Nato und EU - Warum Europa auch Krieg können muss

Immer wieder fordern die USA die anderen Nato-Staaten auf, mehr in ihre Verteidigung zu investieren. Tatsächlich konnte sich Europa lange einen pazifistischen Sonderweg erlauben. Aber die Umstände haben sich geändert. Will die EU zukunftsfähig sein, muss sie auch ihre Befähigung zum Krieg wiederherstellen

Sind die europäischen Staaten mitlitärisch zu schlecht aufgestellt? / picture alliance
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Florian Keisinger ist Historiker und arbeitet nach Stationen im öffentlichen Dienst seit sechs Jahren für Airbus.

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Die politische Ordnung des heutigen Europas ist eine Kriegsgeburt. Dasselbe gilt für fast alle Staaten der EU. Lediglich drei europäische Nationalstaatsgründungen erfolgten ohne Kriege: Die friedliche Trennung Norwegens von Schweden 1905, die Loslösung Islands von Dänemark 1918, und schließlich die gewaltfreie Aufteilung der Tschechoslowakei 1992 in Tschechien und die Slowakei. Alle übrigen europäischen Staaten sind aus Kriegen hervorgegangen, wobei sich deren Dauer wie auch die daran geknüpften Gewalterfahrungen zum Teil signifikant unterschieden; vom nur wenige Tage währenden Schweizer Sonderbundskrieg 1847 mit seinen 93 getöteten Soldaten, bis hin zu den über mehrere Jahrzehnte ausgetragenen und extrem gewaltintensiven Nationsbildungskriegen in Südosteuropa, in deren Verlauf nicht nur hunderttausende Soldaten starben, sondern auch die Zivilbevölkerungen maßgeblich in Mitleidenschaft gezogen wurden.  

Europas Kriege haben somit den Kontinent geprägt wie kein anderer Faktor. Sie haben ihm sein heutiges Gesicht verliehen, auch wenn wir diese Erkenntnis aufgrund der mittlerweile seit über sieben Jahrzehnten andauernden europäischen Friedenserfahrung – von den Kriegen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens einmal abgesehen – gerne ausblenden. Der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche hat über den Krieg als den großen – vermutlich größten – Gestalter unserer modernen Weltordnung ein extrem lesenswertes und zum Weiterdenken anregendes Buch geschrieben (Der gewaltsame Lehrer: Europas Kriege in der Moderne, C.H. Beck 2019).  

Europas pazifistischer Sonderweg

Auch auf eine zweite Tatsache, die wir gerne verdrängen, wird darin verwiesen. Nämlich dass es sich bei der Befähigung zum Krieg um ein maßgebliches Kriterium moderner Staatlichkeit handelte – und in den meisten Ländern der Welt bis heute handelt. Nationalstaaten konnten sich in der Geschichte nur dann etablieren und langfristig behaupten, wenn sie über entsprechende militärische Fähigkeiten verfügten; Revolutionen waren nur dann erfolgreich, wenn die Revolutionäre es vermochten, Kriege zu führen und auch zu gewinnen. Das Ende des Sowjetimperiums 1989/90 war die große historische Ausnahme. Bis dahin war die Auflösung von Großreichen immer kriegerisch verlaufen.

Die Wahrnehmung des Krieges als dem großen Zukunftsgestalter endete mit dem Zweiten Weltkrieg. Auch darauf verweist Langewiesche in seinem Buch. Allerdings, so muss man hinzufügen, gilt diese Feststellung nur für Europa. In anderen Teilen der Welt wollte (und will) man auf den Krieg als politisches Instrument auch weiterhin nicht verzichten. In Europa hingegen beschritt man mit der Erfindung der Europäischen Union einen präzedenzlosen historischen Sonderweg. Man versuchte, die jahrhundertalte europäische Kriegsgeschichte zu beenden, indem man den Nationalstaat in eine überstaatliche Ordnung einfügte, in der die Konfliktregelung durch Krieg kategorisch ausgeschlossen ist. Lediglich humanistische Interventionen, eingebettet in den Nato-Verbund und mit UN-Mandat, gelten noch als zulässig, wenngleich auch sie – vor allem in Deutschland – kontrovers diskutiert werden. Mit diesem Modell entwickelte sich Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem einzigartigen Laboratorium der pazifistischen Moderne, mit noch offenem Ausgang.

Veränderte Umstände

Ermöglicht wurde dieser europäische Sonderweg allerdings durch zwei Voraussetzungen, die heute nicht mehr bzw. nur noch eingeschränkt gelten: Zum einen die weitreichende Schutzfunktion, welche die USA für Europa übernahmen; zum anderen die bilaterale Ordnung des Kalten Krieges, in der Europa auf der Weltbühne keine nennenswerte Rolle einnahm und das auch nicht erwartet wurde. 

Beide Rahmenbedingungen haben sich mittlerweile grundlegend gewandelt. Die USA sind es zunehmend leid, ihre militärische Schutzfunktion für den Rest der westlichen Welt wahrzunehmen. Zudem sind seit 1990 neue weltpolitische Player auf den Plan getreten, worunter vor allem China unverhohlen seinen globalen Machtanspruch geltend macht. In anderen Worten, wie erleben einen tiefgreifenden Wandel im weltpolitischen Koordinatensystem, der eine Anpassung der europäischen Positionierung erfordert, vorausgesetzt, Europa will bei der künftigen Gestaltung des Weltgeschehens noch ein Wörtchen mitreden.

Und ob uns das gefällt oder nicht: Die Fähigkeit zur Verteidigung sowie zur eigenständigen humanitären Intervention im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik – einem Angriffskrieg, wie er in früheren Jahrhunderten zum selbstverständlichen Portfolio des Nationalstaates gehörte, wird heute hoffentlich niemand in Europa mehr das Wort reden – wird in diesem Koordinatensystem eine wichtige Rolle spielen. Gilt sie doch in fast allen Ländern außerhalb Europas unverändert als Ausweis staatlicher Modernität. An dieser historischen Konstante hat sich trotz des europäischen Sonderwegs nach 1945 kaum etwas geändert, wobei sich dieses Credo nicht allein auf aufstrebende weltpolitische Akteure wie China, Indien oder Russland beschränkt, sondern auch westliche Staaten wie die USA oder Israel einschließt.

Kein Bruch mit bisheriger Politik

Die globale Ordnung des 21. Jahrhundert wird aller Voraussicht nach mehr Gemeinsamkeiten mit dem 19. Jahrhundert als dem 20. Jahrhundert aufweisen. Die Bedeutung von Bündnissen wird zunehmen, wenngleich anders als im 19. Jahrhundert nicht mehr auf Europa beschränkt, sondern die ganze Welt umfassend. Einzelne Staaten oder Staatenverbünde mit gemeinsamen Werten, Positionen oder Interessen werden sich zusammenschließen, wobei die Fähigkeit zum Krieg eine wichtige Voraussetzung für  die gestalterische Teilhabe an diesen Allianzen sein wird.

Für Europa bedeutet diese Entwicklung keineswegs einen Bruch mit seiner bisherigen Politik der Kriegsvermeidung. Im Gegenteil, selbst eine bislang nicht herbeigeführte Abkehr von der nationalstaatlichen Fähigkeit zum Krieg wäre denkbar. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sich Europa als Ganzes zu einem Akteur entwickelt, der zum Krieg in der Lage ist und notfalls auch willens, dies unter Beweis zu stellen. Erst mit Nachweis dieser Fähigkeit ist es denkbar, den Krieg eines Tages vollständig in die Kompetenz der EU zu legen und damit dauerhaft von der nationalstaatlichen Ebene abzutrennen. Kann man sich einen eindrucksvolleren und nachhaltigeren Ausstieg Europas aus seiner eigenen Kriegsgeschichte vorstellen? „Zu dem Kriegsverbot im europäischen Staatsraum träte der Verzicht aller europäischen Nationalstaaten […] nach außen als ein einzelner Staat Krieg zu führen“, heißt es dazu in Langewiesches Buch. In anderen Worten, Kriege lägen dann ausschließlich in der Kompetenz der Union.

Entscheidung über Krieg und Frieden

Falls die europäischen Nationalstaaten ihr Recht zum Krieg auf die EU übertragen würden, hätte diese über Krieg und Frieden zu entscheiden. Damit wäre freilich nicht gesagt, dass die EU als eine pazifistische Macht auftritt. Das wäre von den globalen Entwicklungen abhängig und wie sich die EU darin positioniert. Immerhin ist mit der EU die politische Hoffnung verbunden, dass ein geeint auftretendes Europa zur Großmacht werde, gleichrangig zu USA, Russland und China. Bislang zielt das auf das wirtschaftliche Gewicht, aber das muss nicht zwangsläufig so bleiben. Die EU als Kriegsherrin wäre der Versuchung zum Krieg ausgesetzt wie jeder andere mächtige Staat.

Solange es der EU jedoch nicht gelingt, den Modernitätsnachweis ihrer Fähigkeit zum Krieg glaubhaft zu liefern, werden es auch in Europa weiterhin die Nationalstaaten sein, die über Krieg und Frieden befinden. Hinzu kommt, dass die EU Gefahr läuft, im globalen Maßstab weiter an Glaubwürdigkeit und Bedeutung zu verlieren. Als möglicher Partner in einem künftigen Konzert der Weltmächte käme ihr allenfalls noch eine Nebenrolle zu.

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