Krieg gegen die Ukraine - Böse neue Welt

Der russische Überfall auf die Ukraine beendet die Zwischenkriegszeit in Europa. Und er offenbart den Bankrott der deutschen Politik und ihrer außenpolitischen Illusionen. Die Weltpolitik bricht über eine mental völlig unvorbereitete Bundesrepublik herein.

Der Krieg in der Ukraine bedeutet in Deutschland das Ende einiger politischer Lebenslügen / Julia Kluge
Anzeige

Autoreninfo

Stephan Bierling lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg. Soeben erschien von ihm „America First – Donald Trump im Weißen Haus“ (C. H. Beck).

So erreichen Sie Stephan Bierling:

Anzeige

Mit seiner Regierungserklärung am 27. Februar vollzog Kanzler Olaf Scholz die dramatischste sicherheitspolitische Wende in der Geschichte der Bundesrepublik. In nicht einmal einer halben Stunde entsorgte er das gesamte Arsenal deutscher Lebenslügen der vergangenen Jahrzehnte. Putin-Verstehen, Diktatorenbeschwichtigen, Bundeswehr-Kaputtsparen, Wandel-durch-Handel-Fantasie und Keine-Waffen-­in-Krisengebiete-Ideologie flogen raus. Rein kamen: angegriffenen Staaten mit Rüstungsgütern beistehen, die Streitkräfte mit einem 100-Milliarden-Euro-Sofortpaket wiederaufbauen, sich ans Zwei-Prozent-Ziel der Nato halten und Recht auch mit militärischer Stärke durchsetzen.

Es ist bitter, dass es Putins Überfall auf die Ukraine und massiven Druck der Bündnispartner brauchte, um Deutschland in die Realität internationaler Politik im 21. Jahrhundert zu katapultieren. Lange hatte sich das Land pazifistischen Illusionen hingegeben und dies selbstgefällig als Lehre der historischen Schuld an Zweitem Weltkrieg und Shoah verkauft. Damit nicht genug. Berlin trat als oberster Moralapostel und Bedenkenträger auf, am liebsten gegenüber den USA – ausgerechnet der Nation, die es den Deutschen ermöglichte, ihrer Sonderrolle als vermeintliche Friedensmacht zu frönen.

Krieg zweier Welten

Washington stellte für die Bundesrepublik nämlich essenzielle „kollektive Güter“, wie Politikwissenschaftler es nennen, zur Verfügung: sichere internationale Transportwege, offene Märkte und militärischen Schutz durch den Nuklearschirm und die dort stationierten Truppen. Zeit-Herausgeber Josef Joffe hat die USA einmal treffend als „Beschützer und Befrieder“ Europas bezeichnet, da sie die Sowjetunion vor Expansionsgelüsten abschreckten und den Nachbarn die Angst vor einem übermächtigen Deutschland nahmen. Amerikas Rundum-sorglos-Paket ermöglichte es der Bundesrepublik, sich auf ihre Wirtschaft zu konzentrieren, zum Exportgiganten aufzusteigen und steinreich zu werden. „Kriege mögen andere führen, du, glückliche Bundesrepublik, mache Geschäfte“, lautete ihre Raison d’Être deshalb die längste Zeit.

Aber die Pax Americana wackelt. Außenpolitische Abenteuer nach den islamistischen Terroranschlägen von 9/11 wie Afghanistan- und Irakkrieg sowie innenpolitische Spaltung haben die USA geschwächt. Wladimir Putin und Xi Jinping nutzen das, um die von Washington aufgebaute internationale Ordnung immer aggressiver zu attackieren. Der Grund: Deren Pfeiler und Werte – Transparenz, Multilateralismus, Vertragstreue, Völkerrecht, Demokratie – bedrohen das Überleben ihrer Regime. Machterhalt ist jedoch alleiniger Daseinszweck von Diktatoren. Xi und Putin können erst ruhig schlafen, wenn die westliche Ordnung zerstört und durch das Gesetz des Dschungels ersetzt ist. Dort tun, um Thukydides’ harte Wahrheit zu zitieren, „die Starken, was sie wollen, und ertragen die Schwachen, was sie müssen“. Russland und China akzeptieren keine souveränen Staaten und Partner, sondern nur Vasallen. Sie denken in Einflusszonen, Kontrolle und Dominanz, nicht in Interessenausgleich und nationaler Selbstbestimmung. Kanzlerin Angela Merkel erzählte 2014 nach Gesprächen mit Putin über dessen Krimannexion, dieser habe den Bezug zur Wirklichkeit verloren und lebe offenbar in „einer anderen Welt“. Nach Moskaus Großinvasion der Ukraine schrieb der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev: „Jetzt leben wir alle in Putins Welt.“

Deutschland macht sich lächerlich

Das Versagen der Berliner Außenpolitik besteht darin, dass diese Welt über ein völlig unvorbereitetes Deutschland hereinbricht. Die Bundesrepublik blieb mental in den frühen neunziger Jahren hängen, als der Triumph von Demokratie und Völkerrecht unausweichlich schien. Den Traum vom Ende der Geschichte hat zwar der Amerikaner Francis Fukuyama ersonnen, aber niemand glaubte inbrünstiger an ihn als die Deutschen. Love-­Parade und Spaßwahlkampf, ein SPD-Kanzlerkandidat in der Lindenstraße (Gerhard Schröder) und ein FDP-Generalsekretär im Big-Brother-Container (Guido Westerwelle) – kein Bürger musste sich bei so viel Clownerie noch Sorgen machen um Kriege und Gewaltherrscher. Alles wird gut, lautete das Mantra, wenn wir es nur stark genug wollen. Außenpolitik verkam zum Esoterik-Trip. Was immer die Harmoniesucht im Lalaland störte, blendeten viele Deutsche aus, etwa Saddam Husseins Einmarsch in Kuwait und den Bürgerkrieg in Jugoslawien mit 100.000 Toten. Noch schlimmer: Sie verteufelten die Befreier, einen Krieg für Öl zu führen und Serbiens ethnischen Massenmord ohne UN-Mandat zu bekämpfen. Eigenes Nichtstun kompensierte man mit moralischer Überheblichkeit.

Wenn sich Berlin aufgrund seiner Bündnispflichten militärisch doch im Ausland engagierte, strangulierte es die Bundeswehr mit hanebüchenen Auflagen. In Bosnien durften Panzer und LKW das Feldlager nicht verlassen, weil sie keine gültigen Abgasplaketten hatten. In Mali lehnte Deutschland die französische Bitte um Luftbetankung seiner Rafale-Bomber mit dem Argument ab, den Tankstutzen fehle die TÜV-Zulassung. Das Kämpfen überließ man sowieso meist den anderen. Am Hindukusch durfte die Bundeswehr den eigenen Einsatzbereich nicht verlassen, um von den Taliban bedrängte Alliierte zu unterstützen; nur auf Guerillakämpfer schießen, wenn diese zuerst feuerten; Tornado-Luftaufnahmen über Feindbewegungen lediglich zeitversetzt an die USA weitergeben, damit sie nicht operationell zu verwerten waren. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Kein Wunder, dass amerikanische Offiziere klagten, die deutschen Kameraden seien wegen der vielen Beschränkungen im Krieg gegen Aufständische kaum einsetzbar. „No shooting please, we’re German“, betitelte der Economist 2012 einen Bericht über die Bundeswehr süffisant.

Deutschland verweigert die Debatte

Es vergingen vier Jahre, bis Kanzlerin Merkel ihre erste Parlamentsrede zu Afghanistan hielt, und das, obwohl deutsche Soldaten dort seit 2002 stationiert und gestorben waren. Mit ihrem feinen Instinkt für heikle Themen wusste Merkel, was sie den Deutschen zumuten konnte. Bundespräsident Horst Köhler wusste es nicht. Im Mai 2010 räsonierte er darüber, ob ein Land „unserer Größe“ und „Außenhandelsabhängigkeit“ nicht im Notfall auch militärische Gewalt einsetzen solle, um „freie Handelswege“ zu sichern und „regionale Instabilitäten“ zu verhindern. Die Kritik von SPD, Grünen und Linken war laut, die Unterstützung von Union und FDP leise, und der Bundespräsident schmiss zornig hin. Eine überfällige Debatte, die Köhler anzustoßen den Mut, aber durchzuhalten nicht die Standfestigkeit hatte, war abgewürgt.

Die illusionäre Vorstellung von den Spielregeln internationaler Politik zog sich durch Parteien, Gesellschaft, Wirtschaft und Medien. Alle verweigerten eine Debatte über Ziele und Instrumente der deutschen Außenpolitik, denn dann hätte man über Interessen, Macht und Militär sprechen müssen – und damit wollten die Deutschen spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges nichts mehr zu tun haben. 1995 sah sich Bundespräsident Roman Herzog genötigt, ein Ende des sicherheitspolitischen „Trittbrettfahrens“ anzumahnen. 2014 forderte sein Nachfolger Joachim Gauck, Deutschland müsse in der Welt mehr Verantwortung übernehmen. Es änderte sich: nichts.

Fußball und Corona statt Außenpolitik

Selbst Verteidigungsminister der Unionsparteien ließen sich dafür feiern, dass sie die Wehrpflicht aussetzten und die Bundeswehr auf Familienfreundlichkeit trimmten. Panzer, Kampfflugzeuge, Fregatten – das störte die sicherheitspolitische Idylle doch nur. Wer in Berlin Karriere machen wollte, profilierte sich als Sozial- oder Umweltexperte, in Bildung und Finanzen. Die Folge: Es gibt kaum mehr qualifizierte Außen- und Sicherheitspolitiker in Kabinett und Parlament. Die wenigen von Format wie Norbert Röttgen und Roderich Kiesewetter (beide CDU), Cem Özdemir (Grüne), Alexander Graf Lambsdorff (FDP) oder Niels Annen (SPD) schafften es nie ins erste Glied. Und den einzigen Außenminister von Format seit Ausscheiden Fischers 2005, Sigmar Gabriel, servierte die SPD 2017 ab und ersetzte ihn durch Heiko Maas. Beim Boxen würde man, und das ist wirklich nur metaphorisch gemeint, vom Fall aus der Schwergewichts- in die Fliegengewichtsklasse sprechen.

Statt der Bevölkerung die Verdüsterung des weltpolitischen Umfelds näherzubringen, berauschte sich Berlin an weichen Themen: Chlorhühnchen, Identitätspolitik, Gendern, Metoo, Rassismus, Rechtsextremismus, Klimawandel und Corona. Einige davon sind virulente gesellschaftliche Probleme, die letzten beiden sogar überlebenswichtige. Es sind indes nicht die einzigen Herausforderungen und sie alle werden sekundär, wenn die Sicherheit des Landes auf dem Spiel steht.

Die öffentlich-rechtlichen Leitmedien verstärkten diesen Trend der Selbst-Provinzialisierung. Bis zum russischen Überfall auf die Ukraine kam die Sicherheitspolitik in den Polit-Talkshows so gut wie nicht vor. Im Jahr 2020 widmeten sich nach Zählung der Neuen Zürcher Zeitung 66 von insgesamt 106 dieser Sendungen bei ARD und ZDF der Corona-Pandemie. Wissenschaftler der Uni Passau sprachen angesichts der Dominanz dieses Themas im Fernsehen von einer „Verengung der Welt“. Und wenn es außenpolitische Themen einmal in die Talkshows schafften, ging es fast nie ohne Russland-Apologeten wie Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht oder Gabriele Krone-Schmalz. Als Putins Truppen Anfang 2022 die Ukraine umzingelten, musste der renommierte „Weltspiegel“ gerade seinen prominenten Sendeplatz am Sonntag um 19.20 Uhr räumen, um der 2. Fußball-Bundesliga Platz zu machen. Was für ein Timing der ARD-Programmdirektoren!

Versagen von Wissenschaft und Wirtschaft

Von der Wirtschaft war ebenfalls keine realistische Einschätzung der Weltlage zu erwarten, obwohl Unternehmensbosse eigentlich kühl kalkulieren sollten im knallharten internationalen Geschäft. Für die Aussicht auf Profitmaximierung und ein Foto mit Putin für die Ego-Wand im Chefbüro warfen sie alle Bedenken gegenüber Diktaturen über Bord. Die Wandel-durch-Handel-Ideologie lieferte ihnen, wie Karl Marx sagen würde, den passenden Überbau. Niemand bestätigte die Prinzipienlosigkeit des deutschen Big Business besser als Siemens-Chef Joe Kaeser, der Putins brutale Annexion der Krim 2014 als „kurzfristige Turbulenz“ in den Geschäftsbeziehungen verharmloste. Dass Kotau ein chinesischer Begriff, aber eine deutsche CEO-Praxis ist, bewies wiederum Daimler-Chef Dieter Zetsche vier Jahre später. Nachdem Peking den Autobauer wegen der Verwendung eines harmlosen Dalai-Lama-Zitats zum „Feind des chinesischen Volkes“ erklärt hatte, kroch Zetsche zu Kreuze. Seine Selbstbezichtigung gipfelte im Versprechen, „unser Verständnis der chinesischen Kultur und Werte weiter zu vertiefen“.
Dieses konzeptionelle Vakuum beim Umgang mit machtpolitischen Rivalen hätte eigentlich die Wissenschaft füllen müssen.

Tatsächlich hat sich in den vergangenen 15 Jahren eine Reihe außenpolitischer Thinktanks in Berlin angesiedelt, sie kommunizieren freilich primär untereinander und beeinflussen die öffentliche Diskussion selten. Bleiben die Hochschulen. Doch von dort kommen kaum Impulse, was auch mit der Personallage zu tun hat. Das Fach „Internationale Politik“ führt an den meisten deutschen Universitäten ein Randdasein, es gibt wenige Masterprogramme mit diesem Schwerpunkt. Ganz anders in den USA: Als sie nach dem Zweiten Weltkrieg zur Supermacht aufstiegen, stampften sie binnen weniger Jahre Lehreinrichtungen aus dem Boden, die seither die Gestalter und Verwalter der amerikanischen Globalpolitik hervorbringen. Allein die School of Advanced International Studies in Washington produzierte bis heute 12 000 Außenpolitiker und Diplomaten. Jede der 2000 Hochschulen in den USA, die etwas auf sich hält, hat einen Studiengang „Internationale Beziehungen“ – oft betreut von Dutzenden Professoren und Gastdozenten aus der Praxis.

Gender Studies statt globaler Machtverschiebungen

In Deutschland marginalisieren sich die wenigen Internationale-Politik-Professoren meist noch selbst, weil sie sich mit immer ausgefeilteren Methoden und Theorien und immer unverständlicheren Begriffen auf immer kleinteiligere Probleme stürzen. Inhaltlich dominieren Governance, Europäische Union, Umweltfragen, Gesundheitspolitik, Geschlechterdiskriminierung; für solche politisch korrekten Themen sind Universitätspräsidenten zu begeistern, dahin fließen die Forschungsgelder der großen Stiftungen und staatlichen Förderinstitute. Mit den harten Fragen wie globalen Machtverschiebungen und militärischen Gefahren beschäftigt sich fast niemand. Die Zahl der sicherheitspolitischen Experten an deutschen Unis, die den Unterschied zwischen taktischen und strategischen Nuklearwaffen kennen und etwas mit dem Begriff der Eskalationsdominanz anfangen können, ist verschwindend klein. Harvard-Professor Stephen Walt klagte zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts – in seinem global gelesenen Blog –, es gebe kaum kontinentaleuropäische Kollegen, deren Arbeiten internationale Aufmerksamkeit erhielten und Debatten auslösten. Die Lage ist heute nicht besser.

Dabei verdüsterte sich die globale Sicherheitslage seit 9/11 rapide, auch in der europäischen Nachbarschaft. Irans Streben nach Atomwaffen, Russlands Krieg gegen Georgien, das militärische Eingreifen beider Staaten in den syrischen Bürgerkrieg und der folgende Massenexodus aus dem Land, der Kollaps Libyens, Chinas Expansion im Südchinesischen Meer, Russlands Überfall auf die Krim und sein Inszenieren eines Rebellenaufstands in der Ostukraine – all diesen Krisen wollte Berlin mit Diplomatie begegnen und im äußersten Fall mit Sanktionen. Das kann der richtige Beginn sein. Allerdings unterblieb eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Bundesrepublik in dieser raueren Welt nicht ihre machtpolitischen Werkzeuge als Drohpotenzial, Wortspiel beabsichtigt, in Schuss bringen sollte. Nichts lag den Deutschen jedoch ferner als die Maxime: „Si vis pacem para bellum“ – Wenn du den Frieden willst, rüste zum Krieg.

Mehr Verhandeln statt Handeln

Nicht zuletzt wurden die Politiker Opfer ihrer Sozialisierung. In Deutschland, in Demokratien überhaupt, kommt und bleibt man an der Macht, wenn man unterschiedliche Flügel seiner Partei zusammenschweißen und Regierungspartner gewinnen kann. Aushandlungsprozesse, Deals, Kompromisse sind ihr Wesenskern, nicht umsonst erreichen Koalitionsverträge mittlerweile fast den Umfang von Thomas-Mann-Romanen. Die EU funktioniert ähnlich, und das ist ein enormer zivilisatorischer Fortschritt. Konflikte werden nicht durch Gewalt gelöst, sondern durch Worte und Geld. Kein Land muss eine Militärintervention fürchten, weil es Euro-Stabilitätspakt oder Klimaschutzauflagen verletzt. Im schlimmsten Fall drohen öffentliches Bloßstellen und Strafzahlungen. Jeder Staatspräsident, jeder Regierungschef hat ein Sensorium dafür, was er Kollegen im Europäischen Rat im Härtefall politisch zumuten kann. Oft ist der EU das Verhandeln sogar wichtiger als das Handeln.

Demokratische Innenpolitik und EU-Gipfel bereiten indes nicht auf die Putins und Xis dieses Planeten vor. Die letzten drei Kanzler mussten im Gegensatz zu Adenauer, Schmidt oder Kohl, Gott sei’s gedankt, keinen Weltkrieg erleben, in dem Diktatoren souveräne Staaten überfielen. „München“ steht in den Ohren dieser Politikergeneration für Oktoberfest und Lederhosen, nicht für die Lehre von 1938, dass Appeasement Aggressoren in ihren Expansionsgelüsten bestärkt. Warnungen der Amtskollegen in Polen und den baltischen Staaten, die sowjetische Besatzung durchlitten hatten und russische Drohungen täglich erlebten, taten deutsche Politiker als Säbelrasseln ab und als Belastung für ihre Sonderbeziehungen zum Kreml.

Die Komplettblamage

Am 24. Februar 2022 um vier Uhr morgens offenbarte sich der große außenpolitische Selbstbetrug der Bundesrepublik. Zwar haben fast alle großen Demokratien Russland seine Invasion der Ukraine leicht gemacht – die USA vernachlässigten Osteuropa, Trump hofierte Putin, Großbritannien lockte russische Oligarchen ins Land, Frankreich wollte durch Sonderbeziehungen zu Moskau die eigene außenpolitische Bedeutung aufbauschen. Doch kein Staat hat eine katastrophalere Bilanz als Deutschland. Alle Parteien, alle führenden Politiker der Bundesrepublik schätzten den Kreml-Herrscher seit seinem Amtsantritt 1999 falsch ein.

Der Grund: Berlin hatte sich selbst belogen, wie die Welt außerhalb der westlichen Komfortzone funktioniert. Die Ukraine bezahlt heute den blutigen Preis auch für deutsche Illusionen. Schon 2012 schrieb der amerikanische Politikwissenschaftler und Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski hellsichtig: „Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein Imperium zu sein. Aber wenn die Ukraine unterworfen und dann untergeordnet ist, wird Russland automatisch zu einem Imperium.“ Im Umkehrschluss heißt das: Ohne eine souveräne Ukraine ist die Sicherheit Resteuropas nicht dauerhaft zu gewährleisten. Solch geopolitisches Einmaleins war in Deutschland verpönt. Sonst wären weder Nord Stream 1 unter einer rot-grünen noch Nord Stream 2 unter einer schwarz-gelben Koalition genehmigt worden.

Die größten Fehler bei Nord Stream waren nicht einmal, eine gemeinsame EU-Energiepolitik zu unterlaufen, die eigene Abhängigkeit von russischem Gas enorm zu erhöhen, sich erpressbar zu machen und Kiew einer garantierten Einnahmequelle für die Nutzung der bestehenden Pipeline zu berauben. Noch desaströser war, dass Deutschland seine und Europas Sicherheit von der Sicherheit der Ukraine abkoppelte. Mit einem Mix aus ideologischer Russlandverklärung und ökonomischer Selbstsucht kompromittierte es über eineinhalb Jahrzehnte hinweg bedenkenlos die Überlebensfähigkeit der größten osteuropäischen Demokratie. Dutzende von Milliarden Euros flossen jedes Jahr aus der Bundesrepublik an Moskau für Öl, Gas und Kohle. Mit diesem Geld rüstete Putin seine Armee für Blitzinvasion und hybride Kriegführung auf.

Der Westen lebt doch

Zugleich entwertete Berlin das wichtigste, fast einzige strategische Pfand Kiews: als Gas-Transitland aufs Engste mit dem Rest des Kontinents verwoben zu sein. Denn solange russisches Gas nur durch die ukrainische Röhre nach Westen floss, musste Moskau Kiew pfleglich behandeln. Es ist kein Zufall, dass Putin die Ukraine das erste Mal 2014 überfiel – nach Inbetriebnahme von Nord Stream 1 und Abschluss des Vertrags über Nord Stream 2. So dreist wie intellektuell dürftig erklärten drei deutsche Bundeskanzler Nord Stream trotzdem zu einem „privatwirtschaftlichen Projekt“. In Wahrheit machten sie sich zu Kollaborateuren der russischen Kriegslogistik.

Ob die Ukraine als souveräner Staat überlebt, wissen wir nicht. Einiges sehen wir nach Putins Schocktherapie aber klarer als im Januar. Und nicht alles ist entmutigend. Denn die Reaktion auf die Aggression zeigt, dass der Westen nicht so schwach ist, wie Moskau und Peking seit Jahren hinausposaunen. Vor kurzem meinte Putin noch, „die liberale Idee“ habe „ihre Daseinsberechtigung verloren“, und China feierte die Überlegenheit seines totalitären Herrschaftssystems. Tatsächlich war das westliche Ordnungsmodell mit Trump-Präsidentschaft, Brexit und chaotischem Afghanistanabzug angezählt. Selbst die Nato, lange Jahrzehnte Garant transatlantischer Sicherheit, erschien wahlweise „obsolet“ (Trump) oder „hirntot“ (Macron). Moskau und Peking dehnten ihren Einfluss überall auf der Welt aus: Russland im Kaukasus und auf dem Balkan, im Mittleren Osten, in Zentralafrika, Venezuela, Belarus und Kasachstan; China in Afrika, im indopazifischen Raum, in Lateinamerika und in Europa.

Die Antwort auf Putins Überfall auf die Ukraine zeigt jedoch: Es steckt Leben im Westen. Noch vor wenigen Wochen hätte niemand vorhergesagt, dass Deutschland 100 Milliarden Extraeuro in seinen Verteidigungshaushalt pumpt oder die Schweiz die Vermögen russischer Oligarchen einfriert. Auch das Ansehen der USA ist gewachsen. Früh versorgte Präsident Biden die Allianzpartner mit Geheimdiensterkenntnissen über die russischen Invasionspläne, geschickt legte er mit einer Informationsoffensive die Kreml-Lügen offen, mit sicherer Hand schmiedete er die westliche Koalition zusammen, entschlossen versorgte er Kiew mit Waffen.

Putin hat verloren; Xi gewinnt mit jedem Tag

Putin hingegen hat sich doppelt verkalkuliert. Er unterschätzte Freiheitswillen und Kampfkraft der Ukrainer und glaubte, der Westen werde 2022 ebenso feige auf seine Militärinvasion reagieren wie in Georgien 2008 und der Ukraine 2014. Das Gegenteil war der Fall: Washington und London, Paris und Berlin, Canberra und Tokio betrachteten den russischen Einmarsch in sein Nachbarland als Test für das Überleben der von ihnen geschaffenen internationalen Ordnung. Letztlich tat Putin mehr für die Wiederbelebung der Nato und die Geschlossenheit des Westens, als es tausend Kommuniqués und Gipfelerklärungen hätten tun können. Politisch, ökonomisch und moralisch hat der russische Präsident den Krieg bereits verloren: Die Allianz wird dauerhaft Kampftruppen an ihrer Ostflanke stationieren, neutrale Staaten wie Schweden und Finnland rücken näher an sie heran, Tausende russische Soldaten sind gefallen, die Wirtschaft kollabiert, seine Herrschaft kann er nur mit brutaler Unterdrückung aufrechterhalten, und sein Land ist zum Paria der Weltpolitik geworden. Wenn sogar AfD und Linke vom Kreml abrücken, wie inzwischen geschehen, ist die Propagandaschlacht selbst im Land der Putin-Versteher verloren.

Aber der Westen muss sich im Klaren darüber sein: Russlands Überfall auf die Ukraine beerdigt die Ära nach dem Kalten Krieg. In die Geschichtsbücher dürften die Jahre von 1991 bis 2022 als „Zwischenkriegszeit“ eingehen. Die neue böse Welt, die Putin dem Westen aufgezwungen hat, endet nicht mit ihm und nicht an den Grenzen des russischen Imperiums. So werden Nordkoreas Kim Jong-un, Syriens Baschar al Assad oder Irans Ali Chamenei nichts unversucht lassen, ihre Terrorregime nach innen und außen mit allen Mitteln an der Macht zu halten.

Am gefährlichsten für die liberale internationale Ordnung bleibt allerdings China. Wo Putin Einfluss mit Artillerie und Panzern herbeischießen will, tut Xi das mit wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeiten. Das hat seine innere Logik: Der Kreml-Herrscher weiß, dass sich sein Staat demografisch und ökonomisch im Abstieg befindet. Bis auf Öl und Gas hat Russland der Welt nicht viel zu bieten, und der globale Ausbau erneuerbarer Energie entwertet langfristig seine wichtigsten Ressourcen. Will Putin sein Reich erweitern, muss er es schnell tun, die Zeit arbeitet gegen ihn. Peking hingegen gewinnt täglich an wirtschaftlicher und militärischer Kraft. Es kann warten und hoffen, dass der Westen Schwäche zeigt. Xis ultimatives Ziel bleibt es, die Pax Americana durch eine Pax Sinica zu ersetzen und Taiwan ins chinesische Imperium einzugliedern.

Ankunft in einer neuen Welt

Nicht zuletzt deshalb ist es so entscheidend, dass der Westen der Ukraine geschlossen beisteht und die Kosten von Putins Hasardspiel durch Waffenlieferungen und Sanktionen nach oben treibt. Dies ließe Xi vielleicht zwei Mal überlegen, seine Expansionspolitik noch brachialer fortzusetzen und vielleicht sogar eine Invasion Taiwans zu befehlen. Dazu müssen die Demokratien die Eintracht bewahren, mit der sie Russland heute entgegentreten. Die USA sollten alles daransetzen, ihre innere Spaltung zu überwinden, die sie in den vergangenen Jahren so sehr schwächte – die Bedrohung durch Russland und China könnte dabei wie schon im Kalten Krieg eine einigende Wirkung entfalten. Zugleich muss Washington ein System schaffen, das die Führung des Westens auf die Schultern der größten Demokratien der Welt verteilt. Die Gruppe der Sieben (USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada) könnte dafür um Australien, Südkorea, Spanien und Polen ergänzt und die Institution zum Drehkreuz westlicher Politik ausgebaut werden. Dabei würden die USA Primus inter Pares bleiben, viele Nutznießer der liberalen internationalen Ordnung aber mehr Pflichten übernehmen.

Das gilt zuallererst natürlich für Deutschland. Der Bundeskanzler hat mit seiner Regierungserklärung einen ersten wichtigen Schritt in diese Richtung getan. Jetzt muss Berlin beweisen, dass die realpolitische Wende von Dauer ist. Putins Krieg gegen die Ukraine wird irgendwann enden, durch Eroberung und Besetzung des Landes, Waffenstillstand, Niederlage seiner Truppen oder Regimewechsel in Moskau. Ein Zurück in die neunziger Jahre, als militärische Dominanz der USA und wirtschaftliche Vormacht des Westens Stabilität und Frieden garantierten, wird es freilich nicht geben. Deutschland muss sich, so schwer es ihm fällt, in einer neuen Welt einrichten, in der Großmachtkonkurrenz, militärische Droh- und Eroberungspolitik und Denken in Einflusszonen regieren.

 

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige