Moskaus Drohkulisse gegenüber der Ukraine - Das russische Trauma

Derzeit kursieren zahlreiche Gerüchte über eine bevorstehende Invasion Russlands in der Ukraine. Dieses Szenario erscheint zwar wenig plausibel, aber dennoch besteht die Gefahr einer militärischen Eigendynamik. Und Moskau hat wegen seiner Geschichte durchaus Gründe dafür, geopolitisch auf der Hut zu sein.

Soldaten während einer Vorführung im Rahmen eines Besuchs von Mitgliedern der Kiewer Vereinigung der Militärattachés und internationaler Organisationen im Ausbildungszentrum der ukrainischen Nationalgarde / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Russland ist kein Land mit einem besonders ausgeprägten Vertrauen in fremde Nationen – und zwar aus gutem Grund. Von Deutschland wurde es im 20. Jahrhundert zweimal überfallen, von Frankreich einmal (im 19. Jahrhundert) und von Schweden ebenfalls einmal (im 18. Jahrhundert). Es handelte sich jeweils um keine launenhafte Grenzscharmützel, an die man in Europa gewöhnt war – sondern um sehr ernstzunehmende Feldzüge mit dem Ziel, das russische Kernland zu erobern und dauerhaft zu unterwerfen. Es ist kaum möglich, derart existentielle Bedrohungen zu vergessen, und es ist schwer für Russland, kein Misstrauen gegenüber Angriffen auf seine Peripherie zu hegen. Diese Haltung macht Russland umgekehrt zu einer Bedrohung für seine Nachbarn.

Im Westen sah man den Zusammenbruch der Sowjetunion dergestalt, dass Russland seine Unabhängigkeit einfach anderen Ländern übertrug. Die Russen, fassungslos über das, was geschehen war, zeigten sich bereit, es auch so zu sehen. Moskau nahm das Beste vom Westen an. Es ging davon aus, dass die neuen unabhängigen Länder neutral sein und daher keine Bedrohung für Russland darstellen würden. Aber die Dynamik der Geschichte verläuft nicht in geordneten Bahnen, und mit der Zeit näherten sich die ukrainische Regierung und Russland wieder einander an. Dies drohte die westliche Vision der postsowjetischen Welt zu untergraben – ebenso wie die Erwartungen vieler Ukrainer.

Deutungsstreit über die ukrainische Revolution

Nur 24 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stürzte eine Revolution in der Ukraine deren pro-russische Regierung. Aus westlicher (und insbesondere aus amerikanischer) Sicht war die Ukraine eine unabhängige Nation – ihre Angelegenheiten hätten demnach nichts mit Russland zu tun. Russland hatte ein korruptes und repressives Regime, und als Teil des amerikanischen Werteprojekts würden die USA diejenigen unterstützen, die sich gegen dieses Regime erhoben und ihre demokratischen Rechte einforderten.

Russland sah das anders. Aus seiner Sicht war die gestürzte Regierung die rechtmäßig gewählte Regierung der Ukraine, und die Vereinigten Staaten (und andere Länder) hätten einen Staatsstreich inszeniert, um eine prowestliche Regierung durchzusetzen. Demnach hätten die Vereinigten Staaten den Zusammenbruch der Sowjetunion dazu genutzt, um die Kontrolle über die Ukraine zu übernehmen. Die ukrainische Stadt Poltawa, wo die Russen im 18. Jahrhundert den schwedischen Vormarsch aufgehalten hatten, lag nur 800 Kilometer von Moskau entfernt. Die tatsächliche Entfernung von der ukrainischen Grenze bis nach Moskau war sogar wesentlich geringer.

Was auch immer die Amerikaner zu tun gedachten – die Russen sahen darin eine Verletzung von Russlands Recht auf nationale Sicherheit – eine Bedrohung unter dem Vorwand, die Demokratie zu fördern. Aus amerikanischer Sicht hatte die Ukraine das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Aus russischer Sicht hingegen durfte sie keine existenzielle Bedrohung für Russland darstellen; geopolitisch spielten die amerikanischen Absichten für Moskau keine Rolle. Denn Absichten können sich nämlich ändern, und eine pro-amerikanische Ukraine war lediglich ein neues Kapitel in einer langen Geschichte der russischen Unsicherheit. 

Russland hatte frühere Invasionen überstanden, indem es einen Puffer zwischen dem Angreifer und Moskau geschaffen hatte. Alle Invasionen der vergangenen Jahrhunderte waren gescheitert, weil die Angreifer so viel Territorium durchqueren mussten, dass eine im Sommer begonnene Invasion im russischen Winter enden würde. Mit der Ukraine als amerikanischer „Marionette“ wird dieser Abstand drastisch verringert, die Pufferzone aufgelöst. Was Russland jahrhundertelang beschützt hatte, schützt es nun nicht mehr.

Historischer Wendepunkt

Für Russland war dies der Wendepunkt in der postsowjetischen Ära. Die Ukraine war ein wichtiges Element der russischen Verteidigung – aber nicht das einzige. Die Hauptangriffslinie auf Russland ist die nordeuropäische Tiefebene, die sich von Frankreich bis fast nach Moskau erstreckt. Die Westgrenze der Sowjetunion war Weißrussland, das an der Grenze zu Polen liegt.

Eine zweite problematische Angriffslinie gen Russland verläuft durch den Kaukasus, der Russland von der Türkei, dem Iran und ihren Verbündeten trennt. Die Sowjets kontrollierten die massiven Gebirgszüge des Nordkaukasus, einschließlich Tschetschenien und Dagestan. Obwohl sie eine solide Barriere gegen den Süden bildeten, waren sie besiedelt und damit potenziell durch militante Islamisten destabilisiert. Der Südkaukasus (Aserbaidschan, Georgien und Armenien), früher Teil der Sowjetunion, ist ebenfalls ein wichtiger Puffer.

Eine dritte Angriffslinie befindet sich in Zentralasien. Die Länder der Region stellen zwar selbst keine Bedrohung für Russland dar, aber der Rückzug der USA aus Afghanistan hat die Lage verschärft. Es besteht die reale Gefahr eines Übergreifens der Gewalt durch Islamisten, und die USA bemühen sich weiterhin um Luftstützpunkte in der Region, um begrenzte Operationen in Afghanistan zu unterstützen. Für Russland ist es daher wichtig, Zentralasien zu sichern.

In östlicher Richtung befindet sich die Grenze zu China. Russland hat ein gemeinsames Interesse mit China, die Vereinigten Staaten zu blockieren, aber es besteht ein tiefes historisches Misstrauen zwischen den beiden Ländern. Die Russen waren zuvor in China und der Mandschurei einmarschiert. Die Sowjets zogen in Erwägung, Lop Nor, das chinesische Atomwaffenzentrum, zu bombardieren und wandten sich an die Vereinigten Staaten, um bei dieser Operation mitzuwirken. In den 1960er Jahren kam es zu schweren Grenzkonflikten zwischen China und der Sowjetunion, darunter eine große Schlacht am Fluss Ussuri. Mao war der Sowjetunion gegenüber feindselig eingestellt; die Entente zwischen den Vereinigten Staaten und China in den 1970er und 1980er Jahren richtete sich gegen Russland. Angesichts dieser Geschichte ist die chinesisch-russische Grenze ein Ort der Verwundbarkeit.

Von Schwachstellen umgeben

Mit anderen Worten: Russland ist von Schwachstellen umgeben. Deshalb hat es einen sanften Ansatz entwickelt, um mit ihnen umzugehen. Es schickt keine Panzer, sondern nutzt politische und wirtschaftliche Probleme vor Ort, um seinen Einfluss zu vergrößern. So etwa in Weißrussland, wo die Instabilität unter Präsident Alexander Lukaschenko es Moskau ermöglicht, seine Macht auszubauen und die Grenze zu Polen zu destabilisieren. In Zentralasien nutzt es die wirtschaftlichen Beziehungen und die Spannungen zwischen den zentralasiatischen Staaten untereinander, um seinen Einfluss zu vergrößern. Im Südkaukasus hat es Friedenstruppen eingesetzt, um den Waffenstillstand zwischen Aserbaidschan und Armenien aufrechtzuerhalten, was dem Kreml verschiedene Möglichkeiten der Einflussnahme eröffnet. 

Natürlich unterhält Russland gute Beziehungen zu China, aber beide Staaten bleiben dem jeweils anderen gegenüber misstrauisch.

Die nordeuropäische Tiefebene, der Kaukasus, Zentralasien und die chinesische Grenze sind allesamt von entscheidender Bedeutung. Das zentrale Thema für Russland jedoch ist die Ukraine. Die Ukraine ist der Ort, an dem die Vereinigten Staaten aus russischer Sicht ihre Krallen ausgefahren haben. Mit Weißrussland kann Russland umgehen, aber in der Ukraine kann es praktisch keine sanfte Macht ausüben, weil die Amerikaner eingreifen könnten. Es gibt Gerüchte über eine russische Invasion in den kommenden Wochen, aber echte Invasionen werden nicht angekündigt. Andererseits sollten Invasionen, die man nicht durchführen will (weil man sie verlieren könnte), angekündigt werden. Dies wird zu einer psychologischen Waffe, mit der versucht wird, eine Einigung zu erzwingen, bei der Russland ein starkes Vetorecht im Hinblick auf innerukrainische Prozesse hat.

Drohender Kontrollverlust

Es sollte nicht vergessen werden, dass Russland an seinen Grenzen mit einer Reihe komplexer und gefährlicher Herausforderungen konfrontiert ist. Jede einzelne davon könnte außer Kontrolle geraten. Und wie alle Nationen hat auch Russland nur eine begrenzte Bandbreite an Möglichkeiten. Moskau versucht eindeutig, sukzessive und nicht zeitglich zu handeln – aber das setzt voraus, dass es genug Zeit hat. Und da es unwahrscheinlich ist, dass die USA aktiv werden, könnte die Zeit durchaus vorteilhaft für Moskau sein. Aber die russischen Ängste nähren sich selbst und können zu unüberlegten Handlungen führen. Und was am wichtigsten ist: Bei der Verwaltung von Regionen, die Feinde beherbergen, kann eine entscheidende Krise ohne Vorwarnung eintreten.

Der Kreml muss aus seiner Sicht die Bedrohungen aus der Sowjetära zumindest abmildern. Der Druck, der auf Russland lastet, ist also groß, aber es gibt auch viele Handlungsmöglichkeiten. Russland neigt dazu, sich bewusst zu bewegen, aber die Realität gibt ihm vielleicht nicht die Gelegenheit dazu. Unter anderem die Amerikaner sind in diesen Tagen unberechenbar.

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