Migrationspolitik der Europäischen Union - Deals machen, Fakten schaffen

Berlin und Brüssel können ihre Migrationskonzepte am Reißbrett entwerfen, wie sie wollen. Allein bekommt die EU die illegale Migration nicht in den Griff – und das Sterben auch nicht. Deshalb sind Verabredungen wie jene mit Tunesien wichtig.

Treffen in Tunesien / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Am Samstagabend flatterte eine Einladung zu einer Demonstration in meinen Posteingang: „Offen bleiben! Für eine solidarische Gesellschaft!“ Zu den Organisatoren dieser Demo, die am Sonntag in München stattgefunden hat, gehörten Pro Asyl, der Migrationsbeirat München und sogar Monsignore Rainer Boeck, seines Zeichens Stellvertreter von Kardinal Reinhard Marx, der wiederum Präsident der Deutschen Bischofskonferenz ist. Und noch ein paar mehr. 

Anlass für den Protest war respektive ist die Einigung der Europäischen Union vom Februar, die eigene Asylpolitik zu verschärfen. Und freilich durfte in der Einladung deshalb nicht der übliche No-Borders-No-Nations-Populismus fehlen. „Grenzen zu, alles gut?“ war da zu lesen, was die Initiatoren selbstredend verneinen, um dann die angebliche „Abschottungs- und Scheuklappenpolitik“ der Europäischen Union zu kritisieren, die bitter sei und skandalös. Deshalb: „Offen bleiben!“ 

Die Mär von der „Festung Europa“

Die Mär von der „Festung Europa“ hält sich in gewissen Kreisen also hartnäckig und wird vor dem Hintergrund der jüngeren Entwicklungen jetzt noch stärker bemüht. Doch die Wahrheit – ein einfacher Blick auf die Migrationszahlen reicht, inklusive die Zahlen bezüglich illegaler Migration – ist eine andere: Berlin und Brüssel können ihre Migrationspolitik am Reißbrett entwerfen, wie sie wollen. Fakten werden anderswo geschaffen: Beispielsweise am Sonntag in Tunesien.
 

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Dort haben die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Regierungschefs der Niederlande (Mark Rutte) und Italiens (Giorgia Meloni) mit Tunesiens Präsident Kais Saied eine Absichtserklärung beschlossen. Im Gegenzug für Finanzhilfen von bis zu 900 Millionen Euro soll Tunesien künftig stärker gegen Schlepper und illegale Überfahrten vorgehen, die illegale Migranten von Tunesien nach Italien führen. 

Allein bis Freitag zählte das Innenministerium in Rom mehr als 75.000 Bootsmigranten, die seit Jahresbeginn an Italiens Küsten ankamen. Mehr als doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Wäre die Europäische Union, lässt sich erstens feststellen, also tatsächlich eine Festung, dann wäre selbige ziemlich marode. Daher braucht es, lässt sich zweitens feststellen, dringend Kooperationen wie diese mit Nicht-EU-Ländern, um Schleppern das Handwerk zu legen und dadurch nicht zuletzt auch Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren. 

Survival-of-the-Fittest-Prinzip

Die Einigung in Tunesien macht in der Praxis jedenfalls perspektivisch möglich, was etwa der renommierte Migrationsforscher Ruud Koopmans schon lange als ganz zentralen Hebel sieht, um die Migration nach Europa in den Griff zu bekommen – und vor allem wegzukommen von einem amoralischen Survival-of-the-Fittest-Prinzip, das mit internationaler Solidarität nichts zu tun hat: dass ins Asylverfahren kommt, wer den Weg bis dahin überlebt.

Koopmans: „[Eine] Lösung wäre, dass man Abkommen schließt mit Drittstaaten, die sich bereit erklären, die Asylverfahren bei sich durchzuführen.“ Perspektivisch würde das, so Koopmans unterm Strich, illegale Migrationsbewegungen eindämmen, Menschenleben retten und Migranten nicht in endlose Bürokratieprozesse hineinlocken, die vieles zur Folge haben, aber ganz sicher nicht Frieden und Wohlstand, was sich die hier Ankommenden ja erhoffen – und was man ihnen wirklich nicht übelnehmen kann. 

„Abschottungs- und Scheuklappenpolitik“

Wer nicht will, dass das Asylsystem erodiert; wer nicht will, dass Menschen im Meer ertrinken; wer aber will, dass Asylbewerber mit klarer Bleibeperspektive eine menschenwürdige und perspektivisch sinnvolle Behandlung in Ländern wie Deutschland erhalten, statt monatelang mit unsicherem Ausgang in Massenunterkünften zu hausen, der muss Hürden nicht ab-, sondern aufbauen – und Strukturen schaffen, die den Schleppern ihr grausames Geschäft vermiesen.

Selbstverständlich muss, das gilt auch für Tunesien, dabei gewährleistet sein, dass sich jene Länder, mit denen die EU welche Deals im Detail auch immer aushandelt, an internationales Recht halten; etwa an das Verbot der Zurückweisung. Aber sonst ist das, was wir am Sonntag in Tunesien gesehen haben, Ausdruck einer dringend notwendigen Realpolitik im Umgang mit illegaler Migration. Und das ist – um den Kreis zum Anfang zu schließen – eben auch das genaue Gegenteil einer europäischen „Abschottungs- und Scheuklappenpolitik“. Es ist schlicht Realismus. 

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