Polen - Die Verfassungspatriotin

Als Präsidentin des Obersten Gerichts widersetzt sich Malgorzata Gersdorf der umstrittenen Justizreform in Polen – und verkörpert so die Kritik an der Regierung. Ein Porträt

Malgorzata Gersdorf: Unfreiwillige Symbolfigur des Widerstands gegen die Aushebelung des Rechtsstaats in Polen / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

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In den fünfziger Jahren lebte im Warschauer Stadtteil Zoliborz ein Zwillingsbrüderpaar, deren Hof hinter dem elterlichen Wohnhaus sich nicht besonders gut zum Spielen eignete. Er war winzig und ähnelte eher einem Kleingarten als einem Ort, an dem Kinder toben können. So fanden die Geschwister, gemeinsam mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft, in einem nahegelegenen Hinterhof einen Spielplatz. „Alle haben in meinem Hinterhof gespielt, weil er viel größer war“, erinnerte sich jüngst eine 65-Jährige in einem Interview für die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza an die damalige Zeit.

Die Frau heißt Malgorzata Gersdorf und ist seit 2014 Präsidentin des Obersten Gerichts. Die Zwillinge waren Lech und Jaroslaw Kaczynski. Lech, der 2005 zum Staatspräsidenten gewählt wurde und am 10. April 2010 zusammen mit seiner Ehefrau Maria und 94 weiteren Personen bei dem Flugzeugabsturz von Smolensk ums Leben kam. Jaroslaw, ein einfacher Parlamentsabgeordneter, der als allmächtiger Chef der PiS seit der Wahl von 2015 der wahre starke Mann des Landes ist.

Die Verfassung kennt keine Altersgrenze

Mit der Bezeichnung „Präsidentin des Obersten Gerichts“ sind Kaczynski und seine Partei jedoch nicht einverstanden, wie Ende Juli der Karlsruher Bürgermeister Frank Mentrup erfahren musste. „Frau Gersdorf ist Gerichtspräsidentin a. D“, hieß es in einem Schreiben der polnischen Botschaft in Berlin an Mentrup. Damit wollte die polnische Seite verhindern, dass Gersdorf bei ihrem Vortrag in Karlsruhe als amtierende Präsidentin des Obersten Gerichts vorgestellt wird. Vergeblich. Bei der Reinhold-Frank-Gedächtnisvorlesung, die vom Bundesverfassungsgericht und dem Bundesgerichtshof mitveranstaltet wird, trat sie offiziell als aktuelle Gerichtspräsidentin auf.

Nach Ansicht der Nationalkonservativen ist Malgorzata Gersdorf seit dem 4. Juli im Ruhestand. Verantwortlich dafür ist die vor einem Jahr von der PiS durchgesetzte Justizreform, die für das Oberste Gericht nicht nur die Schaffung von zwei neuen Kammern vorsieht. Auch sollen Richter, die das 65. Lebensjahr vollenden, in den Ruhestand treten. Eine Entscheidung, gegen die sich die Richter wehren und dabei auf die polnische Verfassung verweisen. Diese sieht eine Amtszeit von sechs Jahren vor. Im Fall von Gersdorf würde sie demnach noch bis 2020 dauern. „Ich kämpfe für den Staat, die Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung der Verfassung“, sagte die Gerichtspräsidentin entsprechend bei ihrer Rede in Karlsruhe.

Schmutzkampagne gegen Gersdorf

Nicht zum ersten Mal begründet Gersdorf ihre Ablehnung der auch in der EU kritisierten Justizreform mit dem Verweis auf die Verfassung und avancierte dadurch, auch wegen der schwachen Opposition, zur Symbolfigur des Widerstands gegen die Aushebelung des Rechtsstaats durch die PiS. Eine Rolle, die sie niemals einnehmen wollte. „Mich interessierte immer nur das Rechtswesen“, wiederholt Gersdorf seit Monaten demonstrativ. Was man ihr bei einem Blick auf ihre Vita durchaus abnimmt. Bereits ihr Vater war Justizprofessor; sie selbst legte 1975 an der Warschauer Universität ihr Juraexamen ab und startete eine wissenschaftliche Laufbahn. Außerdem erwarb sie den Richterstatus und war seit den 2000ern als Beraterin des Obersten Gerichts tätig. Sie hielt sich stets an die polnische Verfassung, die Richtern eine Parteimitgliedschaft verbietet.

Trotzdem ist Malgorzata Gersdorf seit Monaten einer Schmutzkampagne der regierungsnahen Presse und von PiS-Politikern ausgesetzt. Man wirft ihr – ebenso wie der gesamten als „Kaste“ ver­unglimpften Richterschaft – vor, Politik zu betreiben und eigene Vorteile zu schützen. Es fällt der Vorwurf des „Putsches“. Nach ihrem Auftritt in Karlsruhe musste sich Gersdorf gar als Verräterin beschimpfen lassen. Verbale Attacken, die mit der Entscheidung des Obersten Gerichts, den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg die Frage des Rentenalters auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen zu lassen, zugenommen haben.

An vorderster Stelle der Kritiker steht dabei Stanislaw Piotrowicz, Hauptautor der PiS-Justizreform und eine Figur, die symbolhaft für die Doppelmoral der nationalkonservativen Politik steht. Denn er und seine Parteifreunde werfen der Opposition vor, niemals mit der Nomenklatura der kommunistischen Volksrepublik Polen abgerechnet zu haben. Auch die Justizreform wird damit begründet, was im Parlament seit 2015 unüberhörbar war: Ihre wegen der klaren Mehrheit sicheren Abstimmungserfolge feierte die PiS mit „Weg mit dem Kommunismus“-Rufen. Besonders lautstark war dabei Piotrowicz, ein ehemaliger Staatsanwalt, der in den achtziger Jahren Solidarnosc-Oppositionelle verfolgte. Jener legendären Gewerkschaftsbewegung, in der sich Gersdorf damals engagierte.

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.

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