Österreich - Politik ohne Eigenschaften

Ibiza-Affäre, Regierungskrise und Schredder-Affäre. In unserem Nachbarland Österreich knirscht es mächtig im politischen Gebälk. Am 29. September sind Nationalratswahlen. Kann es Sebastian Kurz noch einmal schaffen? Eine Annäherung an das zeitgenössische Österreich in vier Punkten

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Sebastian Kurz könnte nach der kommenden Nationalratswahl erneut Kanzler werden / picture alliance
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Christoph Prantner ist leitender Redakteur im Meinungsressort der österreichischen Tageszeitung Der Standard

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I – SKANDAL & GESCHICHTE

Müde rührt einer der höchstrangigen Polizisten des österreichischen Sicherheitsapparats im Café Bräunerhof in seiner Melange. Es ist noch früh an diesem Sommertag und schon wieder unerträglich heiß. Als er den Löffel beiseitelegt, sagt er: „B’soffene und Kinder sagen die Wahrheit. Wer immer das Video gemacht hat, es ändert nichts am skandalösen Inhalt.“ Später wird der Mann über eine verborgene Passage hinter der Hofreitschule auf den Michaelerplatz verschwinden und in Richtung Herrengasse gehen. Ins Ministerium, sagt er und lächelt, als ob er sich selbst ein wenig aufmuntern müsste.

Skandalös ist das, was auf Ibiza im Juli 2017 geschah, in der Tat. In dem in einer gemieteten Villa aufgezeichneten Video signalisiert der damalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache seine Bereitschaft, die Interessen der Republik hinter jene einer vorgeblichen russischen Oligarchennichte zu stellen, sofern diese der Freiheitlichen Partei ausreichend Geld für deren Dienste zukommen lässt. Zu dieser Unverfrorenheit on the rocks wird massig Wodka-Red Bull gereicht und irgendwann auch „psychotrope Substanzen“. Das wird Straches kongenialer Kompagnon in der Politschmiere, Johann „Des is ka Falle!“ Gudenus, später einräumen. Aber auch ohne bewusstseinsverändernde Mittel ist die FPÖ gerne freundlich zu „schoafen“ Russinnen und auch Russen. Kurz vor Weihnachten 2016 hat sie in Moskau einen fünf Jahre gültigen Freundschaftsvertrag mit der kreml­freundlichen Partei Einiges Russland unterzeichnet, die wiederum Wladimir Putin unterstützt.

Als Spiegel und Süddeutsche Zeitung wenige Tage vor den Europawahlen Auszüge der Aufnahmen veröffentlichen, ist sofort klar: Ob „b’soffene Gschicht“ (Strache) oder nicht, das geht sich selbst in Österreich nicht mehr aus. In einer tränenreichen Abschiedspressekonferenz legt Strache, inzwischen auch Vizekanzler der Republik, Parteifunktion und Amt nieder. Die Koalition aus der konservativen ÖVP unter Bundeskanzler Sebastian Kurz und der rechtspopulistischen FPÖ platzt. Norbert Hofer, einer der versiertesten Netter-Schwiegersohn-Darsteller Österreichs und vormals Infrastrukturminister, übernimmt die Partei. Herbert Kickl, der verkniffene FPÖ-Ideologe und Ex-Innenminister mit biblischem Hass auf Sebastian Kurz, wird Fraktionschef. Sie sind nun die Achsen, zwischen denen sich das neue Parteikoordinatensystem ausrollt.

Bei der Europawahl gibt es statt der erwarteten Vernichtung für die FPÖ eine milde Wählerwatschen. Statt 19,7 Prozent wie beim letzten Mal werden es 17,2 Prozent Zustimmung. Die freiheitliche Stammwählerschaft hält zu ihrer Partei. Heinz-Christian Strache selbst erringt, tatkräftig unterstützt durch eine Kampagne des unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehenden Chefs der rechtsextremen Identitären-Bewegung Martin Sellner, ein Direktmandat für das EU-Parlament. Darauf wird er später verzichten – und zwar just zu dem Zeitpunkt, als bekannt wird, dass Ehefrau und FPÖ-Tierschutzsprecherin Philippa Strache auf einem sicheren Listenplatz der Partei in Wien bei der kommenden Nationalratswahl im Herbst kandidieren wird.

Ein „politischer Anschlag“?

Politisch mag es in Österreich also kurz gebebt haben. Moralisch hingegen wähnen sich die FPÖ und vor allem deren ehemaliger Vorsitzender Heinz-Christian Strache nur wenige Wochen nach dem Aufkommen der Affäre aus dem Schneider: Das Video sei ein „politischer Anschlag“ gewesen, er das Opfer. Im Gegensatz zu Johann Gudenus tritt er nicht aus der Partei aus. Und auch die FPÖ schließt ihren Ex-Chef nicht aus. Ein Come­back scheint nicht nur möglich, sondern auch erwünscht – vielleicht schon bei der Wiener Landtags- und Gemeinderatswahl 2020.

Die juristische Aufarbeitung der Sache kommt zunächst nur äußerst schleppend voran; auch weil Staatsanwaltschaft und Polizei nicht im Besitz des gesamten Videomaterials sind. Es unterliegt dem Redaktionsgeheimnis und wird von SZ und Spiegel nicht herausgegeben. Als Auftraggeber des Videos gilt ein Wiener Anwalt. Über dessen Motive gibt es blühende Spekulationen, die von erpresserischer Geldgier bis zum Versuch politischer Einflussnahme reichen. Immer wieder fällt auch der Name des amerikanisch-israelischen Politikberaters Tal Silberstein, der akkurat zum Zeitpunkt der Videoaufzeichnung für die österreichischen Sozialdemokraten gearbeitet und antisemitisch grundiertes Dirty Campaigning gegen den damaligen Spitzenkandidaten der ÖVP, Sebastian Kurz, versucht hat.

Durchgeführt haben sollen die Ibiza-Aktion ein fragwürdig beleumundeter Wiener Privatdetektiv und mehrere Helfer. Gegen die Männer ermittelt die Wiener Staatsanwaltschaft. Auch gegen Strache und Gudenus laufen Ermittlungsverfahren – wegen des Verdachts auf Untreue. Die Juristen streiten sich, ob sich aus dem Videomaterial ein gerichtsfester Tatbestand konstruieren lässt. Erst Mitte Juli wird bekannt, dass die Wiener Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft nicht nur gegen die FPÖ wegen verdeckter Parteienfinanzierung ermittelt, sondern auch gegen ÖVP und SPÖ. Die Behauptung Straches soll überprüft werden, ob der Glücksspielkonzern Novomatic, die Waffenschmiede Glock und der Immobilieninvestor René Benko die Parteien über Vereinskonstruktionen illegal unterstützt haben. Alle drei Genannten haben dies dementiert.

Für den österreichischen Bauindustriellen Hans Peter Haselsteiner ist – zumindest, was die FPÖ betrifft – aber auch ohne Gerichtsverfahren klar, dass die Partei seit jeher unter einem „moralischen Defekt“ leide. Unter anderem deswegen hat er sich in den neunziger Jahren von Jörg Haider losgesagt und eine liberale Abspaltung der FPÖ finanziert. Heute steht er hinter den Neos, einer ebenfalls liberalen Parlamentspartei. Als Beleg für Haselsteiners Behauptung mag gelten, dass noch immer Gerichtsverfahren um Korruptionsvorwürfe aus der ersten schwarz-blauen Regierung unter Wolfgang Schüssel und Jörg Haider (2000 bis 2007) laufen. In deren Zentrum: Haiders politischer Ziehsohn, der damalige Finanzminister Karl-Heinz Grasser. Das hässliche Wort der „Skandalrepublik“ ist noch nicht ganz ver­klungen, da ist schon eine neue, abenteuerliche Skandalgeschichte eingeschlagen in Österreich.

II – TECHNIK & MACHT

Eigentlich hatte Alexander Van der Bellen die Sache anders angelegt. Ziemlich genau 24 Stunden, nachdem Ausschnitte aus dem Ibiza-Film das Ende der türkis-blauen Koalition und das Ausscheiden der FPÖ-Minister aus der Regierung besiegelt hatten, bat der Bundespräsident die Parteichefs zu sich in die Hofburg. Stabilität, ein Begriff, der in der österreichischen Nationalfolklore gleich hinter Neutralität und Sachertorte rangiert, soll signalisiert werden. Also wendet sich der Präsident im Fernsehen an die Bürger und bemerkt entschuldigend im Namen der Politiker: „Wir sind nicht so.“ Wenig später vereidigt er vier Übergangsminister, die bis zu einer möglichst bald anzusetzenden Neuwahl unter Bundeskanzler Kurz die Geschäfte fortführen sollen.

Das Parlament allerdings fährt Van der Bellen in die Parade. Die SPÖ bringt einen Misstrauensantrag gegen Kurz ein, die FPÖ und die linkspopulistische Liste Jetzt stimmen mit. Erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik wird ein Bundeskanzler abgewählt. Von wegen Stabilität – nun macht das bisher unerhörte Wort „Staatskrise“ Schlagzeilen. Manche wähnen sich bereits in italienischen Verhältnissen angekommen, und der Bundespräsident muss die Situation tatsächlich all’italiana lösen: Anfang Juni gelobt er ein Expertenkabinett unter der ehemaligen Höchstrichterin Brigitte Bierlein an, das überwiegend aus Spitzenbeamten der Ministerien besteht. 

Begeisterung für Technikerregierung hat nachgelassen

Die Macht ist „Technikern“ übergeben, ein großer Teil der Öffentlichkeit jubelt: Ein Hoch auf die Experten, endlich keine Politiker mehr sehen müssen, so könne es ruhig bleiben. Eine seltsame, fast kindische Sehnsucht nach politischer Perfektion grassiert in Österreich. Dass diese Experten nicht demokratisch gewählt sind, per definitionem verwalten und keine weitreichenden politischen Entscheidungen treffen sollen und überdies mit einem Budgetprovisorium arbeiten müssen, dämmert allmählich aber auch hoffnungsfrohen linken Zirkeln in Wien. Inzwischen hat die Begeisterung für die Technikerregierung deutlich nachgelassen.

Das mag am quasi institutionalisierten Gleichmut der Sommerferien liegen. Vor allem aber hat es mit dem Umstand zu tun, dass das Kabinett Bierlein eigentlich nur in EU-Angelegenheiten substanzielle Weichenstellungen vornehmen muss: Dazu gehört die unlängst erfolgte Besetzung der Spitzenjobs in der Union und bei der EZB. Außerdem muss die Frage entschieden werden, wer in den kommenden fünf Jahren österreichischer EU-Kommissar sein soll. Der Brexit ist zu bewältigen. Und vor allem gilt es im Herbst, wenn die entscheidende Phase in den Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen der EU anläuft, eine konsistente österreichische Position in der Frage zu haben.

Auch wenn der eine oder andere Expertenminister mitunter ein Steckenpferd durch den Wiener Regierungsbezirk reitet, bilanziert der Bundespräsident unlängst die ungewohnte politische Übung positiv. Eine drohende „Vertrauenskrise“ sei abgewendet, sagt er. Und: „Ich bin schon ein bisschen stolz darauf, wie wir das hingekriegt haben.“

III – KRAFT & SPIELE

Im Nationalrat wird währenddessen kräftig an der Sollseite der Bilanz gearbeitet. Die Regierung enthält sich ihres Initiativrechts, Gesetze machen neuerdings ausschließlich die 183 Parlamentarier in Österreich. Die Parteien geben sich dabei dem „freien Spiel der Kräfte“ hin und beschließen mit wechselnden Mehrheiten, was ihnen gerade opportun erscheint. Ob das auch gut für das Land ist, bleibt eine nachgeordnete Frage. Hauptsache, die jeweils eigene Klientel freut sich. Und noch besser: Die anderen ärgern sich.

Im letzten Plenum vor der Sommerpause Anfang Juli geht es munter hin und her, nicht weniger als 30 Gesetzesbeschlüsse werden gefasst: ÖVP, SPÖ, Neos und die Liste Jetzt beschließen das absolute Rauchverbot in Gasthäusern gegen eine einsame FPÖ. Die wiederum revanchiert sich mit SPÖ, Neos und Liste Jetzt beim ehemaligen Koalitionspartner mit einem Verbot des Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat ab 2020, das eine Kernklientel der ÖVP, die Bauern, hart trifft.

Auf die seit dem Amtsantritt von Sebastian Kurz reich von Großspendern bedachte ÖVP zielt auch die Reform der Parteispendenregelungen, die eine sehr niedrige Obergrenze pro jeweiligem Spender und pro Partei einzieht. Die Vereinskonstruktionen im Vorfeld von FPÖ und SPÖ, über die ebenfalls Gelder an die Parteien fließen, blieben dagegen ausgenommen. Drei Tage vor Inkrafttreten des Gesetzes sieht sich deshalb auch Bau-Tycoon Haselsteiner genötigt, den Neos noch einmal schnell 300.000 Euro für den Wahlkampf zuzuschießen.

Sommerschlussverkauf der Gesetzesbeschlüsse

Überdies wird die Mindestpension nach 40 Arbeitsjahren auf 1.200 Euro netto angehoben, das Pflegegeld angepasst, ein verbindlicher Anspruch auf einen Vatermonat eingeführt und dergleichen mehr. Was das alles kostet, weiß niemand so genau. Das Finanzministerium schätzt den außerplanmäßigen Finanzbedarf durch die Wiener Freistilpolitik, die Wagemutige gern als eine „Sternstunde des Parlamentarismus“ bezeichnen, in den nächsten vier Jahren auf bis zu 1,1 Milliarden Euro. 

Wenige Tage vor der Neuwahl am 29. September steht eine weitere Nationalratssitzung auf dem Programm. Auf deren Tagesordnung stehen weitere 36 Gesetzesvorhaben, etliche davon nennt man in Österreich nicht ohne Grund „Wahlzuckerln“. Schon einmal allerdings wurde relativ schnell klar, dass diese Bonbons üblicherweise einen sauren Nachgeschmack haben. In der Nacht vom 24. zum 25. September 2008 beschlossen „bunte Mehrheiten“ unmittelbar vor den Parlamentswahlen 25 Gesetze, die seither mit insgesamt rund 40 Milliarden Euro ins Steuerzahlerkontor geschlagen haben. Unter anderem die Pensionen wurden damals in der 19-stündigen „Sitzung der ungedeckten Schecks“ um 3,4 Prozent erhöht, Steuern gesenkt und Studiengebühren abgeschafft. 

Bundespräsident Van der Bellen sah sich zuletzt verpflichtet, die Parlamentarier an diese ominöse und teure Nacht zu erinnern: „Kräfte schon, aber Spiel ist das keines.“

IV – KONFLIKT & KONSENS

Bis zum 29. September, dem Neuwahltermin, ist es gemäß einer österreichischen Redensart noch ein breiter Weg. Der Wahlkampf, das fürchten alle, wird noch schmutziger werden als ohnehin schon üblich. In unzähligen, von verschiedenen Fernsehstationen übertragenen Sommergesprächen werden die Spitzenkandidaten der Parteien ebenso unzählige Belanglosigkeiten von sich geben. Die Verbitterung, Unversöhnlichkeit und Polarisierung in der Gesellschaft werden zunehmen, Österreich wird ein weiteres Stück des Weges von der Konsens- in die Konfliktdemokratie zurücklegen.

„Halt! Das mag realpolitisch stimmen, verfassungspolitisch trifft es allerdings nicht zu. Wir haben ein Verhältniswahlrecht, das zu Koalitionen zwingt“, wirft Peter Filzmaier ein. Er ist Professor für Demokratiestudien und Politikforschung an der Donau-Universität Krems und für Politische Kommunikation an der Uni Graz. Wenn es Wahlen gibt, fungiert der hagere 51-Jährige als eine Art oberster Politikerklärer der Nation. Was laut dem Professor aber nicht zu leugnen ist: Die lange Jahrzehnte eher belanglosen Ränder des politischen Spektrums haben sich inzwischen verfestigt, die Fronten in der Debatte haben sich verhärtet.

„Das erste Mal hat sich das bei der Präsidentschaftswahl 2016 zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer deutlich gezeigt“, sagt Filzmaier. Diese Verhärtung sei auch einer der Gründe dafür, dass die FPÖ selbst nach dem Ibiza-Skandal beinahe ungeschoren davonkommt. Als zweite Ursache macht der Politologe eine allgemeine Stimmung in einer Bevölkerung aus, welche „die da oben“ allesamt als gleichermaßen korrupt ansieht. Alle drei großen Parteien – ÖVP, FPÖ und SPÖ – stünden unter diesem Generalverdacht. Die Wähler erwarteten sich gar nichts anderes von ihnen.

Stabile Umfragewerte

Auch deswegen zeigen die Meinungsumfragen seit Anfang Juni ein relativ stabiles Bild im österreichischen Wählermarkt: Die ÖVP liegt in sechs veröffentlichten Befragungen zwischen 36 und 38 Prozent Zustimmung, die SPÖ zwischen 20 und 22 Prozent, die FPÖ zwischen 18 und 21 Prozent, Grüne und Neos jeweils um die 10 Prozent. Konservative und Liberale würden demgemäß einige Punkte zulegen, Sozialdemokraten und Freiheitliche etwas verlieren, die Grünen wieder ins Parlament einziehen.

„Unter normalen Umständen ist der Vorsprung von Sebastian Kurz nicht mehr einzuholen“, erklärt Peter Filzmaier. Denn die Wahlbeteiligung in Österreich sei mit rund 80 Prozent bereits relativ hoch, aus dem Nichtwählerlager sei für die Parteien wenig zu holen. Und das, was es umzuverteilen gebe, sei bereits weitgehend umverteilt: Die ÖVP erhält Zulauf von enttäuschten FPÖlern. Die Grünen holen sich ihre Wähler, die sie 2017 verloren haben, von der SPÖ zurück. Daran werden auch die bisher diskutierten Wahlkampfthemen Umwelt, Soziales, Migration und Europa wenig verschieben.

Koalitionen kommen nach dem 29. September in Wien einige infrage: Es kann durchaus wieder zu einem türkis-blauen Pakt (minus Ex-Innenminister Herbert Kickl) kommen. Filzmaier: „Das birgt ein gewisses Risiko für Sebastian Kurz, denn ein zweites Mal kann er nicht behaupten, er habe sich in der FPÖ getäuscht.“ Etwas unwahrscheinlicher ist ein Comeback der vormals ewigen Großen Koalition aus ÖVP und SPÖ, weil sich die sozialdemokratische Parteichefin Pamela Rendi-Wagner persönlich bereits darauf festgelegt hat, nicht mit Kurz zusammenzuarbeiten. Eine schwarz-grüne Koalition und eine Regierung aus ÖVP und Neos dagegen hängt davon ab, ob die jeweiligen Partner gemeinsam auf 48 Prozent der Stimmen kommen – das würde reichen für eine Mehrheit an Mandaten. Auch Dreierkonstellationen wären denkbar, aber deutlich schwieriger zu realisieren.

Österreich muss sich positionieren

„Kakaniens Regierungsgrundsatz war das Sowohl-als-auch oder noch lieber mit weisester Mäßigung das Weder-noch“, schrieb Robert Musil in den zwanziger Jahren auf seinem Berliner Beobachterposten mit Blick auf seine Heimat. An diesem Regierungsstil hat sich in Wien über die Jahrzehnte nichts Wesentliches geändert. Die Sozialpartnerschaft hat die Österreicher mit dem Sowohl-als-auch nach dem Krieg wohlhabend gemacht. Die Große Koalition aus SPÖ und ÖVP hat sich dem Weder-noch ergeben, weil sich die Parteien zunehmend auf weniger einigen konnten. Die drängende Frage heute ist, welche Zukunft die kleine, offene Volkswirtschaft mitten in Europa für sich formuliert.

Das Narrativ des Brückenbauers Österreich, des Transmissionsriemens zwischen Ost und West, hat sich über die Jahre abgenutzt. Das Land, das über nicht viel mehr Ressourcen verfügt als die schöne Landschaft und das Hirnschmalz seiner Einwohner, muss sich in einer globalisierten Welt positionieren. Was ist das Projekt Österreich im 21. Jahrhundert? Viele gelernte Österreicher (siehe Meinungsumfragen oben) wissen, dass sie von einer überwiegend auf Polit-Marketing bedachten ÖVP, einer inhaltlich sklerotischen SPÖ und der Ibiza-FPÖ in dieser Frage eher wenig zu erwarten haben. Politik ohne Eigenschaften gewissermaßen.

Aber es wäre nicht Österreich, ginge nicht doch immer ein bisserl was. Oder, um es noch einmal mit Robert Musil zu sagen: „Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt.“

 

Dieser Text erschien in der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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