Migration in die EU - Wachsender Druck

Am 28. Juli 1951 wurde die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet, die seither die Grundlage für das internationale Flüchtlingsrecht bildet. 70 Jahre später erwarten Experten für die kommenden Monate und Jahre wieder größere Flüchtlingsströme. Ist Europa besser vorbereitet als 2015, als über eine Million Menschen auf den Kontinent flohen?

Flüchtlingslager der myanmarischen Rohingya-Bevölkerung in Cox’s Bazar, einer Stadt in Bangladesch / Antoine d‘ Agata
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Felix Lill ist als Journalist und Autor spezialisiert auf Ostasien.

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Ich habe ungefähr 30 000 US-Dollar. Wohin kann ich damit migrieren?“
„Ist es möglich, Asyl in Kanada zu erhalten? Ich habe sieben Jahre für eine ausländische Armee gearbeitet und habe vor zwei Jahren einen Antrag gestellt, aber noch keine Antwort erhalten.“
„Können wir über das UNHCR Asyl in Tadschikistan beantragen?“
„Ist es möglich, irregulär nach Griechenland zu wandern und von dort in andere Länder zu kommen?“

Dies sind Anfragen, wie sie derzeit ungefähr 20 Mal pro Tag gestellt werden – allein in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Diese Protokolle stammen von der Nummer 5588, die Menschen in Afghanistan wählen, oder ihr per Whatsapp und Facebook Messenger schreiben, um eine Einschätzung zu erhalten. Führt über diesen Schlepper, der mir da ein Angebot gemacht hat, ein verlässlicher Weg raus aus meinem Land, zu einem Leben in Sicherheit? Ist es plausibel, wenn man mir versichert, mein Visum für die Türkei sei schon organisiert – ich müsse nur noch bezahlen? Kann ich, mit meinen Mitteln, die Flucht schaffen?

Immer mehr Anfragen

Fragt man Isabelle Wolfsgruber nach den Antworten, atmet sie erst mal tief durch. „Derzeit wird nur wenigen Afghanen Asyl gewährt, sofern sie nach Europa wollen. Es sind größtenteils jüngere Männer, die sich bei uns melden.“ Seit zehn Jahren arbeitet sie für das International Centre for Migration Policy Development (ICMPD), einer Mischung aus internationalem Thinktank und Netzwerkorganisation mit Sitz in Wien, die an diversen Krisenherden der Welt kleinere Beratungszentren unterhält.

Das Büro in Kabul, das sich Migrant Resource Centre nennt, leitet die 37-jährige Oberösterreicherin seit vier Jahren. „Mit unserer Beratung wollen wir den Menschen eine lange, beschwerliche Reise ersparen.“ Die sieben Mitarbeiter von Isabelle Wolfsburger, deren Tätigkeit neben mehreren europäischen Staaten auch von Deutschland bezahlt wird, verbringen viel Zeit ihrer Arbeit mit Warnungen und manchmal Abschreckung. „Wir wissen, dass die Versprechen der Schlepper oft nicht der Wahrheit entsprechen. Das sollten die Leute wissen, bevor sie sich auf den Weg machen.“

Die Zahlen scheinen den Job am Telefon und in den Chats zu rechtfertigen. „In letzter Zeit sind unsere Anfragen auf ungefähr 2000 pro Monat angestiegen.“ Die Mehrzahl der Menschen, die emigrieren wollen, bemüht sich um einen Aufenthaltsstatus in der Region: als Bauarbeiter oder Fahrer in den Vereinigten Arabischen Emiraten, als Flüchtlinge in Tadschikistan, als Familiennachzügler im Iran. Ein Fünftel überlegt, den irregulären Weg über einen Schlepper zu nehmen, der dann oft nach Europa führen soll.

Taliban auf dem Vormarsch

In Afghanistan gehen dieser Tage viele Beobachter davon aus, dass die Zahl derer, die dem Land den Rücken kehren, über die kommenden Monate stark steigen wird. „Auch alle möglichen ausländischen Organisationen hier machen schon Evakuationspläne. Das gab es in den letzten Jahren immer wieder nach schwereren Anschlägen. Aber diesmal hat es noch mal eine andere Qualität.“ Denn mit dem im Frühjahr verkündeten Truppenabzug der USA und ihrer Verbündeten, darunter auch Deutschland, wird ein höchst fragiler Staat sich selbst überlassen. 

Die islamistischen Taliban, die die potenten westlichen Militärs zwei Jahrzehnte lang bekämpft haben, befinden sich bereits auf dem Vormarsch. Rund die Hälfte des Landes haben sie zurückerobert. Weiten sich die derzeitigen Kämpfe in einen Bürgerkrieg aus, dürfte das krisengebeutelte Entwicklungsland an der Schwelle von Süd-, Zentral- und Vorderasien einmal mehr einen Exodus erleiden. „Frauen werden von den Taliban bedroht, sobald sie zu modern denken“, so Isabelle Wolfsgruber. „Und Männer werden bedroht, sobald sie sich nicht dem Kampf anschließen wollen.“ Die Zahl potenzieller Flüchtlinge sei daher extrem hoch.
Die Leitungen des ICMPD laufen dieser Tage heiß. Eine Entwicklung, die man im Headquarter in Wien als Erfolg interpretiert. „Die Migrant Resource Centres haben wir im Rahmen des Budapest-Prozesses an vielen Orten entlang der Seidenstraße gegründet“, sagt Michael Spindelegger, der bis 2014 für die konservative ÖVP Vizekanzler und Finanzminister Österreichs war und seit 2015 das ICMPD leitet. „Allein in Afgha­nistan haben sich jetzt schon zwei Millionen Menschen beraten lassen.“

Reiseverhinderung durch Aufklärung

Spindeleggers Organisation, die Anfang der neunziger Jahre auf Initiative von Österreich und der Schweiz gegründet wurde, organisiert seither den Budapest-Prozess: ein informelles Treffen zwischen 60 Staaten und Organisationen, um Migration zwischen Asien und Europa zu beobachten und, so die Absicht, auch indirekt zu regulieren. Informationsaustausch, der letztlich bis zur Bevölkerung durchsickern soll, gehört zu den wichtigsten Zielen dieser Treffen. 

„Ich habe vor zwei Wochen mit dem irakischen Außenminister geredet“, berichtet Michael Spindelegger am Telefon zufrieden. „Auch dort führen unsere Aktivitäten zu großer Aufmerksamkeit. Und zu einer viel besseren Ausgangslage für die Menschen. Sie wissen dann, dass eine Reise mit Schleppern Monate, vielleicht Jahre dauern würde. Dass der Prozess in Europa auch noch mal Monate dauern wird. Und dass viele Menschen am Ende wieder zurückgeschickt werden, und die Tausenden von Euro, die sie für ihre Reise aufgebracht haben, dann einfach weg sind.“ Das unausgesprochene Ziel dieser Zentren ist klar: Möglichst viele Reisen nach Europa sollen verhindert werden. 

Dennoch erwartet Spindelegger, dass im Moment wieder größere Flüchtlingsströme bevorstehen. Afghanistan und Irak seien nur zwei Beispiele gewesen, weitere zählt er auf. Da sei der Konflikt in Tigray, Nordäthiopien, wo seit Monaten gekämpft wird und eine humanitäre Krise ausgebrochen ist. Hinzu komme Bangladesch, wo sich derzeit Hunderttausende der myanmarischen Minderheit der Rohingya aufhalten. Auch in mehreren Ländern Südamerikas sei die Situation instabil, allen voran Venezuela, wo sich viele Menschen nach Spanien orientieren.

Push and Pull

Hinzu kommt die große Unbekannte der Pandemie. Durch die weltweiten Reisebeschränkungen wirkt sie derzeit als harte Migrationsbremse. Sollten sich nun aber die reichen Volkswirtschaften der Welt zuerst erholen, könnte dies, so die Voraussagen mehrerer Institutionen, als sogenannter Pull-Faktor für Migration wirken: Europa und die USA würden also auf Menschen aus ärmeren Regionen, wo die Impfquote noch geringer wäre und die ökonomische Aktivität weiter erlahmt bliebe, stärkere Anziehungskraft ausüben. 

Als Push-Faktor hingegen, der Menschen aus ihrer Heimat drängt und zum Migrieren bewegt, gilt der Klimawandel. Weltweit werden Naturkatastrophen nicht nur häufiger, sie sind auch zusehends stärker, wenn sie eintreten. Dann sind da noch Ernteausfälle in vielen Regionen Afrikas südlich der Sahara, in Süd- und Südostasien ein steigender Meeres­spiegel. Prognosen sind umstritten. Die Weltbank schätzt aber, dass es bis zum Jahr 2050 allein 143 Millionen Binnenflüchtlinge wegen des Klimawandels geben könnte – internationale Flucht nicht mitgerechnet. Die Lebensgrundlagen, so die internationale Organisation, wären durch Veränderungen der Natur dann derart beschädigt, dass die Betroffenen keine Alternative hätten.

Zur Einordnung: Stand Mitte Juni 2021 sind weltweit 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht, weil sie durch Verfolgung, Konflikt, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen oder starke Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung keine Zukunft in ihrer Heimat mehr sehen. 48 Millionen fallen laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in die Kategorie der „internally dis­placed ­people“, migrieren also innerhalb ihrer Landesgrenzen. Von den 26 Millionen, denen der Flüchtlingsstatus bereits anerkannt wurde, halten sich die meisten Menschen – 3,7 Millionen – in der Türkei auf. Dahinter kommen Kolumbien, Pakistan und Uganda mit je 1,7 bis 1,4 Millionen. 

Europäische Erfahrungen

Deutschland als aufnahmestärkster EU-Staat steht mit aktuell 1,2 Millionen Personen an weltweit fünfter Stelle. Dabei zeigen die offiziellen Zahlen derzeit nicht, dass Migrationsämter auch nur annähernd so stark gefordert wären wie in den Jahren 2015 und 2016, als vor allem Menschen aus Syrien, Afghanistan und Irak um Schutz baten. Damals wurden 475 000 und 745 000 neue Anträge auf Asyl gestellt. In der ersten Jahreshälfte 2021 waren es noch gut 67 000, was im Trend der letzten Jahre liegt: Die Zahlen nahmen ab oder stiegen höchstens geringfügig.

Ähnlich sieht es in der gesamten Europäischen Union aus. Die 2,5 Millionen Anträge in den Jahren 2015 und 2016 markierten einen historischen Höhepunkt, von 2017 an sanken die Werte. 2020 waren es nur noch 470 000 Ansuchen in der EU und damit sogar deutlich weniger als noch vor dem plötzlichen Rekordjahr 2015. 

Vor diesem Hintergrund sagen die wiederkehrenden Bilder aus Flüchtlingslagern wie Moria – wo noch heute Tausende Personen auf engem Raum leben, oft ohne Strom und Wasser, und wo im September bei einem Brand mehrere Menschen starben – auch etwas über die EU aus: Die Tragik von der griechischen Insel Lesbos erklärt sich heute nicht durch eine Überforderung europäischer Kapazitäten zur Aufnahme von Flüchtlingen. Es mangelt schlicht an Einigkeit über den Umgang mit dem Thema. Sollten nun neue Flüchtlingsströme die EU erreichen, wären in Europas Grenzregionen also weitere Morias zu befürchten.
„Die Flüchtlingskrise ab 2015 hat die EU sehr deutlich geprägt“, sagt Thomas Gammeltoft-Hansen, Professor für Migration und Flüchtlingsrecht an der Universität Kopenhagen. „Sehr schnell war es eigentlich gar keine Flüchtlingskrise mehr, sondern eine Politikkrise zwischen den Staaten und auch Parteien innerhalb der Staaten. Man konnte sich nicht mehr einigen.“ Besonders deutlich wurde dies anhand des Dubliner Übereinkommens, das regeln soll, dass Flüchtlinge nur einmal in der EU registriert werden, und zwar dort, wo sie zuerst ankommen.

Keine Einigung

Aus administrativer Perspektive ergab das System ursprünglich Sinn: Durch die klar festgelegte Zuständigkeit würde vermieden, dass Asylsuchende zwischen den Ländern tingeln, weil sich gar kein Staat zuständig fühlt. Das Problem, dass EU-Grenzstaaten überwältigt werden könnten, existierte bei Inkrafttreten 1997 nicht. Damals gab es noch keine EU-Osterweiterung, und die meisten Flüchtlinge, die überwiegend aus dem ehemaligen Jugoslawien kamen, wollten ohnehin in die östlichen Grenzstaaten Deutschland und Österreich. 

Das System kollabierte ab 2015. Der plötzliche Anstieg der Asylanträge war ein Grund. Dass die Menschen vor allem in ökonomisch schwächelnden Ländern wie Italien, Griechenland und Ungarn erstmals EU-Territorium erreichten, war ein weiterer. Umständliche Verfahren verschlimmerten die Sache noch. EU-weit brach politisches Chaos aus. Vor dem Europäischen Parlament sagte Angela Merkel im Oktober 2015: „Seien wir ehrlich, das Dublin-Verfahren ist obsolet.“ 

Seitdem sind diverse Versuche gescheitert, feste Verteilungsschlüssel nach Bevölkerung und Wirtschaftskraft zu vereinbaren. Vor allem die ost- und mitteleuropäischen Länder Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn weigern sich, auch nur eine kleine Zahl von Flüchtlingen aus Ländern der ersten Ankunft aufzunehmen. Und wo man sich auf dem Papier doch einigen konnte, wurden die Deals oft nicht umgesetzt. Für den Migrationsexperten Thomas Gammeltoft-Hansen steht das Fehlen der Einigungen auf europäischer Ebene in direktem Zusammenhang mit diversen Initiativen, die seitdem in einzelnen Mitgliedstaaten unternommen werden. „Es wird derzeit etwas betrieben, das ich als Negativwerbung bezeichne. Die Länder signalisieren der Welt, dass Flüchtlinge bei ihnen keine guten Chancen haben.“ 

Abschreckungsorgane

Da sind die Wasserkanonen und das Tränengas, mit dem Polizisten in Griechenland und Ungarn gegen Flüchtlinge vorgehen. Da ist das Gesetz der dänischen Regierung, mit dem Asylsuchende in ein Drittland gebracht werden sollen, damit die Anträge dort geprüft werden, auch wenn dies vermutlich EU-Recht verletzen würde. Dänemarks Regierung schaltet zudem Anzeigen in Herkunftsländern von Flüchtlingen, um sie vor einer Reise abzuschrecken. Und im Prinzip, so Gammeltoft-Hansen, können je nach Handhabe auch die Migrant Resource Centres des ICMPD eine entsprechende Wirkung haben.

Dabei steht wohl nichts so deutlich für die Abschreckungspolitik Europas wie die Grenzschutzbehörde Frontex. Und dass sie von allen Seiten auf diversen Ebenen kritisiert wird, verdeutlicht das Scheitern der EU, was den Umgang mit dem Thema Migration angeht. Die 2004 gegründete Agentur wird seit 2016, inmitten der Krise rund um die Flüchtlingspolitik, massiv ausgebaut. Betrug das Jahresbudget der Agentur 2005 noch gut sechs Millionen Euro, sollen es bald 900 Millionen sein. Die Außengrenzen zu stärken, schien in den letzten Jahren der einzige gemeinsame politische Nenner der Mitgliedstaaten. 

Es ist ein ungewöhnliches Wachstum, das die noch junge Institution schon hinter sich hat. Die sonst bei großen EU-Vorhaben üblichen Pattsituationen gab es hier weniger, Vorschläge für den Aufbau von Frontex überboten sich. Neben eigenen Schiffen, Flug- und Fahrzeugen sowie Überwachungsinstrumenten verfügt die Behörde bald über eine „ständige Reserve“, mit der die Behörde künftig 10 000 eigene Grenzschützer in die EU-Peripherie schicken kann. Nach eigenen Angaben ist Frontex derzeit vor allem in Spanien, Italien, Griechenland und dem Westbalkan stationiert.

Skandalbehörde

Das Problem sehen die meisten Kritiker nicht in der Existenz der Behörde, sondern in ihrer Entwicklung. Leo Brincat, Mitglied des Europäischen Rechnungshofs, urteilte im Juni: „Frontex hat sich übernommen.“ Die Agentur funktioniere so schlecht, dass man an ihrer Daseinsberechtigung zweifeln könne. Da sind zunächst reichlich Managementprobleme. Und dass beim Aufbau der ständigen Reserve Dienstwagen und Uniformen gefehlt haben, sodass die Polizisten diese selbst kaufen mussten, ist nur die Spitze des Eisbergs. 

Anfang des Jahres wurde bekannt, dass das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) gegen Frontex ermittelt: Millionen Euro sollen für nicht funktionierende Software ausgegeben worden sein. Regressforderungen gegen die bereitstellenden Unternehmen seien aber nicht gestellt worden. Zudem gibt es Vorwürfe, in der Agentur habe es Mobbing gegeben. Außerdem sei Frontex durch sein Mandat, die Vernetzung von Forschung an Universitäten und bei Rüstungsunternehmen voranzutreiben, besonders anfällig für Lobbyismus. 

Auf Anfrage heißt es hierzu seitens Frontex nur: „Wir weisen diese haltlosen Vorwürfe zurück.“ Man sei transparent und habe sich nichts vorzuwerfen. Wobei andere Vorwürfe, auf die es von Frontex ähnliche Reaktionen gegeben hat, viel weiter reichen. „Frontex war an Einsätzen beteiligt, in denen es zu illegalen Pushbacks kam“, sagt Erik Marquardt, EU-Parlamentsabgeordneter der Grünen und Mitglied eines Ausschusses, der sich mit dem Gebaren der Behörde beschäftigt. Auch der UNHCR hat mehrere Fälle angemahnt, bei denen Frontex in der Nähe war, als Boote, die sich der europäischen Küste näherten, zurück ins Meer gedrängt wurden. Frontex streitet dies allerdings ab, man wisse von nichts. 

Den Hahn abdrehen

Kaum jemand ist überzeugt. „Wir hätten schon einen sehr unfähigen Grenzschutz, wenn Frontex wirklich nichts von den Pushback-Aktionen wüsste“, sagt Sebastian Koch von der deutschen NGO Seebrücke, die sich für zusätzliche Aufnahmen von Flüchtlingen und Seenotrettungen einsetzt. Zudem beteiligt sich Frontex daran, dass Flüchtlinge nach Libyen zurückgebracht werden, wo ihnen dann Folter bevorsteht. Das Auswärtige Amt hat die Umstände dort als „KZ-ähnlich“ bezeichnet. „Damit werden europäisches Recht und die Genfer Flüchtlingskonvention verletzt“, so Koch. „Es ist nicht die Aufgabe von Frontex, den Menschen den Antrag auf Asyl zu verwehren.“ 

Wegen all dieser Vorwürfe hat es das EU-Parlament zuletzt abgelehnt, den Haushalt von Frontex zu entlasten. Bernd Kasparek, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor des gerade erschienenen Buches „Europa als Grenze“, hält diesen Schritt für folgerichtig. „So, wie Frontex derzeit strukturiert ist, lässt sich kaum anders auf die Agentur einwirken, als ihr den Hahn abzudrehen.“ Kasparek glaubt aber auch, dass hinter all den Affären rund um Frontex ein grundsätzlicheres Problem steckt: „Die Agentur ist zwar einerseits zu schnell gewachsen. Andererseits ist sie aber auch zu schwach für das, was sie leisten soll.“

Vertane Chancen

Dass Frontex in den EU-Grenzgebieten weiterhin eher als Gast auftritt, der sich jeweils mit der beheimateten nationalen Grenzpolizei abstimmen muss, sei dafür nur ein Grund. Der wichtigere sei, dass all die schnell für Frontex mobilisierten Ressourcen davon ablenken, wie lückenhaft die Asyl- und Migrationspolitik der EU weiterhin ist. „In der Migrationsforschung gilt es als überholt zu denken, dass man Migration stoppt, indem man auf harte Grenzen und Abschreckung setzt“, sagt Kasparek. „So simpel funktioniert das nicht.“ Eher solle man Migration als Teil der Realität anerkennen und die Chancen in ihr suchen.
Einiges spricht dafür, dass sich die EU auch entsprechend verhalten würde, wenn das Thema nur auf europäischer Ebene angesiedelt wäre, etwa wie beim Umgang mit Arzneimitteln oder in der Agrarpolitik. Schließlich scheitert Europas Politik derzeit nicht nur politisch an seinen Außengrenzen. Ökonomisch gesehen kostet die Abwesenheit einer klar geregelten Asylpolitik sogar in zweifacher Hinsicht. Erstens werden im Moment rund zwei Drittel der Asylanträge, die allein in Deutschland durchschnittlich ein Dreivierteljahr dauern, abgelehnt. Behörden würden sich diese Arbeit lieber sparen.

Zweitens entgehen der EU aber womöglich wertvolle Arbeitskräfte. Das glaubt nicht nur der grüne EU-Parlamentsabgeordnete Erik Marquardt, der sich dafür ausspricht, auch bei abgelehnten Asylbewerbern zu schauen, ob sie nicht bleiben können: „Es macht keinen Sinn, Menschen abzuschieben, die in Arbeit und Ausbildung sind und die auch auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden.“ Auch der konservative Ex-Vizekanzler Michael Spindelegger aus Österreich sieht vertane Chancen: „Wer zukunftsorientiert ist, wird Wege finden müssen, wie man Migration zulassen kann.“ Und man könne Asyl- und Migrationspolitik als zwei Seiten einer Medaille sehen.

Düstere demografische Aussichten

„Bei Arbeitsmigration ist die EU schwach aufgestellt“, so Spindelegger. „Und es gibt mehrere Experten, die davon ausgehen, dass gut regulierte Arbeitsmigration ein wirksames Mittel gegen irreguläre Migration sein kann.“ Nur seien die wenigen Initiativen auf EU-Ebene – wie die Blue Card für Fachkräfte aus Drittländern – bisher zu restriktiv gewesen, als dass sie die gewünschten Effekte erzielt hätten. Die EU-Kommission drückte das in einer Analyse von 2019 so aus: „Das aktuelle rechtliche Migrationssystem hat einen begrenzten Einfluss angesichts der Herausforderungen, denen Europa gegenübersteht.“
Das ist nicht neu. Schon im Krisenjahr 2015 befand eine Studie für die EU-Kommission, dass es akut an Arbeitskräften mangelte. Darin hieß es: „Während es einige Instrumente gibt, um Arbeitskräftemangel auf EU-Ebene zu identifizieren – wie Prognosen, Arbeitgeberbefragungen und Ad-hoc-Studien –, erwägen diese Instrumente nicht, wie Migration diese Engpässe beheben könnte.“ An anderer Stelle: „Die meisten Mitgliedsländer sehen Migration als Teil einer breiteren Strategie, mit Arbeitskräftemangel umzugehen.“ Nur werde kaum koordiniert.

Die demografische Entwicklung auf dem Kontinent erhöht den Arbeitskräftemangel Jahr für Jahr. Die europaweite Geburtenrate von 1,5 Kindern, die eine Frau in ihrem Leben durchschnittlich zur Welt bringt, liegt deutlich unter dem für eine konstant bleibende Bevölkerungszahl nötigen Wert von 2,1. Zusammen mit der hohen und weiter steigenden Lebenserwartung führt dies nicht nur zu Nachwuchsmangel, sondern auch dazu, dass heute schon ein Fünftel der Menschen in der EU im typischen Rentenalter von mindestens 65 sind. Bis 2040 steigt dieser Anteil bis auf Weiteres auf rund 30 Prozent. 

Ohne deutliche Strukturreformen wird dies früher oder später zu deutlichen Belastungen für Sozialsysteme führen und die wirtschaftliche Entwicklung hemmen. Ein Teil der Lösung könnte gezielte Migration sein. Und theoretisch könnte jetzt, wo das akute Krisengefühl hier nachgelassen hat, der richtige Zeitpunkt für kluge Entscheidungen mit kühlem Kopf sein. Auch im deutschen Bundestagswahlkampf zeigt sich, dass die Parteien das Thema Migration, anders als 2017, diesmal nicht in den Vordergrund stellen.

Weiterhin Abwehrhaltung

Womöglich hat die EU-Kommission auch mit diesem Hintergrund im vergangenen September ihren neuen „Pakt zur Migration“ vorgeschlagen. Was den Umgang mit Flüchtlingen angeht, schwebt der federführenden Kommissarin Ylva Johansson aus Schweden nun eine „verbindliche Solidarität“ vor: Wer niemanden aufnehmen will, soll zumindest die Abschiebung abgelehnter Asylantragsteller finanzieren. Die Bearbeitungsprozesse sollen beschleunigt werden, unter anderem durch Vorprüfungen an den Außengrenzen. Ein Schritt in diese Richtung ist eine neue Asylagentur, auf die sich die EU Ende Juni geeinigt hat und die die Mitgliedsländer künftig durch koordinative Aktivitäten unterstützen soll.

Beim Vorhaben des neuen Paktes bleibt allerdings ebenso unklar, auf welche Weise Lager wie das in Moria verhindert werden sollen, wie auch, dass Drittstaaten die abgelehnten Flüchtlinge überhaupt wieder aufnehmen. Hinzu kommt, dass der Pakt weiterhin die Handschrift eines Abwehrmechanismus hat, nicht die eines aktiven Umgangs mit Migration, als teilweise steuerbare Chance für die eigenen Arbeitsmärkte. Sylvie Sarolea, Professorin für Migrationsrecht an der Katholischen Universität Löwen in Belgien, kritisiert den Pakt in dieser Sache: „Kein Gesetzesvorschlag wird gemacht, und viele Kernthemen bleiben ungelöst.“ Dazu passe, dass der Text „in ausweichender Sprache“ verfasst sei.

Überhaupt zeichnet sich bisher keine Einigung zwischen den Mitgliedstaaten ab, was ein neues Rechtsgerüst für eine EU-Migrations- und Asylpolitik angeht. Europaabgeordneter Erik Marquardt ist hier so wenig optimistisch wie Michael Spindelegger, dass dies in Kürze der Fall sein wird: Um sich vorausschauend neu aufzustellen, gehe es in Europa ohne den Krisenmodus wohl auch nicht.

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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