Krieg in der Ukraine - Im Flüchtlingszug von Dnipro nach Lemberg

In Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine, drängen sich die Menschen auf den Bahnsteigen, um vor den Angriffen der russischen Armee in Richtung Westen zu fliehen. Viele wollen über die polnische Grenze, einige weiter nach Deutschland. Im überfüllten Zug verfolgen sie die Kriegsnachrichten auf ihren Handys.

Auf dem Bahnsteig in Dnipro: Warten auf den Zug nach Westen / Gathmann
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Der Bahnhof in der Millionenstadt Dnipro ist überfüllt. Neben hunderten Ukrainern stehen an die Hundert junge Frauen und Männer aus Marokko, Sierra Leone und anderen afrikanischen Ländern mit großen Koffern in der Vorhalle: Sie studieren in Dnipro, die meisten Medizin oder Pharmazie, jetzt wollen sie nur noch raus. „Es wird hier zu heiß“, sagt ein Student aus Sierra Leone.

Dnipro, am Fluss Dnjepr gelegen, liegt relativ weit im Landesinneren, allerdings werden an diesem Freitag Kämpfe aus der südukrainischen Stadt Melitopol gemeldet. Wenn die Stadt fällt, ist die Verbindungsstraße nach Saporoschje unter Kontrolle der Russen, von dort ist es ein Katzensprung bis Dnipro.

Draußen regnet es in Strömen, drinnen ist es stickig, Menschen rufen, tauschen Nachrichten aus, lesen auf ihren Handys Nachrichten aus den Kampfgebieten. Eine Bahnmitarbeiterin läuft durch die Reihen und fragt die Menschen, wohin sie wollen. Es gibt einen Zug nach Kiew, aber da will kaum jemand hin an diesem Tag. „Gleich fährt ein Evakuierungszug nach Lemberg“, sagt sie. „Man braucht keine Fahrkarten. Gehen Sie einfach auf Gleis 7.“

Nur das Nötigste im Rucksack dabei

Gegen vier Uhr nachmittags fährt der Zug ein, etwa zehn Waggons, schon zur Hälfte gefüllt, weil er Flüchtlinge aus dem südlich gelegenen Saporoschje an Bord hat. Die Menschen stürmen die Zugtüren, wuchten ihre Koffer in den Zug, eine Frau mit ihrem zweijährigen Kind im Kinderwagen schafft es nur mit großer Mühe, sich gegen die anderen Menschen durchzukämpfen. Aber die Hektik stellt sich als unnötig heraus: Alle, die auf dem Bahnsteig standen, finden einen Platz im Zug. Die Abteile des Nachtzugs, für vier Personen ausgelegt, sind alle überfüllt: Sechs, acht, manchmal zehn Menschen sitzen, liegen, hocken auf den jeweils vier Liegen.

 

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Ein junger Mann stürmt kurz vor der Abfahrt ins Abteil, in dem schon acht Menschen sitzen: „Nehmt ihr meine Freundin mit? Sie ist 18.“ Die Menschen rücken zusammen, die junge Ukrainerin, Natalja, setzt sich. Als der Zug anfährt, beginnt sie zu weinen. Draußen steht ihr Freund, auch er mit Tränen in den Augen. Erst zwei Stunden zuvor haben die beiden entschieden, dass sie sich in Sicherheit bringen soll, sie hat nur das Nötigste dabei in ihrem Rucksack. Sie will nach Düsseldorf zu Verwandten, ab der polnisch-ukrainischen Grenze hat ihr Freund einen Transfer mit Kleinbus in Richtung Deutschland organisiert.

Die 61-jährige Olga ist mit Hund und Katze unterwegs – die Katze hat ihr eine Bekannte im letzten Moment zugesteckt, weil sie selbst sie nicht mitnehmen konnte. Sie wohnt schon seit 2014 in Warschau, geflohen mit ihrem Mann und den zwei Söhnen. In Dnipro war sie nur, um Papierkram zu erledigen, dann wurde sie vom Krieg überrascht. Sie liest aus einer Whatsapp-Gruppe von Klassenkameraden vor, in der der Kriegsbeginn diskutiert wird.

Im Zug sind vor allem Frauen und Kinder

Einige sind nach Israel emigriert, andere nach New York oder Russland. Dass die russische Propaganda auch bei Menschen im Ausland Anklang findet, zeigt das Verständnis für den russischen Angriff in den Whatsapp-Nachrichten. „Manche von ihnen wollen die Sowjetunion zurück“, sagt Olga. „Sie denken, dass Russland die Sowjetunion ist.“ Sie hat die Gruppe jetzt verlassen. Eine Nachbarin in Dnipro, erzählt sie, unterstützt den Einmarsch ebenfalls. „Sie sagt: Ich will, dass hier Russland ist. Und ich sage ihr: Ich will das nicht!“

Igor versucht, auf dem
Flur zu schlafen

Im Zug sind vor allem Frauen und Kinder, die meisten Männer, die unterwegs sind, bringen ihre Familien in Sicherheit, um dann zurückzukehren. Mitten in der Nacht steigt in einer Kleinstadt südlich von Kiew Igor zu, 38, mit seiner Frau, dem zehnjährigen Sohn und der zweijährigen Milana. Der Sohn fängt gleich an zu erzählen von den Kriegsvideos, die er auf Tiktok gesehen hat: „Ein Kampfflugzeug fliegt da über ein Haus, und im nächsten Moment: Bumm, Explosion!“ Die Mutter sagt: „Bitte, lass uns mal aufhören, darüber zu reden.“

Die Familie will nach Frankfurt zu Verwandten, aber Igor wird sie nur bis zur polnischen Grenze bringen. Dann will er zurück in seine Stadt, gegen die Russen kämpfen. „Da kämpfen unsere 18-jährigen Jungs, Frauen. Ein Freund hat mich angerufen: Da hat sich ein 80-Jähriger beim Wehramt gemeldet, um zu kämpfen. Da kann ich mich doch nicht aus dem Staub machen“, sagt Igor. Hat er Kampferfahrung? „Nein, in meinem Wehrdienst vor zwanzig Jahren hab ich fast nur Fußball gespielt. Aber mit einer Kalaschnikow schießen – das kann ich.“

„Wenn die Russen siegen, schickt unsere Kinder nicht zurück.“

Später, bei einer Zigarettenpause im Raum zwischen den Waggons, wo durch die Schlitze das Gleisbett zu sehen ist und das Rattern des Zugs ohrenbetäubend ist, sagt er: „Ich will verdammt nochmal nicht kämpfen. Es ist schrecklich. Aber es muss sein.“ Nach ein paar Momenten Nachdenkens fügt er hinzu: „Eine Bitte habe ich: Wenn die Russen siegen, dann schickt unsere Kinder nicht zurück hierher.“

Im Zug ist es stickig, aber nicht nur deshalb ist es eine für viele Menschen schlaflose Nacht. Schlaflos für jene im Zug, für alle Menschen in der Ukraine. Russland setzt Luftlandetruppen südlich von Kiew ab, die Ukrainer melden, dass sie zwei Truppentransporter aus dem Himmel geschossen haben. Granaten fliegen nach Kiew, ein Wohnhochhaus wird getroffen. Aus dem Zug verfolgen die Menschen an ihren Handys die Nachrichten, immer wieder flackern die Bildschirme auf: Ukrainische Flaggen, Explosionen, Durchhalteparolen auf Facebook, die Videobotschaften von Präsident Selenskyj.

Igor sitzt draußen auf dem Flur auf seinem Koffer, den Kopf in die Hände gestützt, versucht zu schlafen. Drin im Abteil liegt mit der zweijährigen Milana die Mutter auf der Liege. Das Kind schläft, die Mutter liegt daneben, die offenen Augen blicken an die Decke des Abteils. 

 

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