Krim - Wir haben es immer geschafft

Seit die Krim von Russland annektiert wurde, fühlen sich die dort lebenden Tataren an den Rand gedrängt. Viele haben resigniert. Aber manche träumen immer noch von der Autonomie

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Krimtataren gedenken den Opfern der Deportation / Moritz Küstner
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Ayvaz Ozmanov sind nur noch die Hühner geblieben. 45 Tiere. Ein Drittel hat gutes Fleisch, ein Drittel legt viele Eier, das letzte Drittel kann von beidem ein bisschen. Vier Hähne dazu.

Das Vieh ist das Erste, worum sich Ozmanov am Morgen kümmert. Er füttert es ein weiteres Mal, bevor er am Abend die Haustür von innen abschließt. Dazwischen liegen lange Tage in dem Dorf Werchoretsche auf der Halbinsel Krim.

40 Kilometer entfernt, in der Hauptstadt Simferopol, ziehen an diesem Tag Menschen mit Transparenten durch die Innenstadt. Es steht dort geschrieben: „Wir erschaffen eine bessere Krim.“ Was die Menschen feiern, weiß Ayvaz Ozmanov nicht. Er sagt: „Es wird heutzutage auf der Krim so viel gejubelt.“ Ozmanov hat schon lange keinen Grund mehr zum Feiern. 

Tartaren werden unter Druck gesetzt

Ayvaz Ozmanov ist 51 Jahre alt und Krimtatar. Er ist verheiratet mit einer Krimtatarin, Alime, 45 Jahre alt. Gemeinsam haben sie eine 23-jährige Tochter, Emine, die meistens an der Nähmaschine hockt, einen 20-jährigen Sohn, Dzhemil, der in der Hauptstadt studiert, und noch eine Tochter, Eftade, vier Jahre alt, „Zufallskind“, sagen ihre Eltern. 

Die Tataren sind eine Minderheit, jetzt mehr denn je. Etwa 15 000 Tataren haben die Krim verlassen, seit Russland im Februar 2014 die Halbinsel annektierte. Die meisten sind in die Ukraine gezogen. Ozmanov sagt, solange er noch Luft zum Atmen habe, werde er die Krim nicht verlassen.

Die russischen Behörden haben dem krimtatarischen Fernsehsender ATR die Lizenz entzogen, die politische Vertretung der Tataren, die Medschlis, wurde zur terroristischen Vereinigung erklärt und verboten. Die Tataren berichten von mindestens 20 ihrer Landsleute, die verschwunden sind – sie vermuten Verschleppung und Mord. Ayvaz Ozmanov vergleicht sich mit einem Stück Kohle: „Je größer der Druck, desto stärker werde ich. Am Ende bin ich ein Diamant.“

Ein Abend in Werchoretsche, im Haus der Ozmanovs brennt in allen Zimmern Licht. Plötzlich fällt der Strom aus. Das Licht erlischt, das Rattern von Emines Nähmaschine erstirbt. Eftade, die vor dem Computerbildschirm sitzt, brüllt: „Ich sehe nichts mehr.“ Alime Ozmanov knipst die LED-Lampen an, die wie eine Festbeleuchtung an der Küchendecke hängen. Sie sind angeschlossen an eine Autobatterie. Der Kühlschrank brummt weiter, er hängt an einem Generator.

Leiser Widerstand und grimmiges Durchhalten

Jeden Morgen von 7.30 Uhr bis 9 Uhr fällt der Strom aus, jeden Abend von 18.30 Uhr bis 20.30 Uhr. Im November 2015 zerstörten Tataren und ukrainische Nationalisten die größten Strommasten in der Ukraine, die die Krim mit Elektrizität versorgten. Noch immer hat Russland die Versorgungslücke nicht vollständig geschlossen, die Dörfer werden stundenweise vom Netz genommen.

Für Ayvaz Ozmanov sind das die besten Stunden des Tages. Die Familie sitzt in der Küche im kühlen LED-Licht zusammen und lächelt verschwörerisch. Emine, die große Tochter, von der die Mutter behauptet, sie ähnele immer mehr ihrem grimmigen Vater, sagt: „Da haben wir den Russen endlich mal gezeigt, wer Herr im Hause ist.“ 

Unbemerkt von der Weltöffentlichkeit kämpfen die Tataren um Status und Rechte. Selbst ernannte „Verteidiger der Krim“ kontrollieren Lastwagenfahrer im Niemandsland zwischen den letzten ukrainischen Stellungen und der Halbinsel. Lebensmitteltransporte kommen kaum durch, Generatoren auch nicht. Ayvaz Ozmanov zeigt auf seinem Handy Videos von Protestmärschen und Blockaden, er an vorderster Front. Er trägt diese Erlebnisse wie unsichtbare Orden an seiner Jacke.

Der Konflikt spaltet die Bevölkerung

Doch je länger der Konflikt dauert, desto unübersichtlicher wird er. Nicht aus jedem Tataren macht der Druck einen Diamanten. Ayvaz Ozmanov erzählt mit eng zusammengezogenen Augenbrauen. Er sagt, von 33 Mitgliedern der Medschlis hätten sich fünf auf die Seite der Russen geschlagen. Ein Tatar ist Sprecher der russischen Krimregierung. Und der Mufti, religiöses Oberhaupt der Tataren, hat nach Ansicht Ozmanovs in letzter Zeit zu oft mit den neuen Machthabern gesprochen. Der ist jetzt auch sein Gegner.

Ayvaz Ozmanov wurde in Usbekistan geboren. Dorthin wurden die meisten Tataren nach dem Zweiten Weltkrieg deportiert, von den Sowjets der Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht beschuldigt. Erst Michail Gorbatschow rehabilitierte die Tataren, sie kehrten Anfang der neunziger Jahre auf die Halbinsel zurück.

Ayvaz Ozmanov, gelernter Förster, fuhr 1991 zum ersten Mal auf die Krim. Er fand das Geburtshaus seines Vaters zerstört, beschloss aber, niemals wieder fortzugehen. In Werchoretsche besetzte er Land – illegal. Er trug einen Hügel ab und baute ein Haus – ohne Genehmigung. So machten es damals fast alle Rückkehrer. Alime und Ayvaz Ozmanov waren die Ersten, die in der wiedereröffneten Moschee in der ehemaligen Tatarenhauptstadt Bachtschissarai heirateten. Und als die erste Tochter Emine geboren wurde, sagte Ayvaz Ozmanov zu Freunden und Verwandten: „Entweder ihr sprecht Tatarisch mit ihr oder gar nicht.“ Er selbst lernte Tatarisch mit dem Kleinkind, in Usbekistan war er auf Russisch erzogen worden. Er las zum ersten Mal den Koran. Er dachte damals, die Krim würde sie alle glücklich machen.

Russische Behörden verbieten tatarische Einkommensquellen 

Ayvaz Ozmanov fährt das Tal des Flusses Katscha entlang. Er hält an einer Stelle, an der Felswände ein Halbrund bilden. Hier betrieb Familie Ozmanov lange einen Imbiss. Ayvaz hatte den Ort entdeckt. Er schaffte drei Wagenladungen Müll fort, mauerte einen Ofen, baute einen Pavillon. Alime grillte Schaschlik, Ayvaz führte Touristen herum. An einer Felswand fanden Archäologen Zeichnungen aus der Bronzezeit. „Sogar aus Simferopol kamen die Leute zu uns“, sagt Ayvaz Ozmanov. 

Im Herbst 2014 gab die Familie den Imbiss auf, die neuen russischen Behörden verlangten nach dem Gewerbeschein, den die Ozmanovs nicht hatten. Ihre Anträge wurden seither abgelehnt. Unter dem Felsen mit den Zeichnungen liegt wieder Müll. Ozmanov sammelt ihn ein und nimmt ihn mit. 

Nach seiner Rückkehr im Dorf will er zum Freitagsgebet. Die Tataren treffen sich im ersten Stock eines halb verlassenen Wohnblocks. In letzter Zeit kamen immer weniger. Zu dritt stehen sie vor dem Eingang des Hauses. Nur der Mann mit dem Schlüssel kommt nicht. Die Männer ziehen nach einigen Minuten unverrichteter Dinge von dannen.

Wieder zu Hause, sagt Ayvaz Ozmanov zu Alime, er wolle neue Holztische bauen für den Imbiss. Auf dem Hof liegt ein Baumstamm, den will er zersägen und aus den Bohlen grobe Tische zimmern. Alime nickt: „Hört sich gut an.“ In der Tür bleibt Ayvaz Ozmanov stehen. „Wenn wir in diesem Sommer kein Geld verdienen, haben wir im Winter nichts zu essen.“ Sie blickt auf, lächelt. „Wir haben es immer geschafft. Wir werden eine Möglichkeit finden.“ Er geht nach draußen, nicht zum Baumstamm, und füttert seine Hühner. 

Die Moschee in Bachtschissarai, in der Ayvaz und Emine ihre Hochzeit feierten, ist seit einem Jahr geschlossen. Das Dach ist morsch. Früher besuchten sie oft das Kulturhaus im Dorf, aber sie sagen, sie könnten die russischen Flaggen und die Blicke ihrer russischen Nachbarn nicht mehr ertragen.

Wirtschaftlichen Druck auf Russland lässt Krimtataren hoffen

Zwei Weggefährten sind Ayvaz Ozmanov geblieben. Der eine ist sein Vater, alt und zornig. Bei einem Besuch sagt er: „Einen größeren Faschisten als Wladimir Putin hat die Welt noch nicht gesehen. Wir werden uns die Krim wiederholen.“ Sein Sohn Ayvaz redet nie so. Aber der Hass seines Vaters gibt ihm Kraft. 

Der andere Vertraute heißt Ilmi Umerov, er leitete die Regionalverwaltung von Bachtschissarai, war in den neunziger Jahren sogar mal Vizepremier der Krim. Bis zuletzt war er Mitglied der Medschlis. Nun sitzt Umerov, von einer Parkinson-Erkrankung geschwächt, in seinem ehemaligen Arbeitszimmer, im Fernseher laufen krimtatarische Nachrichten – gesendet aus der Ukraine. „Der sinkende Ölpreis und die Sanktionen arbeiten für uns“, sagt Umerov. Ayvaz Ozmanov hört andächtig zu und nickt. 

Beide glauben daran, dass Russland wirtschaftlich so sehr unter Druck gerät, dass die Regierung dem Westen Zugeständnisse machen muss. Sie glauben daran, dass die Krim wieder ukrainisch wird – und die Tataren dann eine größtmögliche Autonomie erhalten. Sie wollen nicht wahrhaben, dass der Westen längst das Interesse an der Krim verloren hat; in den Reden der Politiker kommt sie schon lange nicht mehr vor. 

Ayvaz Ozmanov sagt, er wolle keinen Krieg um die Krim. Doch aufgeben will er auch nicht. Denn das würde bedeuten, seinen Stolz zu verlieren. Viel mehr ist ihm nicht geblieben. 

 

Dieser Text stammt aus der Februarausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

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