestrafen

Die Geschichte der Menschenrechtspolitik begann im Dezember 1849 im amerikanischen Senat. Der spätere US-Außenminister Lewis Cass forderte den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Österreich, um gegen die Unterdrückung der ungarischen Revolution durch österreichische Truppen zu protestieren. Senator John Parker Hale erwiderte ironisch, dass man nach der „Bestrafung“ Österreichs konsequent sein müsse und auch gegenüber Russland (das Österreich geholfen hatte) oder England (aufgrund der Behandlung irischer Patrioten) oder Frankreich (wegen der Ausbeutung Algeriens) seine Abneigung demonstrieren müsse. Am Ende hätte man mit der ganzen Welt gebrochen. Senator Henry Clay warf schließlich die Frage auf, warum Cass unbedingt den diplomatischen Kontakt abbrechen wolle. Es könne doch unter Umständen viel mehr nutzen, wenn man einen Beauftragten nach Wien entsende und „hinter verschlossenen Türen“ mit den Österreichern über das Schicksal der Ungarn verhandele.

Diese durchzieht seitdem die US-Außenpolitik. Von Woodrow Wilson („to make the world safe for democracy“) über John F. Kennedy („Wir werden jeden Preis zahlen, um das Überleben und den Erfolg der Freiheit zu sichern“) bis zu den menschenrechtlichen Fanfaren Jimmy Carters („Weil wir frei sind, können wir gegenüber dem Schicksal der Freiheit anderswo niemals gleichgültig sein“) erhoben amerikanische Präsidenten immer wieder die Forderung nach wertegebundener Außenpolitik.

Demokratie-Export gescheitert

Aber der Idealismus führte oft in die Katastrophe. Die befreiungspolitische Rhetorik John Foster Dulles’ nach dem Zweiten Weltkrieg scheiterte mit der Niederschlagung der antikommunistischen Aufstände in Ost-Berlin (1953) und in Ungarn (1956). Aufgrund der zahllosen Radiosendungen der US-Sender Radio Free Europe und Radio Liberty hatten zumindest die Ungarn geglaubt, die USA würden ihnen zur Hilfe kommen. Vor allem aber der Vietnamkrieg, Höhepunkt des globalen US-Engagements für die „freie Welt“ gegen den Kommunismus, zeigte, wohin ein idealistischer Ansatz in letzter Konsequenz führt. Das Massaker von My Lai 1968 zeigt, wie tragisch enden kann, was als wertgebundene Außenpolitik begann.

Knapp 40 Jahre später wurden diese Fehler wiederholt. Amerikanische Think Tanks (z.B. Carnegie, RAND) und Politiker propagierten die Idee „Democracy for the Greater Middle East“. Das war die neokonservative Antwort auf die furchtbaren Ereignisse von „9/11“. Ich fand das damals faszinierend. Ich erinnere mich bis heute an eine Harvard-Konferenz im Juni 2011, wo ich den „arabischen Frühling“ vehement begrüßte. Die Menschen in der arabischen Welt hätten das Recht darauf, neben islamistischem Extremismus und autoritären Regimen einen dritten Weg zu wählen: die liberale Demokratie. Ich erinnere mich noch heute an die skeptischen Reaktionen des Harvard-Professors Karl Kaiser und des ehemaligen SPD-Außenpolitikers Karsten Voigt: Demokratie-Export in Regionen, die von gänzlich anderen Traditionen und Werten geprägt seien, drohe zu scheitern.

Die beiden hatten so recht! Ob im Irak, in Syrien, in Libyen oder Afghanistan: Der Westen unter Führung der USA hat die Lage der Menschen in diesen Ländern – mit wenigen Ausnahmen wie der autonomen kurdischen Region im Nord-Irak – verschlimmert. Unzählige Menschen sind gestorben, wurden verstümmelt, gefoltert, vertrieben. Der Massenexodus der Syrer nach Europa 2015 oder die panikartige Flucht westlicher Soldaten aus Kabul 2021 zeigen eindringlich, wie guter Wille und hehre Motive sich in ihr Gegenteil verkehren können.

Erhalt des Friedens ist oberstes Ziel

Frau Ministerin, erlauben Sie mir aus der historischen Erfahrung – und der Einsicht in eigene frühere Fehleinschätzungen – fünf Thesen für eine wertegebundene, aber nicht selbstgerechte Außenpolitik:

1. Die Bewahrung des Friedens ist das erste Gebot einer wertegebundenen Außenpolitik. Der große Harvard-Professor Graham Allison vergleicht die zunehmende Konfrontation zwischen dem aufstrebenden China und dem „Platzhalter“ USA mit dem immer schärfer werdenden Wettbewerb zwischen Athen und Sparta: damals der Peloponnesische Krieg, heute ein dritter Weltkrieg, der über dem Luftraum von Taiwan beginnt? Sein Fazit aus dem historischen Vergleich: China und die USA sind „destined for war“ (für den Krieg bestimmt). Ist es aufgrund dieser Gefahr klug, immer weiter Öl ins Feuer zu gießen, etwa mit dem diplomatischen Boykott der Olympischen Spiele in Beijing? Oder wäre es nicht dringend geboten, die Möglichkeit der Spiele zu einer breiten diplomatischen Offensive zu nutzen? Eine wertegebundene Außenpolitik darf nicht beschwichtigen oder die brutale Unterdrückung der Uiguren verharmlosen. Aber sie ist vor allem auch dem Erhalt des Friedens verpflichtet. Sie sollte nicht in erster Linie mit schneidiger Rhetorik und Symbolik anklagen, sondern mit stiller Diplomatie konkrete Verbesserungen für die Menschen (z.B. die Lösung des Falles der Tennisspielerin Peng Shaun) erreichen. China ist bald die Weltmacht Nr.1. Wir müssen die Chinesen überzeugen, aber wir können sie nicht „bestrafen“ oder gar „in die Knie zwingen“. Es geht stattdessen um Interessenausgleich und diplomatische Konfliktlösung.

Und Russland? Wir sind zu Recht besorgt über den russischen Aufmarsch an der ukrainischen Grenze. Aber fällt uns nichts anderes als Drohungen ein? Müssen wir nicht die Spirale der gegenseitigen Beschuldigungen durchbrechen, der Debatte über immer neue Sanktionen ein neues konstruktives Angebot zu neuer Vertrauensbildung entgegensetzen? Ihr Vorschlag, dass Kiew und Moskau direkte Gespräche wieder aufnehmen sollten, geht in die richtige Richtung. Vielleicht mit der EU als Moderator, ähnlich wie bei der Verlängerung des Gastransitabkommens durch die Ukraine? – Oder wie wäre es zum Beispiel, in dieser Situation Russland eine breit angelegte Kooperation in der Klimapolitik anzubieten? Wind- und Solarprojekte, Energieeffizienz, Aufforstung, gemeinsame Wasserstoffprojekte. 1970 – mitten im Kalten Krieg – wurde das Erdgas-Röhrengeschäft mit der Sowjetunion abgeschlossen, das bis heute den Frieden in Europa stabilisiert. Die gleiche Funktion könnte nun eine langfristig angelegte klimapolitische Zusammenarbeit sein. Das steht sogar im Koalitionsvertrag. Und wer die letzten Reden Wladimir Putins liest, erkennt schnell, dass auch auf russischer Seite eine grundsätzliche Bereitschaft dafür besteht.

Kein Grund zu auftrumpfender Selbstgerechtigkeit

Liebe Frau Baerbock, finden Sie nicht auch, dass bei uns der Frieden zu selbstverständlich genommen wird? Vielleicht, weil nur noch wenige bei uns eine eigene Erinnerung an Bombennächte haben? In Wahrheit ist der Frieden bei uns und in vielen Teilen der Welt in hohem Maße bedroht. Ein Atomkrieg ist vielleicht die größte aller Bedrohungen – noch zerstörerischer als der Klimawandel! Nach wie vor stehen sich bis an die Zähne mit Nuklearwaffen ausgerüstete Länder in Europa und anderen Teilen der Welt gegenüber. Wie schnell kann ein Konflikt eskalieren, vielleicht auch ungewollt? Abrüstungs- und Rüstungskontrollregime sind zusammengebrochen, neuere und immer mörderische Waffen werden erfunden. Willy Brandt formulierte das wichtigste Postulat jeder wertgebundenen Außenpolitik: Der Frieden ist nicht alles, aber ohne den Frieden ist alles nichts.

2. Keine moralischen Kreuzzüge. Die Traditionen anderer Kulturkreise mögen uns oft fremd, rückständig und kritikwürdig erscheinen. Es ist erlaubt, oft sogar geboten, eigene Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen und dafür zu werben. Vor Übereifer im Gefühl moralischer Überlegenheit aber muss gewarnt werden. Andere, zum Teil ältere Zivilisationen oder Länder mit orthodoxen religiösen Überzeugungen lassen sich ungern bevormunden oder belehren. Eine wertegebundene Außenpolitik soll die Errungenschaften der europäischen Zivilisation hochhalten, aber der Westen hat keinen Grund zu auftrumpfender Selbstgerechtigkeit. Inquisition, Ausrottung der Indianer, Sklaverei, Kolonialismus, Holocaust, chemische Bomben auf Vietnam, Srebrenica oder Abu Ghraib – das alles ist nicht lange her. Mit welchem Recht fordern wir, die wir selbst Jahrhunderte zur Verankerung von Menschenrechten in Europa gebraucht haben, von anderen Kulturen die Einhaltung von Westminster-Standards hier und jetzt?

3. Einsicht in unsere begrenzten Möglichkeiten. Wer die ökonomische Basis bestimmt, der prägt auch den politischen Überbau (Karl Marx). Wie eindrucksvoll ist es eigentlich, wenn Deutschland die aufstrebenden Mächte auf der Welt mit erhobenem Zeigefinger belehrt? Angesichts der Zerstrittenheit, der relativ abnehmenden ökonomischen Stärke und der zunehmenden militärischen Schwäche Europas wirkt Menschenrechtskritik in der nichteuropäischen Welt oft als ärgerliche Einmischung in innere Angelegenheiten, hat aber selten eine verändernde Wirkung.

Wenn wir uns bei Menschenrechtsverletzungen in anderen Teilen der Welt nicht immer einmischen, hat das nichts mit mangelnder Anteilnahme am Schicksal anderer zu tun, sondern mit der Einsicht in die Grenzen unserer Möglichkeiten.

4. Neben Werten gibt es auch legitime Interessen. Mehr als jedes andere Land hängt Deutschland von einem erfolgreichen Außenhandel ab. Würden wir nur noch in Staaten mit lupenreiner Westminster-Demokratie liefern, würde das zum Verlust von unzähligen Arbeitsplätzen führen. Maschinenbau, Automobilindustrie und Zulieferer oder die Chemie – alles Schlüssel zu Wohlstand und Wachstum in Deutschland – hängen stark vom chinesischen Markt ab. So wird z.B. jeder zweite VW im „Reich der Mitte“ verkauft. Wir müssen unsere menschenrechtlichen Überzeugungen mit unseren lebenswichtigen Interessen ausbalancieren. Das gilt auch für Saudi-Arabien, für die Türkei, für Russland. Wenn z.B. die Vertreter des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft unter der Leitung der Chefs von Siemens und Knauf 2019 in Sotschi zusammenkommen, um mit Wladimir Putin zu sprechen, dann ist das kein „Treffen der Schande“, wie einige deutsche Kritiker bekundeten. Es geht vielmehr um gemeinsame Wirtschaftsprojekte im gegenseitigen Interesse, um Lieferungen von dringend benötigten Rohstoffen, um Export. Auch wenn es zutrifft, dass die Hoffnung auf „Wandel durch Handel“ in vielen Fällen gescheitert ist, so gilt nach wie vor: Große wirtschaftliche Projekte führen zu Kooperationen und friedensstiftenden Interdependenzen. Sie wirken vertrauensbildend und stabilisierend.

5. Menschenrechtspolitik beginnt zuhause. Bevor wir andere wegen Menschenrechtsverletzungen unter Druck setzen, sollten wir vor der eigenen europäischen Tür kehren. Die derzeitigen Regierungen in Ungarn und Polen etwa entfernen sich zunehmend von Geist und Buchstaben der europäischen Rechtsordnung. Die Verfassungsväter in den USA waren dagegen, Menschenrechte nach außen zu exportieren, vielmehr sollte Amerika als „City upon the Hill“ (John Winthrop) ein Beispiel für andere setzen. Etwas weniger predigen, aber durch das eigene Vorbild ein Leuchtfeuer der Menschenrechte auf der Welt sein – das ist neben der Friedenssicherung die Grundlage einer wertgebundenen Außenpolitik.

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