Krieg in Libyen - Showdown am Mittelmeer

Seit Jahren tobt in Libyen ein Konflikt, der sich zum größten Stellvertreterkrieg des Nahen Ostens ausgeweitet hat. In Deutschland interessiert man sich nur dafür, wenn wieder Tausende Flüchtlinge über das Mittelmeer kommen. Dabei ist die Sicherheit von Europa unmittelbar bedroht.

Konfliktherd Libyen: Die Europäer nimmt keiner mehr ernst / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler und forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin u.a. zum politischen Islam und zum Terrorismus.

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Der Bürgerkrieg in Libyen findet in Deutschland meist nur wenig Interesse – es sei denn, größere Zahlen von Flüchtlingen drohen das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren. Dabei sind die Auswirkungen des Staatsverfalls in dem nordafrikanischen Land seit 2011 dramatisch. Erst befeuerten Waffen und Söldner infolge des Zusammenbruchs des Gaddafi-Regimes Konflikte in der Sahelzone, die sich heute bereits zu einem Flächenbrand ausgeweitet haben.

Dann setzte sich in Libyen ein besonders starker Ableger der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) fest, der erst nach verlustreichen Kämpfen 2016 zerschlagen werden konnte. Außerdem nutzten Hunderttausende afrikanische Flüchtlinge die Gelegenheit, über das Territorium des zerfallenden Staates den Weg über das Mittelmeer nach Europa anzutreten. 

Die Machtlosigkeit der EU 

Seit einigen Monaten versucht Europa zwar etwas intensiver auf den Konflikt einzuwirken, doch zeigt sich jetzt, wie machtlos die EU ist, seit die USA sich nicht mehr um Libyen kümmern. Lange waren es Regionalstaaten wie Katar einerseits und die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten andererseits, die das internationale Desinteresse an Libyen nutzten und mithilfe lokaler Verbündeter einen Stellvertreterkrieg auf kleiner Flamme führten.

Da es sich ausnahmslos um prowestliche Staaten handelte, missfielen ihre Auseinandersetzungen den Europäern zwar, stellten aber keine unmittelbare Bedrohung für die Sicherheit des Kontinents dar. Mit den jüngsten Interventionen Russlands und der Türkei hat sich diese Ausgangslage geändert. Die Aussicht auf russische und türkische Militärstützpunkte am Südufer des Mittelmeers, von denen aus Ankara und Moskau nicht nur Öl- und Gasströme nach Europa kontrollieren können, sondern auch Flüchtlingsbewegungen, haben den Europäern den Ernst der Lage vor Augen geführt. Doch die EU ist außen- und sicherheitspolitisch viel zu schwach, die Mitgliedstaaten zu uneins und Deutschland als wichtigste Macht des Kontinents zu wenig sicherheitspolitisch interessiert, um das Ruder noch einmal herumzureißen.

Im Gewimmel der Milizen

Der libysche Bürgerkrieg war nie so intensiv und opferreich wie der in Syrien. Vielmehr war es ein Konflikt mit Unterbrechungen, der 2011 begann, 2014 bis 2015 für einige Monate eskalierte und 2019 erneut einsetzte. In den Zwischenphasen kam es zwar immer wieder zu Kämpfen, wie etwa gegen die Terroristen des IS, die 2015 bis 2016 einen Ministaat rund um ihre libysche Hauptstadt Sirte aufbauten. Doch dominierten zahlreiche Milizen das Geschehen, die alle so schwach waren, dass größere Kampfhandlungen meist ausblieben. 

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Die teils erstaunliche Schwäche der Kontrahenten ist bis heute eines der wichtigsten Merkmale des Bürgerkriegs. Dies galt auch für die „Truppen“ General Khalifa Haftars, der sich als neuer starker Mann Libyens präsentiert und im April 2019 die bis heute andauernde Phase des Bürgerkriegs einleitete, indem er einen Großangriff auf die Hauptstadt Tripolis startete, der ihm die Macht im Land sichern sollte. Der heute 77 Jahre alte Haftar war ein Weggefährte Muammar al Gaddafis, hatte aber schon Ende der achtziger Jahre mit dem Diktator gebrochen.

Von Frühjahr 2014 an trat der jahrzehntelang im Exil lebende General in Libyen auf den Plan und baute im Osten des Landes seine „Libysche Nationalarmee“ auf – mit Unterstützung der Vereinigten Arabischen Emirate und Ägyptens. Er schrieb sich den Kampf gegen den Terrorismus auf die Fahnen und verdrängte in jahrelangen Kämpfen islamistische Milizen aus Bengasi. Sein Ziel war es zunächst, in der ostlibyschen Cyrenaika eine sichere territoriale Basis für den Vormarsch auf Tripolis zu schaffen und die Ölregion um Brega zu kontrollieren. Dass es bis November 2017 mehr als drei Jahre dauerte, bis Haftar die Kontrolle über Bengasi erstritten hatte, zeigte aber allzu deutlich, dass Haftars „Nationalarmee“ ihren Namen nicht verdient. Sie ist vielmehr ein denkbar schwaches Bündnis oft irregulärer Kämpfer, das sich nur durchsetzen konnte, weil ausländische Verbündete Waffen lieferten und Luftangriffe flogen. 

Der Bürgerkrieg bekommt eine neue Qualität

Haftars einzige Hoffnung bestand darin, dass seine Rivalen in Tripolis noch schwächer schienen. Nominell werden sie von der im Dezember 2015 auf Initiative der UN gebildeten und international anerkannten Einheitsregierung von Ministerpräsident Fayez al Sarraj angeführt. Sarraj ist ein wenig charismatischer Politiker ohne nennenswerte Hausmacht und war ein Kompromisskandidat, der gerade wegen seiner Unauffälligkeit ausgewählt wurde. Die eigentlichen Herren der Hauptstadt und des gesamten libyschen Westens waren Milizen, die miteinander um die Kontrolle über Stadtteile und öffentliche Einrichtungen konkurrierten. Sie hatten den Bürgerkrieg 2011 gewonnen und waren anschließend nicht entwaffnet und in neue Sicherheitskräfte integriert worden, sodass sie in den folgenden Jahren den Aufbau eines funktionierenden Staates verhindern konnten. In den ersten Jahren wurden sie vor allem von Katar unterstützt, später mehr durch die Türkei. Haftar hoffte wohl darauf, die Rivalitäten unter diesen Milizen ausnutzen zu können, doch angesichts des drohenden Machtverlusts schlossen sie sich zusammen und widersetzten sich gemeinsam. 

Das anschließende Patt im Kampf um Tripolis führte zur russischen und diese zur türkischen Intervention und damit zu einem neuen Stellvertreterkrieg. Im September 2019 wurden Nachrichten über russische Söldner publik, die aufseiten der Haftar-Truppen kämpften und die Milizen von Tripolis zurückdrängten. Als das Schicksal der Einheitsregierung und ihrer Verbündeten fast besiegelt erschien, trat jedoch die Türkei an ihrer Seite auf den Plan. Sie schickte von Januar 2020 an Militär, syrische Söldner und eine ganze Flotte an Kampfdrohnen, die nicht nur den Angriff auf Tripolis zurückschlugen, sondern Haftar und seine Unterstützer aus fast dem gesamten syrischen Westen vertrieben. So dramatisch war die Niederlage Haftars, dass der ägyptische Präsident al Sisi mit einer Intervention drohte, sollten die Türken ihren Vormarsch bis nach Ostlibyen fortsetzen.

Mit der Intervention Russlands und der Türkei gewann der Bürgerkrieg in Libyen eine ganz neue Dimension, denn plötzlich wurde aus dem Konflikt lokaler Milizen und Regionalmächte einer, in dem zwei Staaten ungleich größeren Gewichts auftraten. Das machte sich zunächst auf dem Schlachtfeld bemerkbar, wo der Krieg nun intensiver geführt wurde. 

Russlands Kampf gegen die westliche Ordnung

Als Russland 2019 Söldner schickte, war es bereits seit einigen Jahren als Unterstützer Haftars aktiv. Präsident Putins Politik ist seit Mitte der 2000er Jahre darauf ausgelegt, Russland den verlorenen Status als Weltmacht zurückzuholen und die von den USA dominierte internationale Ordnung zu seinen Gunsten zu revidieren. Zu diesem Zweck beschränkt sich die russische Führung nicht auf offene und verdeckte Militäraktionen gegen ehemals sowjetische Republiken wie die Ukraine und Georgien oder Versuche, westliche Gegner durch Cyberattacken, das Verbreiten von Lügenpropaganda und die Unterstützung von Rechts- und Linkspopulisten zu entzweien und zu destabilisieren. Im Nahen Osten und Nordafrika geht es Putin darum, die USA und ihre europäischen Verbündeten zu verdrängen und gleichzeitig autoritäre Herrscher gegen ihre Gegner zu verteidigen.

Libyen ist aus der Sicht Putins besonders wichtig, weil der Sturz des Despoten Gaddafi und seine anschließende Ermordung einschneidende Erlebnisse für den russischen Präsidenten waren. Obwohl Russland sich bei Verabschiedung der Sicherheitsratsresolution 1973 enthielt, die 2011 eine militärische Intervention in Libyen erlaubte, kritisierte Putin diese als „mittelalterlichen Aufruf zum Kreuzzug“. Zwar war er damals nur Ministerpräsident und Dmitri Medwedew als Präsident zuständig, doch gilt dieser als absolut loyaler Gefolgsmann, sodass nicht ganz klar ist, wieso es zu diesem Abstimmungsverhalten kam.

Moskau weitet die militärische Unterstützung aus  

Putin jedenfalls sah die Proteste des Arabischen Frühlings von 2011 und den Sturz von Gaddafi als eine Fortsetzung der „Farbrevolutionen“ in Georgien, im Libanon und Kirgisien. Diese hielt er nicht für legitime Umstürze durch unterdrückte und benachteiligte Bevölkerungsgruppen, sondern für Versuche der USA, antiwestliche Regierungen durch prowestliche zu ersetzen. So wie Russland ihnen im postsowjetischen Raum entgegentrat, beschloss der Kremlherrscher, auch im Nahen Osten auf Stabilität und Ordnung zu setzen. Ein zusätzliches Argument war hier, dass die Alternative zu den autoritären Herrschern islamistische Terroristen seien. In Syrien intervenierte Russland deshalb schon 2015 aufseiten des Assad-Regimes, in Libyen entschied es sich ungefähr zeitgleich für Khalifa Haftar.

Schon 2015 und 2016 gab es erste Hinweise darauf, dass Russland Haftar unterstützte. Doch erst nachdem Donald Trump im Januar 2017 amerikanischer Präsident wurde und der Syrienkonflikt mit der Einnahme von Aleppo im Dezember 2016 zugunsten des Assad-Regimes entschieden war, setzte Putin eine aktivere Libyenpolitik in Gang. In einer Machtdemonstration lief der einzige russische Flugzeugträger in libysche Gewässer ein und empfing Haftar an Bord. Gleichzeitig weitete Moskau die militärische Unterstützung aus. Als der Angriff auf Tripolis im Sommer 2019 ins Stocken kam, war es nur folgerichtig, dass Söldner der Wagner-Gruppe – eine Privatarmee, die seit einigen Jahren im Auftrag der russischen Regierung kämpft – den Verbündeten unterstützten.

Türkei strebt nach Vormacht im östlichen Mittelmeer

Viel überraschender war indes die Intervention der Türkei. Dabei hatten die Regierungen des Ministerpräsidenten und späteren Präsidenten Erdogan schon seit ihrer Machtübernahme 2002 großes Interesse an einer aktiveren Nahostpolitik gezeigt – in bewusster Abgrenzung zu den kemalistischen Eliten, die die ausschließliche Nähe Europas, der USA und sogar Israels gesucht hatten. In den 2000er Jahren weitete die Türkei ihren politischen und kulturellen Einfluss in der arabischen Welt rasch aus, denn sie galt vielen dort als Vorbild, als islamisches Land, das gleichzeitig modern, erfolgreich und demokratisch war. Auch die Wirtschaftsbeziehungen in viele Staaten der Region wurden massiv ausgeweitet. 

Der entscheidende Umschwung folgte auf den gescheiterten Militärputsch in der Türkei vom Juli 2016. Er beschleunigte einen Prozess, in dessen Verlauf Erdogan autoritärer und nationalistischer auftrat – unter anderem, weil er die Nationalisten als innenpolitischen Bündnispartner brauchte. Im Nahen Osten, Nordafrika und sogar am Horn von Afrika versuchte er dem türkischen Anspruch auf eine Regionalmachtposition Nachdruck zu verleihen. In Syrien rückte seine Armee seit 2016 in mehrere grenznahe Gebiete ein. Obwohl der Bürgerkrieg entschieden war, schwang sich Erdogan auf diese Weise zu der neben Russland wichtigsten auswärtigen Macht auf, ohne deren Zustimmung diplomatische Lösungen nicht möglich waren. Von 2019 an setzte die türkische Führung diese Politik in Libyen fort, indem sie Militärberater, Kampfdrohnen, Panzer und mehrere Tausend syrische Söldner schickte, die zuvor schon in ihrem Heimatland für die Türkei gekämpft hatten. 

Der Türkei ging es auch um handfeste wirtschaftliche und geopolitische Interessen, die einen wichtigen Hintergrund des Stellvertreterkriegs in Libyen bilden. Dabei geht es neben den Energieressourcen im Land selbst auch um Öl- und Gasfelder im östlichen Mittelmeer, wo im vorigen Jahrzehnt große Gasvorkommen entdeckt wurden und weitere vermutet werden. Griechenland, Zypern, Israel und Ägypten sowie im Hintergrund die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) begannen rasch, die nötige Infrastruktur für den Export Richtung Europa zu entwickeln – unter Ausschluss der Türkei. Die wiederum schloss im November 2019 einen Vertrag mit der libyschen Einheitsregierung, in dem die Seegrenzen zwischen der Türkei und Libyen festgelegt wurden, wobei die Meereszonen griechischer Inseln wie Kreta oder Rhodos einfach ignoriert wurden. Es geht der Türkei um nichts weniger als eine Vormachtstellung im östlichen Mittelmeer.

Die drei Lager im Nahen Osten

Das Auftreten der Türkei in Libyen ist auch eine Folge der Entstehung dreier konkurrierender Lager im Nahen Osten, die auf den Arabischen Frühling von 2011 zurückgeht. In der Regel konzentriert sich das öffentliche Interesse auf die von Iran und Saudi-Arabien angeführten Blöcke, die bis 2019 einen regionalen „kalten Krieg“ gegeneinander führten. Zum iranischen Camp gehörten neben Syrien die libanesische Hisbollah, schiitische Milizen im Irak, die jemenitischen Huthi-Rebellen und palästinensische Gruppierungen wie die Hamas. Saudi-Arabien setzte dagegen auf Verbündete wie die VAE und andere kleine Golfstaaten sowie Jordanien, Marokko und ab 2013 Ägypten.

Katar und die Türkei bildeten ein kleines drittes Lager, das die Protestbewegungen des Arabischen Frühlings unterstützte und in der Muslimbruderschaft ihre bevorzugten Verbündeten identifizierte. Katar war schon seit Jahrzehnten ein Exilzentrum für Islamisten, die vor der Verfolgung durch die Regime in Ägypten, Syrien, Libyen oder anderswo flohen. Die frühen Beziehungen nutzte Doha, als die Umwälzungen die Muslimbrüder in Ägypten 2011/2012 an die Macht brachten und in Tunesien zu einem wichtigen politischen Akteur werden ließen. In Syrien und Libyen unterstützte das Emirat islamistische Organisationen im bewaffneten Kampf gegen die dortigen Diktatoren. Nach 2011 wurde es zum wichtigsten Unterstützer islamistischer Milizen in Libyen und förderte ab 2014 die Gegner Haftars. 

Die Türkei folgte dem katarischen Weg zunächst auch aus ideologischen Gründen, denn Erdogan und seine Gefolgsleute waren aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen. Wie Katar unterhielt sie gute Beziehungen zur Regierung von Präsident Mohammed Morsi in Ägypten und zu anderen Muslimbrüdern, konzentrierte ihre Unterstützung ab 2012 aber auf islamistische Rebellen unterschiedlicher Couleur in Syrien – der Sturz des Assad-Regimes war bis 2015 ihr wichtigstes Ziel. Als die Türkei in Libyen etwas später zu einem wichtigen Helfer der Einheitsregierung und der mit ihr verbündeten Milizen wurde, spielte das ideologische Moment schon nicht mehr die Rolle wie noch wenige Jahre zuvor. Die Geopolitik dominierte, doch die Lager in der regionalen Politik bestanden fort. 

Konkurrierende Feindbilder

Die Parteinahme für die Protestbewegungen und Islamisten machten Katar und der Türkei viele Feinde. Die mächtigsten waren Saudi-Arabien und die VAE, die ab 2011 die Gegenrevolution in der arabischen Welt anführten. Besonders deutlich zeigte sich dies 2013, als Riad und Abu Dhabi den Militärputsch von General Abdel Fattah al Sisi gegen den Muslimbruder Morsi unterstützten und nebenbei Doha und Ankara eine schwere Niederlage bereiteten. Während Saudi-­Arabien aber in Iran den Hauptfeind sah, betrachteten die VAE die Muslimbruderschaft als größte Gefahr. Die Führung in Abu Dhabi befürchtete, dass diese transnationale Bewegung ihre neue Macht in Ägypten und anderswo dazu nutzen würde, um ihre Gesinnungsgenossen in den Emiraten zum Umsturz zu mobilisieren. 

Um dem entgegenzuwirken, bekämpften die VAE seit 2012 auch die von Katar unterstützten islamistischen Milizen in Libyen. Sie unterstützten zu diesem Zweck nationalistische Kräfte, die auch ehemalige Regimemilitärs in ihre Reihen aufnahmen. Zwischen 2012 und 2014 entwickelte sich ein regelrechter Stellvertreterkrieg zwischen den VAE und Katar. Als sich 2014 ein Patt abzeichnete, entschloss sich Abu Dhabi gemeinsam mit Ägypten für die Unterstützung Khalifa Haftars. Beide Staaten flogen Luftangriffe, lieferten Waffen und Geld und schickten Söldner, sodass Haftar sich langsam durchzusetzen schien. Erst das entschlossene Auftreten der Türkei im Jahr 2019 stoppte seinen Vormarsch und verhinderte einen Sieg der VAE und Ägyptens. 

Die VAE reagierten sofort, indem sie gegen die Türkei mobilmachten. Zu diesem Zweck suchten sie vor allem die Nähe Russlands, mit dem sie in Libyen bereits länger eng kooperieren. Außerdem stockten die Emirate ihre Waffenlieferungen an Haftar 2019 und 2020 deutlich auf. Um außerdem möglichst viele türkische Truppen im fernen Syrien zu binden, soll Abu Dhabi dem syrischen Regime sogar finanzielle Hilfe angeboten haben, wenn es die Provinz Idlib angreife, wo die türkische Armee die letzten syrischen Aufständischen schützt. 

Rückzug von EU und USA ebnete den Weg

Dass es Russen, Türken, Emiratis und Kataris überhaupt gelingen konnte, in Libyen Fuß zu fassen, hat eine tiefer liegende Ursache im Rückzug der USA und der Europäer aus dem Konflikt. Schnell zeigte sich, wie die Welt im Nahen Osten in den nächsten Jahren aussehen könnte: Größere und kleinere Regionalmächte konkurrieren miteinander, ohne dass eine von ihnen stark genug wäre, um sich durchzusetzen. Das Ergebnis sind Kriege ohne Ende, die langfristig auch die Stabilität der gesamten Nachbarschaft bedrohen. 

Präsident Obama, der seinen Wählern ein Ende der amerikanischen Kriege im Nahen Osten versprochen hatte, hatte der Intervention in Libyen 2011 nur widerwillig zugestimmt. Es waren vor allem Frankreich und Großbritannien, die auf Militärschläge gegen die Truppen Gaddafis drängten. Nachdem der Vormarsch der Gaddafi-Truppen rasch gestoppt werden konnte, entwickelte sich ein Patt zwischen Rebellen und der Regimearmee, das durch verstärkte Luftangriffe und Training durch die USA und ihre Verbündeten (unter ihnen damals die VAE und Katar) aufgebrochen werden konnte. Im August wurde Gaddafi gestürzt und im Oktober von Aufständischen ergriffen und ermordet.

China sticht den Nahen Osten 

Frankreich und Großbritannien hatten den USA mehrfach zugesagt, sich um die Neuordnung Libyens zu kümmern, aber nach dem Ende der Kämpfe rasch das Interesse verloren. Für die USA wurde der Bürgerkrieg in Syrien das ungleich wichtigere Thema, sodass Libyen schnell sich selbst überlassen wurde. Das Ergebnis waren schon 2012 der Aufstieg der Milizen und die langsame Bildung zweier konkurrierender Lager. Wenn die USA in den kommenden Jahren auf den Plan traten, dann nur, um den IS und andere Dschihadisten zu bekämpfen, die ebenfalls von der Anarchie im Land profitierten.

Dies änderte sich auch unter dem neuen Präsidenten Donald Trump nicht, doch wurde der Wunsch, die „endlosen Kriege“ im Nahen Osten hinter sich zu lassen und sich vermehrt China und dem Pazifik zuzuwenden, bei ihm noch sehr viel spürbarer. Sicherheitspolitiker und Militärs warnten, unter ihnen General Thomas D. Waldhauser, der Kommandeur des Afrikakommandos in einer Anhörung des Kongresses im März 2017: „Die Instabilität in Libyen und Nordafrika könnte die bedeutendste kurzfristige Bedrohung für die Interessen der USA und ihrer Verbündeten auf dem (afrikanischen) Kontinent sein.“ Doch Donald Trump blieb bei seiner Linie und machte so den Weg frei für Russland und die Türkei.

Deutschland wurde viel zu spät aktiv

Auch die Europäer hörten nicht auf die hellsichtige Warnung des Generals (der seinen Dienstsitz immerhin in Stuttgart hatte). Nur Italien und Frankreich waren etwas aktiver. Rom unterstützte die Einheitsregierung und einige Milizen im Westen besonders intensiv, damit diese die Flüchtlinge schon am Antritt der Reise hinderten, und weil Italien besonders großes Interesse an libyschem Öl hat. Paris hingegen half Haftar, weil der für eine harte Linie gegen islamistische Terroristen stand und französische Truppen seit 2012 in Mali und weiteren Ländern südlich von Libyen gegen Al Qaida und den IS kämpften. An eine gemeinsame europäische Politik war also nicht zu denken, und die USA waren nicht mehr bereit, die Sicherheitsprobleme der Europäer zu lösen.

Erst die Eskalation von 2019 schreckte die Europäische Union auf. Die Berliner Konferenz vom Januar 2020 war der fast verzweifelte Versuch, den Krieg einzudämmen und Russland und der Türkei die Kontrolle über Libyen auf diplomatischem Wege vielleicht doch noch zu entreißen. Es dürfte die Aussicht auf eine fortgesetzte militärische Präsenz beider Staaten in direkter Nachbarschaft Südeuropas gewesen sein, die Deutschland bewog, die Initiative zu übernehmen.

Die Europäer nimmt keiner mehr ernst

Doch war es viel zu spät; die Konfliktparteien nahmen die Europäer nicht mehr ernst. Dass die VAE trotz eines in Berlin bekräftigten Waffenembargos ihre Waffenlieferungen an Haftar fortsetzten, die Türkei und Russland vermehrt syrische Söldner schickten und die Kämpfe eine Woche nach Ende der Gespräche in der deutschen Hauptstadt wieder aufflammten, zeigte die eklatante Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. 

Wie folgenreich das Versagen der Europäer werden könnte, zeigte sich im Sommer dieses Jahres. Die Türkei und Russland hatten bereits im Januar kurz vor der Berlin-Konferenz bilateral über einen Waffenstillstand verhandelt, doch hatte sich Haftar dem verweigert. Nachdem die Türkei die Truppen Haftars aus Westlibyen verdrängt hatte, begannen Ankara und Moskau erneut Gespräche, ohne die Europäer oder die UN daran zu beteiligen. Die Kämpfe seit 2019 hatten gezeigt, dass keine der beiden Seiten stark genug ist, sich vollständig durchzusetzen. Sie machten aber gleichzeitig deutlich, dass Europa keine Rolle spielt. Das Schicksal Libyens liegt seitdem in der Hand Putins und Erdogans. Selbst wenn sie sich nicht auf eine Aufteilung von Interessensphären einigen können – die auf eine faktische Teilung zwischen Ost- und Westlibyen hinausliefe –, werden sie in Libyen präsent bleiben. Im schlimmsten Fall bauen sie ihre militärische Präsenz aus, kontrollieren demnächst den Export von Öl und Gas aus Libyen nach Europa und entscheiden über den Zustrom von Flüchtlingen aus Afrika. Bisher scheint selbst dieser sicherheitspolitische Weckruf in Deutschland und Europa ungehört zu verhallen.

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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