Nahostkonflikt - Reflexionen statt Parolen

Wie auch immer jeder Einzelne zum Nahostkonflikt steht, er sollte bedenken: Es geht nicht um das Wohlbefinden engagierter Bürger in Deutschland. Es geht um das Wohlbefinden aller Menschen zwischen Fluss und Meer – die alle dieselben Rechte verdienen.

Die Menschen feiern den Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas / dpa
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Autoreninfo

Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Es gibt keinen Zweifel: Die meisten Menschen in den Palästinensergebieten und insbesondere in Gaza leben unter unvorstellbaren Bedingungen. Die Lösung scheint einfach: Israel soll Frieden schließen, Israel soll einer Zweistaatenlösung zustimmen, Israel soll internationale Vermittlungsbemühungen akzeptieren – das sind immer lauter werdende Forderungen. Wer kann etwas anderes wollen, als dass Israel sie erfüllt? 

Israels Bemühungen

Zu oft wird dabei jedoch übersehen, dass Israel genau das bereits seit Jahrzehnten tut: 1967 bot es nach dem Sechstagekrieg – arabische Nachbarn hatten abermals versucht, den Staat Israel zu vernichten – an, die eroberten Gebiete zurückzugeben, nur für Frieden und Anerkennung des jüdischen Staates. Dies wurde abgelehnt – lange bevor Araber in diesen Gebieten Land an jüdische Siedler verkauften oder Siedler fremdes Land widerrechtlich besetzten. Als 1982 die Räumung des Sinai und der dortigen jüdischen Siedlungen Bedingung für den Frieden mit Ägypten wurde, hat Israel seine Bürger zur Räumung gezwungen.

Dasselbe geschah 2005 zur Erfüllung der Forderung „Land gegen Frieden“ – der Gazastreifen wurde geräumt. Den dafür erhaltenen Frieden konnte man zuletzt in den vergangenen Wochen bestaunen. Als Anfang der 1990er-Jahre das Osloer Abkommen zwischen Israel und Palästinensern endlich eine Lösung versprach, wurde es von der Hamas mit Anschlägen torpediert. Jener Hamas, die in Artikel 13 ihres „Grundgesetzes“ (der Hamas-Charta) festgelegt hat: „Friedensinitiativen sind reine Zeitverschwendung, eine sinnlose Bemühung.“

Die Palästinenserführung legitimiert sich vor allem durch den Kampf gegen Israel. Sie verspricht ihren Unterstützern, das damals dünn besiedelte und oftmals brachliegende Land zurückzuholen, das die Mitgliedsstaaten der Uno 1947 mit großer Mehrheit Israel zugesprochen haben. Vor allem in linken Milieus – auch in Deutschland – wird gefordert, dass die vermeintlich widerrechtliche Besetzung dieser Gebiete mit einer unverzüglichen Räumung beendet werden müsse. Diese Forderung gewinnt nicht an Glaubwürdigkeit, wenn in denselben Milieus dagegen protestiert wird, dass widerrechtlich besetzte Häuser in Berlin nach Ablauf regulärer Pachtverträge geräumt werden. 

Eine Frage der Fairness

Doch einmal angenommen, Israel erfüllte sämtliche Forderungen der Hamas und alle Juden verließen die Region. Der alte und dieser Tage allerorten verbreitete Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ wäre Realität. Doch was würde die Umsetzung dieser Forderung für die Menschen zwischen „Fluss und Meer“ bedeuten?

Es ist eine Frage der Fairness anzuerkennen, dass es vor allem linke Milieus waren, die sich stets dafür einsetzten, dass es Menschen besser geht. Beispiele sind der Einsatz für das Frauenwahlrecht vor mehr als 100 Jahren, die internationale Ächtung von Folter und Todesstrafe oder die Integration von Zuwanderern sowie das Engagement für die LGBTQ-Gleichberechtigung in den vergangenen Jahren. Ein anderes Beispiel ist der eifrige Kampf gegen Rassismus und patriarchale Machtstrukturen, etwa an deutschen Theatern. Groß ist das Engagement für Pressefreiheit und gegen Gewalt gegen Journalisten, ob am Rande von Corona-Demos oder beim jüngsten Übergriff in Weißrussland. Vor allem aber empören hierzulande Nachrichten, dass sich die soziale Schere öffne, besonders das Narrativ der Korrelation „die Armen werden immer ärmer, weil die Reichen immer reicher werden“. 

Gerechtigkeit für Palästinenser

In Gaza regiert die Hamas, die von der EU und vielen anderen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird. Wahlen werden seit 2006 nicht mehr abgehalten, willkürliche Verhaftungen und Folter sind an der Tagesordnung, die Todesstrafe wird vollstreckt, insbesondere Homosexualität, Pressefreiheit und Frauenrechte sind, nun ja, unterentwickelt, Kinderehen nicht verboten, rassistische Strukturen Alltag. Vor allem aber: Die Korruption ist gewaltig. Wie der SPIEGEL 2004 feststellte, verschwanden allein zwischen 1995 und 2000 rund 900 Millionen Dollar aus den öffentlichen Kassen der Palästinenser.

Anlass des SPIEGEL-Artikels war der Erbschaftsprozess nach dem Tod Jassir Arafats, den sein Job als „Palästinenser-Führer“ zum neuntreichsten Mann der Erde gemacht hatte. Trotz gewaltiger Geldzuflüsse lebt die Bevölkerung im Elend – und dieses Elend führt wiederum zu gewaltigen Geldflüssen. Doch wo sind die Proteste gegen die korrupten, homophoben, frauenfeindlichen, patriarchalen Strukturen in Gaza? Wo sind die Proteste gegen Todesstrafe, Folter, ausbleibende Wahlen und mangelhafte Pressefreiheit? In jedem Falle sind sie nicht annähernd so zahlreich wie Proteste, die Gerechtigkeit für die Palästinenser fordern.

Jeder empathische Mensch wünscht den Palästinensern Gerechtigkeit – jenen, die in Israel leben und insbesondere jenen, die von Hamas und Fatah regiert werden. Merkwürdigerweise scheint aber eine Mehrheit der engagierten Progressiven anzunehmen, dass die Existenz Israels das größte Hindernis zur Erlangung von Gerechtigkeit für die Palästinenser sei. Jenem Israel, das die einzige echte Demokratie in der Region ist und ein Rechtsstaat, in dem amtierende Premierminister angeklagt und ehemalige Präsidenten ins Gefängnis gesteckt werden, besonders wenn es um Korruption geht. Jenem Israel, dessen „Tel Aviv Pride“ die größte LGTBQ-Veranstaltung Asiens ist, jenem Israel, das ein Safe Space für viele queere Araber ist, von denen viele in der queeren palästinensischen NGO Al-Qaws (Der Regenbogen) in Jerusalem engagiert sind. 

Konsequent zu Ende gedacht

Doch einmal angenommen, Israel erfüllte alle Forderungen und alle Juden verließen die Region. Kaum anzunehmen, dass die in Gaza regierende Hamas – und ebenso wenig die in Ramallah regierende Fatah – die rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen Israels übernehmen würde. Wer heute trotz der Erfahrungen in Gaza seit 2005 „Land gegen Frieden“ ruft, wer die bedingungslose Räumung sowohl des illegal besetzten als auch das legal von jüdischen Siedlern erworbenen Landes in der Westbank verlangt, ferner die volle Souveränität der Palästinenserbehörden, verspricht den Menschen in diesen Gegenden, was in Gaza – aber oft auch Ramallah – seit 2015 an der Tagesordnung ist. Man kann sich aber kaum glaubwürdig für Frauen- und LGBTQ-Rechte in Deutschland einsetzen, für Demokratie und Pressefreiheit engagieren und gleichzeitig den arabischen Muslimen zwischen Fluss und Meer eine Regierung wünschen, wie sie die Menschen in Gaza jeden Tag erleiden – eben weil Menschenrechte universal gelten.

Doch die Menschen in der Region haben verdient, dass die Konsequenzen dessen, was man für sie fordert, zu Ende gedacht werden. Zugegeben, es wird dann komplizierter und mühsamer – und der Genuss des moralischen Eigenlobs schwände. „Israel soll Frieden schließen“, „Land gegen Frieden“ oder „From the River to the Sea“ sind hingegen einfacher auf Social Media zu teilen – und führen zu mehr „likes“. Der Parolencharakter verbraucht weniger Zeichen als die Reflexion. Wie auch immer jeder Einzelne zum Nahostkonflikt steht, wen auch immer er unterstützen möchte, er sollte immer bedenken: Es geht dabei nicht um das Wohlbefinden engagierter Bürger in Deutschland. Es geht einzig um das Wohlbefinden aller Menschen zwischen Fluss und Meer – die alle gleiche Rechte verdienen: Muslime, Juden, Christen, Drusen, Bahai und Samaritaner jeglicher geschlechtlicher Identität.

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