Lkw-Fahrermangel in Großbritannien - Kann Johnson Weihnachten noch retten?

Brexit und Corona machen den Briten zu schaffen. 100.000 Lkw-Fahrer fehlen. Es kommt zu Versorgungsengpässen in Supermärkten. Tankstellen sind entweder geschlossen oder rationieren, lange Schlangen sind die Folge. Viele fühlen sich an die Ölkrise der Siebzigerjahre erinnert.

Britische Autofahrer stehen an einer Tankstelle für Benzin in einer langen Warteschlange an / dpa
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Die britische Zeitungslandschaft kennt derzeit nur ein Thema: „Boris kämpft um Weihnachten!“ titelte die Daily Mail: „X-Mas soll nicht durch die Versorgungskrise ruiniert werden.“ Andere sind weniger freundlich. The Times, das Sprachrohr des gediegenen Bürgertums, konnte am Mittwoch der Leserschaft keine gute Nachricht überbringen: „Benzin-Engpass könnte einen Monat dauern.“

Nicht nur in London stehen Autofahrer stundenlang an, um am Ende für 35 Pfund (40 Euro) tanken zu dürfen. In der britischen Hauptstadt mit neun Millionen Einwohnern gibt es pro Kopf gesehen weniger Tankstellen als auf dem Land. Die Schlangen reichen teilweise um ganze Häuserblöcke. Dafür gibt es in London natürlich mehr Ausweichmöglichkeiten, öffentliche Verkehrsmittel wie die Tube fahren im Minutentakt – und sie werden elektrisch betrieben.

In ländlichen Gebieten verursacht die Bezinknappheit deshalb weit größeren Stress. „Meine Anzeige steht auf Rot und ich muss in einer halben Stunde meinen Dienst im Krankenhaus beginnen, das 30 Meilen entfernt ist“, klagt am Mittwoch eine Ärztin im BBC-Morgenradio. Sie sitzt gerade in der Grafschaft Kent in einer Schlange vor einer Tankstelle fest.

„EU-Austritt trägt zur Krise bei“

Für Premierminister Boris Johnson ist die Sache äußerst unangenehm. Wenn seinen Wählern etwas nahe geht, dann die Kombination aus diesen drei Schlagworten: Weihnachten, Benzin und Winter.

Ein vierter Begriff wird derzeit wieder oft erwähnt – zumindest in jenen Kreisen, die immer schon dagegen waren: der Brexit. „Der Austritt aus der EU trägt natürlich zu dieser Krise bei“, sagt Rachel Reeves, Schattenfinanzministerin der Labour-Party auf der jährlichen Parteikonferenz, die an diesem Mittwoch im südenglischen Seebad Brighton zu Ende ging. „Teilweise ist die Corona-Pandemie an der Versorgungskrise schuld, aber wenn man die Arbeitskräfte aus der EU nach Hause schickt, dann muss man sich über die Folgen nicht wundern.”

Zu viele Dokumente, zu viel Zeitverlust

Die Regierung beharrt darauf, dass es in den Raffinerien genug Treibstoff gibt. Es wird nur viel zu wenig davon auf die Tankstellen verteilt, weil etwa 100.000 Lkw-Fahrer fehlen. Der Grund ist einfach: Viele Fahrer aus der EU tun sich die mühsame Britannien-Strecke nicht mehr an. Seit dem endgültigen Austritt der Briten aus dem EU-Binnenmarkt Ende 2020 fallen zu viele Extradokumente und Zeitverlust an. Sie machen die Arbeit bei den Engländern unrentabel.

Aufgrund der Pandemie fehlt es auch in anderen Ländern an so manchem, nicht zuletzt an Arbeitnehmern. Doch selbst wenn Boris Johnson das nicht gerne hört: In der EU mit 440 Millionen Einwohnern gleicht der Binnenmarkt mit Freizügigkeit im Güter- und Personenverkehr Versorgungsschwierigkeiten besser aus. Die EU-Regeln, die mit Mühe und Kompromissbereitschaft errungen wurden, machen Sinn. Vor allem in der Krise.

Im Inselstaat Britanniens mit 66 Millionen Bürgern zeigen sich jetzt erstmals die drastischen Konsequenzen des populistischen Projektes. Die Versprechen, dass es dem Vereinigten Königreich nach dem Austritt viel besser gehen wird, wirken derzeit schal.

„Mein geheimes Brexit-Tagebuch“

Einer, der seine Schadenfreude kaum verhehlt, ist Michel Barnier. Als EU-Kommissar war er zuständig für die Brexit-Verhandlungen. Jetzt hat der Franzose, der gerne noch französischer Präsident werden möchte, gerade seine Brexit-Memoiren auf Englisch unter dem für einen EU-Bürokraten geradezu reißerischen Titel „Mein geheimes Brexit-Tagebuch“ publiziert. Bei einer Veranstaltung im Thinktank Chatham House sagt er: „Die Benzin-Krise ist eine direkte Folge des EU-Austritts, das kann jetzt keinen überraschen.“

Die Brexit-Folgen werden Boris Johnson weiter beschäftigen. Bis zum Austritt aus dem Binnenmarkt haben Fahrer aus der EU die fehlenden britischen Fahrer ausgeglichen. Doch seitdem sind insgesamt 25.000 EU-Fahrer nicht mehr in Großbritannien im Einsatz.

100.000 Fahrer fehlen

Wie will Johnson nun X-Mas für seine Briten retten? Sein „Kampf um Weihnachten“ besteht erst einmal darin, dass er das Militär einsetzen will, um die fehlenden Lkw-Fahrer zu ersetzen. Außerdem hat er seine Innenministerin Priti Patel angewiesen, temporäre Arbeitsvisa bis Weihnachten für Jobsuchende aus der EU auszustellen, darunter 5.000 zusätzliche Lkw-Fahrer und 5.500 Fachkräfte, die zum Beispiel Truthähne zerlegen könnten.

Nach Angaben englischer Trucker-Firmen ist das alles viel zu wenig. 100.000 Fahrer fehlen derzeit. Rund 40.000 angehende Lkw-Fahrer warten auf Zulassung, heißt es vonseiten der Regierung: „Während der Pandemie durften keine Führerscheinprüfungen stattfinden“, klagt Verkehrsminister Grant Shapps. Tausende Fahrer sind außerdem während der Pandemie auf andere Jobs umgestiegen oder in Pension gegangen – die Bedingungen sind in Großbritannien wegen fehlender Trucker-Stationen und Schlafplätze auf Autobahnen und einem Arbeitstag von bis zu 15 Stunden mit nur kurzen Pausen höchst unattraktiv.

Höhere Energiepreise

Ältere Briten fühlen sich in diesen Tagen an die Ölkrise in den 1970er-Jahren erinnert. Die Gründe lagen damals im Nahen Osten, doch die höheren Energiepreise traumatisierten eine ganze Generation. Damals war sogar davon die Rede, die aus dem Zweiten Weltkrieg übrig gebliebenen Essens-Coupons einzusetzen. Steigende Inflation, Konflikte mit den Bergarbeitern, Streiks der Gewerkschaften und eine Drei-Tage-Woche waren die Folge – Labour-Chef Harold Wilson löste Tory-Premier Edward Heath 1974 als Premier ab. Der Verfall der einst so berühmten britischen Autoindustrie beschleunigte sich durch die Energiekrise.

Es ist nicht anzunehmen, dass Boris Johnson über den Versorgungsengpass im Herbst 2021 stürzt. Doch dieser Engpass könnte sich bewusstseinsverändernd auswirken. Eine größere Unabhängigkeit von Benzin-Autos dürfte auch in Zukunft eine gute Option werden. Die britische Regierung hat festgelegt, dass von 2030 an keine Benzin- und Diesel-Autos mehr verkauft werden dürfen. Der ehemalige Chefredakteur der Financial Times, Lionel Barber, kommentiert am heutigen Mittwoch auf Twitter, diese Deadline sei zumindest in den Köpfen vieler, „gerade auf diese Woche vorgezogen worden“.

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