Lage an der EU-Außengrenze - Augen zu und durch?

An der EU-Außengrenze zu Belarus harren seit Wochen Migranten aus, die in die Europäische Union gelangen wollen. Die Grenze, wie 2015, einfach zu öffnen, wäre der falsche Weg. Aber genauso falsch ist es, einfach wegzusehen und diese Menschen sich selbst zu überlassen.

Decken und Schlafsäcke liegen in einem verlassenen Lager im Wald an der Grenze zwischen Polen und Belarus / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Es sind Bilder, die die geballte Ohnmacht der Europäischen Union zeigen: eine Grenze aus Stacheldraht, Menschen werden hin- und hergestoßen. Belarus schiebt sie nach Polen ab, die Polen drängen sie zurück. Solche Pushbacks sind völkerrechtswidrig. Und sie sind eigentlich auch ein Verrat an den Werten der Europäischen Union, die in Artikel 2 des EU-Vertrags die Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte festgeschrieben hat.

Doch das geht dieser Tage unter, wenn Politiker der Union vor allem die Gefahr durch Menschen beschwören, die tage-, wenn nicht wochenlang im Niemandsland der Grenze ausharren und punktuell versuchen, auf die andere Seite zu gelangen; wenn sie sich darin überbieten, Polen ihre Unterstützung im Kampf gegen illegale Migration zu versprechen. Mehr Personal an der Grenze, noch höhere Zäune, am besten eine Mauer. Das ist alles, was Vertretern der Parteien mit dem C im Namen, CSU und CDU, einfällt.

Die Menschen hätten nicht den Umweg über Minsk nehmen müssen, hat Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) gerade im Interview mit der Bild am Sonntag gesagt. Sie hätten ja direkt nach Deutschland fliegen können. Es gebe schließlich klare Regeln bei der Zuwanderung. Und wer die verletze, so Kretschmer, müsse mit den Konsequenzen rechnen. Im Klartext: Selbst schuld, wer die Einladung des belarussischen Diktators Lukaschenko angenommen hat. 

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Eine Region im Ausnahmezustand 

Aussagen wie diese sind an Zynismus kaum zu überbieten. Kretschmer hat zwar recht, wenn er den Menschen unterstellt, sie würden versuchen, das geordnete Verfahren zu umgehen, wohlwissend, dass, wer es einmal nach Deutschland  geschafft hat, eine reelle Chance hat, zu bleiben. Auch dann, wenn sein Asylantrag abgelehnt wird. Aber das heißt eben nicht, dass die EU wegschauen darf, wenn Menschen zwischen Belarus und Polen verhungern, verdursten oder erfrieren.

Eine Lobby haben diese Menschen kaum. Beide Länder, Polen und Belarus, haben den Ausnahmezustand für das Sperrgebiet erklärt, was faktisch einer Nachrichtensperre gleichkommt. Journalisten dürfen das Niemandsland nicht betreten. Das eröffnet der staatlichen Propaganda Tür und Tor. Beide Länder versuchen, die Verantwortung für das Leid der Migranten der Gegenseite zuzuschieben. Schuld sind eben immer die anderen. Und die EU?

Die versucht vor allem, Flüge aus dem Nahen Osten zu stoppen, um den Schleppern das Handwerk zu legen und den Erpresser Lukaschenko in seine Schranken zu weisen. Das mag richtig und wichtig sein, reicht aber nicht. Die EU muss den Menschen, die schon da sind, helfen. Doch dazu macht sie keine Anstalten. Es ist wie im März 2020, als der türkische Präsident Erdogan Tausende von Migranten an die Grenze zu Griechenland karrte, um die EU unter Druck zu setzen. Um Geld dafür zu erpressen, dass er die Flüchtlinge dann doch zurückhielt.

Auch damals duckte sich die EU de facto einfach weg. Sie sei zutiefst besorgt über Medienberichte über das harte Vorgehen gegen die Flüchtlinge, hatte die heutige Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, damals in Richtung Griechenland erklärt, Doch als sich die Lage an der EU-Außengrenze wieder entspannte, bedankte sie sich bei den griechischen Sicherheitskräften für genau dieses harte Vorgehen. „Die Grenze ist  schließlich nicht nur eine griechische Grenze, sondern die EU-Außengrenze“, sagte von der Leyen damals. Das Land sei „Europas Schild“ gewesen.  

Finger in die Wunde 

Es ist diese Bigotterie der EU, die es dem belarussischen Diktator Lukaschenko erlaubt, sein schmutziges Spiel mit den Migranten zu spielen und sie als Waffe zu nutzen, um sich für die EU-Sanktionen zu rächen und die EU weiter zu spalten. Die kann von ihm ja nur deshalb erpresst werden, weil sie die Menschenrechte in der Flüchtlingsfrage schon in der Vergangenheit verraten hat. Es ist diese offene Wunde der Europäischen Union, in die Lukaschenko den Finger legt.

Das Dilemma ist offensichtlich: Einerseits darf man diese Menschen nicht erfrieren lassen. Andererseits: Die Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze nun auf die EU zu verteilen, wie es Grünen-Chef Robert Habeck gefordert hat, wäre auch der falsche Weg. Es wäre ein Sieg für Lukaschenko. Denn die EU würde damit das Signal nach Nordafrika und in den Nahen Osten senden: Hereinspaziert – der Weg nach Europa ist frei! Denn dann kommen eben nicht die Ärmsten der Armen, sondern Menschen, die es sich leisten können, fünfstellige Euro-Beträge für die Reise in eine sicherere Zukunft zu bezahlen.

Es ist eine gefährliche Reise. Einige haben sie schon mit ihrem Leben bezahlt. Eine Irakerin, die im September leblos auf belarussischer Seite gefunden wurde, war das erste Opfer in diesem hybriden Krieg, wie westliche Politiker die von Lukaschenko orchestrierte illegale Migration nennen. Mit ihrem Mann und den drei Kindern hatte sie es schon auf die polnische Seite geschafft. Dann benachrichtigte jemand den Grenzschutz. Der stieß sie zurück nach Belarus. Barfuß und ohne Jacke, berichtet die taz.

Wo bleibt die Erste Hilfe?

Darf die EU die Augen vor solchen Menschenrechtsverletzungen verschließen? Nein, und sie spielt dem Diktator auch nicht in die Hände, wenn sie schleunigst Ärzte und Helfer ins Grenzgebiet schickt. Eine humanitäre Erstversorgung ist das Mindeste, was der Westen jetzt tun kann, nein, tun muss. Dass die EU diese Aufgabe privaten Organisationen wie der Seebrücke oder dem UN-Flüchtlingswerk überlässt, ist ein Skandal.

Die Migranten weiter dorthin zu bringen, wohin die meisten wollen, nämlich nach Deutschland, ist aber auch nicht die Aufgabe der EU. Die Wirkung wäre verhängnisvoll. Wir reden hier zwar nur von einigen Tausend Menschen, nicht von 1,8 Millionen wie 2015. Doch als „Türöffner“ für andere dürfen sie nicht herhalten – auch dann nicht, wenn sie schon in Europa sind. Einige der Menschen treten ohnehin bereits die Rückreise in ihre Heimatländer an. Er schäme sich, dass er dem belarussischen Diktator in die Falle getappt sei, hat ein kurdischer Familienvater Journalisten gesagt. 

Bei der Rückreise könnte die EU auch anderen Migranten helfen. Die symbolische Kraft solcher Bilder darf nicht unterschätzt werden. Diese Hilfe entbindet die EU aber nicht von der Pflicht, schleunigst alle 27 Staaten an einen Tisch zu holen, um das System der Verteilung von Flüchtlingen und Migranten zu reformieren. Denn seit 2015 tritt das Projekt einer gemeinsamen EU-Migrationspolitik auf der Stelle.

Zugegeben: Es ist eine schwierige, wenn nicht gar unlösbare Aufgabe. Aber nun wäre der richtige Zeitpunkt, endlich die nötigen Fortschritte bei dem Thema zu machen. Denn der Winter steht vor der Tür. Wieviel Menschen müssen noch sterben, damit die EU aus ihrer Schreckstarre erwacht?       

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