Pro und Contra: Nord Stream 2 doch noch öffnen? - Contra: Wolfgang Kubickis Tabubruch ist wichtig, aber führt in die Irre

Damit Deutschland gut durch den Winter kommt, will FDP-Politiker Wolfgang Kubicki die Ostseepipeline Nord Stream 2 doch noch in Betrieb nehmen. Sein Vorstoß stieß auf Entrüstung - vor allem auch in der eigenen Partei. Doch liegt er wirklich so falsch? In einem grundlegenden Punkt hat Kubicki zwar recht. Doch die Pipelineöffnung kann trotzdem keine Option sein.

Mit Moral lässt sich nicht heizen: FDP-Spitzenpolitiker Wolfgang Kubicki legt den Finger in die richtige Wunde / dpa
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Bei all den aufgebrachten, teils harschen Reaktionen, die übers Wochenende auf Wolfgangs Kubickis Nord-Stream-2-Tabubruch folgten, wird klar: Das Enfant terrible der FDP hat einen wunden Punkt getroffen. Denn die derzeitige deutsche Russlandpolitik ist nicht frei von Widersprüchen. Auf der einen Seite lehnt die Bundesregierung ein Embargo gegenüber Putins Staatskonzern Gazprom ab und will, dass möglichst bald wieder möglichst viel russisches Erdgas durch die deutsch-russische Pipeline Nord Stream 1 fließt. Auf der anderen Seite gilt es aber als politische Todsünde, auch nur darüber nachzudenken, ob die parallel laufende Pipeline Nord Stream 2 doch noch in Betrieb genommen werden könnte. In sich logisch ist diese Haltung nicht.

Darauf hat Kubicki hingewiesen. Er ist einer der drei stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Liberalen und bekannt dafür, keine allzu große Rücksicht auf politische Tabus oder die aktuelle Parteiräson zu nehmen. In einem am Freitag veröffentlichten Beitrag des Redaktionsnetzwerks Deutschland sprach er sich für die Öffnung der Ostseepipeline Nord Stream 2 aus, um die deutschen Gasspeicher für den anstehenden Winter zu füllen. Andere Spitzenpolitiker der FDP bemühten sich sofort, Kubickis Forderung als irrelevante Meinung eines Einzelgängers darzustellen. Auch von etlichen Journalisten wurde der FDP-Querkopf angegangen und als Putins „nützlicher Idiot“ beschimpft.

Sinnbild des Scheiterns

In einem Gastbeitrag für die Welt am Sonntag legte Kubicki seine Argumente daraufhin ausführlich dar. „Ein Gas-Embargo unsererseits wäre derzeit unverantwortlich“, schreibt er und liegt damit auf Regierungslinie. Doch dann legt Kubicki den Finger in die Wunde: „Wer mir insoweit folgt, der wird schwer erklären können, warum wir eine Pipeline geschlossen halten, während wir für die Nord-Stream-1-Turbine sogar Ausnahmeregelungen von den Sanktionen erwirken. Natürlich sind die technischen Probleme bei Nord Stream 1 vorgeschoben. Aber warum machen wir es dem Kreml so leicht, damit durchzukommen?“

Gazprom hat die Lieferung durch Nord Stream 1 auf 20 Prozent gedrosselt. Die russische Behauptung, dies habe technische Ursachen, glaubt in Deutschland kaum jemand. Putin spielt mit uns. Er nutzt jene Abhängigkeit aus, vor der unsere Verbündeten dies- und jenseits des Atlantiks seit Jahren gewarnt haben und dabei von deutschen Spitzenpolitikern auf arrogante Weise übergangen wurden. Das kurz vor seiner Inbetriebnahme gestoppte Pipelineprojekt Nord Stream 2 steht genau dafür. Es ist ein Sinnbild des Scheiterns deutscher Überheblichkeit und sicherheitspolitischer Naivität.

Putin als Bluffer entlarven

Kubicki blendet diesen Kontext aus und betrachtet die Lage wie am Pokertisch: Wenn Putin blufft, dann machen wir ihm diesen Bluff kaputt, indem wir ihn zwingen, seine Karten auf den Tisch zu legen. „Wenn Nord Stream 2 offen ist und trotzdem kein Gas kommt, wird die planvolle Schwächung unserer Volkswirtschaft durch Putin für den letzten Zweifler offenbar werden“, schreibt der FDP-Politiker. „Wenn aber Gas fließt, machen wir unsere Speicher voll und konzentrieren uns auf die Herkulesaufgabe der nächsten Monate: die schnellstmögliche Unabhängigkeit von russischem Gas. Und dann können wir alle Leitungen dichtmachen.“

Wirtschaftsminister Robert Habeck erteilte dieser Idee eine Abfuhr. Beim Tag der offenen Tür seines Ministeriums sagte er am Sonntag: „In diesem Fall, meine ich, wäre der ohne Frage kurzfristige Gewinn – Nord Stream 2 öffnen, Gas nehmen, besser über den Winter kommen – ein dramatischer politischer Fehlschlag, weil wir damit jedes Selbstbewusstsein, jede wertegeleitete Einstellung, jede Haltung gegenüber Putin mit den Füßen treten würden.“ 

Das klingt zwar gut. Nur können Werte und Haltung keine warme Heizung ersetzen. Und der von Kubicki treffend herausgearbeitete Grundwiderspruch bleibt: Warum gelten diese Werte nur für Gas, das über eine bestimmte Röhre kommt beziehungsweise nicht kommt?

Der Wut-Winter droht

Es ist wichtig, darüber offen und sachlich zu diskutieren. Denn solche Fragen werden in der breiten Bevölkerung bereits jetzt gestellt. Und wenn in der kommenden kalten Jahreszeit das Gas wirklich knapp wird, ist der Wut-Winter abzusehen. Wolfgang Kubickis Argumente mit dem Verweis auf eine vermeintlich höhere Moral abzutun, ist daher falsch. Stattdessen gilt es, sich realpolitisch abwägend mit ihnen auseinanderzusetzen: Welcher drohende Schaden steht welchem möglichen Nutzen gegenüber?

Im ersten Szenario – Nord Stream 2 wird geöffnet, aber es fließt trotzdem zu wenig Gas – liegt der Nutzen laut Kubicki darin, dass der Pokerspieler Putin als Bluffer enttarnt wäre. Nur was wäre dadurch gewonnen? Nichts. Denn wer im Westen jetzt noch ernsthaft daran zweifelt, dass der Kriegsherr im Kreml seine Pipelines als Erpressungsmittel einsetzt, würde sicher auch einer neuen Propagandalüge Glauben schenken. Nicht Putin würde in einem solchen Fall als Verlierer dastehen, sondern Deutschland, das dessen Druck nachgegeben und sich erneut über die Bedenken wichtiger Nato-Partner hinweggesetzt hat – und trotzdem friert.

Der politische Schaden hingegen wäre enorm: Die Bundesrepublik hätte sich vollends isoliert, der Westen wäre gespalten. Genau das, was Putin mit seinen Pipelinespielchen erreichen will.

Pipelines als Erpressungsmittel

Das zweite Szenario – dank Nord Stream 2 fließt das russische Gas wieder in Strömen – hätte innenpolitisch und wirtschaftlich tatsächlich große Vorteile. Duschverbot, Waschlappenpflicht, kalte Wohnungen und stillgelegte Fabriken wären erstmal vom Tisch, der Wut-Winter abgesagt. Der außenpolitische Schaden wäre allerdings mindestens genauso groß wie in Szenario 1. Zumal sich Kubickis Plan ohne weitere Zugeständnisse an Putin nicht wird realisieren lassen. Russlands Präsident wird Nord Stream 2 genauso als Erpressungsmittel nutzen, um Deutschland von einer entschlossenen Unterstützung der Ukraine abzuhalten, wie er es jetzt mit deren älterer Schwester-Pipeline Nord Stream 1 tut.

Beide Gasleitungen wurden gebaut, um die Ukraine und Polen als Transitländer zu umgehen. Aus deutscher und russischer Sicht hatte das natürlich Vorteile, in Mittel- und Osteuropa sowie in den USA sah man hingegen die sicherheitspolitischen Risiken. Russlands Überfall auf die Ukraine zeigte schmerzlich, dass diese Risiken real sind. Als Reaktion darauf, Nord Stream 2 jetzt doch noch zu öffnen, wäre ein erneuter deutscher Alleingang, der die Nato-Partner vor den Kopf stoßen und das westliche Bündnis gefährden würde.

Putin könnte Gas durch Ukraine liefern

Es gibt eine andere Möglichkeit, Putins Nord-Stream-1-Drosselung als Bluff zu entlarven: Deutschland könnte ihn auffordern, das Gas über die Ukraine zu liefern. Laut „Vereinigung der Fernleitungsnetzbetreiber Gas“ gibt es auf dieser Route aktuell noch freie Kapazitäten. Sie wurde „in den letzten Jahren und wird auch derzeit für die Versorgung von Süd- und Süd-Ost-Europa mit russischem Gas genutzt“, teilte der Verband auf Nachfrage mit. „Technisch betrachtet, könnte Deutschland (so wie vor der Inbetriebnahme von Nord Stream 1) auch über die Ukraine mit russischem Gas versorgt werden. Aktuell fließt aber kein russisches Gas über die ukrainische Transitroute (über Slowakei) nach Deutschland.“

Und noch wichtiger: Statt um Moral und Haltung sollte sich Wirtschaftsminister Robert Habeck jetzt endlich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln darum kümmern, dass Deutschlands Energieversorgung sicher bleibt. Kernkraft und Schiefergas-Fracking gehören dazu.  

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