Migration - Zu viele unterwegs

In Österreich kollabiert das Verkehrssystem: Die Polizei belegt Urlauber mit Bußgeld, die den Stau auf der Autobahn umfahren wollen. Übers Mittelmeer kommen gleichzeitig immer weiter Migranten. Die beiden Phänomene haben mehr gemeinsam als es zunächst scheinen mag

Die Regierung Österreichs ist mit der momentanen Verkehrssituation überfordert / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Als die deutschen Urlauber im Dauerstau auf die Umgehungsstraßen entlang der Autobahn auswichen, handelten die österreichischen Behörden akut und auf mutmaßlich wackeliger rechtlicher Basis: Wer als Urlauber die Autobahn verlassen hatte und keinen triftigen Grund (außer der Verkehrsinfarktes) vorweisen konnte, wurde mit einem Bußgeld belegt und zurück in den endlosen Blechwurm beordert. Die betroffenen österreichischen Regionen wussten sich nicht mehr zu helfen. Am kommenden Wochenende, wenn die zweite Welle aus Nordrhein-Westfalen ansteht, werden sie es wieder so machen. 

Dieser Urlauberstrom hat mehr mit dem Migrationsstrom im Mittelmeer gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die österreichische Regierung ist mit dem Ansturm über den Brenner ebenso überfordert wie die Europäische Union mit jenem der Migranten übers Mittelmeer. In beiden Fällen fällt es schwer, geeignete Gegenmaßnahmen zu treffen. Wie die Routen im Mittelmeerraum (Balkanroute, Italienroute, Spanienroute) suchen sich auch die Autofahrer in Österreich ihre Schleichwege, die ihnen ein einigermaßen gutes Durchkommen sichern. Und nicht zuletzt sind übers Mittelmeer diejenigen unterwegs, die sich den Wohlstand wünschen, der den deutschen Autofahrern im Stau den alljährlichen Sommerurlaub ermöglicht. 

Keine gemeinsame Politik

Rechtlich gesehen ist es so, dass sich die Urlauber in ihren Autos innerhalb eines freizügigen Schengenraumes bewegen, während sich die Migranten mit dem Hinweis auf ein Asylgesuch erst einmal das Recht verschaffen, europäischen Boden zu betreten. Und nach wie vor verschanzen sich im weiteren Verlauf der Dinge immer noch viele Ländern im Hinterland hinter dem Dublin-Abkommen und lassen die Anrainerstaaten mehr oder weniger im Stich.

Eine gemeinsame, abgestimmte Politik scheint nicht möglich zu sein. Dabei treten beide Phänomene zeitgleich und jahreszeitenabhängig auf. Man könnte sich nach einem Sommer der Ratlosigkeit für den nächsten wappnen und sich gemeinsam für eine Lösung ans Werk machen. Man möge gerne widersprechen: Aber wegen der Schengenregelung erscheint das österreichische Problem der Urlaubsmigration sogar strukturell schwerer zu lösen zu sein als das insgesamt in seinen langfristigen Folgen betrachtet weitaus größere der Mittelmeer-Migration. Und dennoch läuft Sommer für Sommer wieder das gleiche tragische Szenario ab, ohne dass sich irgendetwas geändert hätte. 

Aber so wenig wie Italien allein gelassen werden kann mit den Flüchtlingsbooten, die in den italienischen Häfen anlegen und Menschen von Bord lassen, so wenig kann Österreich allein gelassen werden mit seinem Verkehrsinfarkt, den vor allem deutsche Urlauber auslösen. Und es soll sich deshalb auch bitte niemand weder über eine italienische noch eine österreichische Regierung erheben, wenn diese jeweils zu Abschreckungsmaßnahmen greifen, die die Situation für das betreffende Land erträglicher macht. Die einen mit hohen Bußgeldern für Autobahnflüchtlinge, die anderen mit Verboten privater Seenotrettung. 

Teamgeist in der EU

Eine gemeinsame Lösung muss in beiden Fällen her. Und zwar auf europäischer Ebene. Eine der ersten und dringlichsten Aufgaben für die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: Hier wieder einen Teamgeist in der EU herzustellen, der solche notgedrungenen Alleingänge nicht mehr nötig macht. 

Was komplett kontraproduktiv ist, sind Einlassungen wie jene der „Sea Watch 3“-Kapitänin Carola Rackete, dass alle, die sich auf den Weg machen, aufgenommen werden müssen. Das ist in etwa so, als würde der Vorsitzende der deutschen Autofahrerpartei vor dem Hintergrund der drastischen Maßnahmen der österreichischen Polizei gegen den Verkehrsinfarkt in den Dörfern zu einem solidarischen Spontantrip mit dem Auto in die Alpenrepublik aufrufen. Nach dem Motto: Freie Fahrt für freie Bürger. Das Recht hätte dieser verantwortungslose fiktive Parteipräsident dabei noch eher auf seiner Seite. Denn das Recht auf Bewegungsfreiheit innerhalb der EU ist ebenso elementar wie das Asylrecht. Das im Nachgang zum Gesuch aber in mindestens vier von fünf Fällen abschlägig beschieden wird.

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