Kontroversen in den USA - Im Treibhaus der politischen Polarisierung

Was hat eigentlich zur extremen Polarisierung der US-amerikanischen Gesellschaft geführt? Häufig wird Social-Media-Kanälen die Schuld gegeben. Doch die Gründe liegen tiefer. Und sie geben Anlass zur Hoffnung.

Wirkt US-Präsident Biden der Polarisierung genügend entgegen? / dpa
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Autoreninfo

Moritz Mücke hat am Hillsdale College in Michigan in „Politics“ promoviert, und war ein Publius Fellow am Claremont Institute in Kalifornien. Er lebt und arbeitet bei Frankfurt am Main.

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„Die klügsten Köpfe meiner Generation denken darüber nach, wie man Leute dazu bringt, auf Werbebanner zu klicken.“ Das sagte vor knapp zehn Jahren ein melancholischer Jeff Hammerbacher, der als früherer Facebook-Ingenieur daran mitgearbeitet hatte, eine digitale Maschinerie anzuwerfen, die heute über zwei Milliarden Menschen katalogisiert. Sie ist, zusammen mit den anderen Internetgiganten des Silicon Valley, das mächtigste je erschaffene Werkzeug nicht nur der Vermarktung, sondern der Beeinflussung.

Ein Dreh an der richtigen Schraube und das Meer teilt sich. Ist das dieselbe Macht, die uns auch politisch auseinandertreibt und die Polarisierung, etwa in den USA, immer weiter vorantreibt? Die sozialen Netzwerke sind der vorläufige Höhepunkt eines Trends, den Winston Churchill 1925 als „Masseneffekte des modernen Lebens“ bedauerte. Die Zeit des heroischen Feldherrn schien ihm besiegelt, ersetzt von techno-politischen Massenstrukturen, in die das Individuum eingeebnet wird wie ein Molekül.

Facebook & Co. sind keine Chorknaben

Es ist das gleiche kulturpessimistische Unbehagen, das heute in den sozialen Netzwerken ein Geflecht politischer Echokammern heraufziehen sieht. Freilich sind Facebook & Co. keine Chorknaben. Die beliebte Netflix-Dokumentation „The Social Dilemma“ zeigte unlängst den erstaunlichen Umfang verhaltensökonomischer und -psychologischer Tricks, die soziale Medien einsetzen, um uns auf ihren Plattformen zum Interagieren zu verleiten. Es reicht ihnen nicht, dass wir mehr klicken – wir sollen auch länger scrollen, herzlicher liken, und ausgiebiger teilen. Moralisch aufgeladene und negative Schlüsselwörter können dort größere Reichweiten erzeugen als neutrale.

Das verlangt einen demokratisch bestimmten, durchaus muskulösen Ordnungsrahmen, wie es ihn auch für die Reklameindustrie gibt, die seit jeher auf Verkaufspsychologie setzt. Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt ist kein Anhänger der sozialen Medien, die er mitschuldig macht für die psychischen Probleme der heranwachsenden Generation. Aber er datiert den Ursprung Amerikas Polarisierung auf die 80er- und 90er-Jahre, als das Internet noch weit vom Massenmedium entfernt war.

Neue Machtstrukturen

Institutionen wurden damals umgeformt. Als die Republikaner um Newt Gingrich 1995 die Mehrheit im Kongress erlangten, änderten sie die Abläufe und erleichterten es Abgeordneten, überwiegend in ihren Wahlkreisen zu wohnen. Das Resultat: Politiker entwickelten eine schwächere Bindung an die Hauptstadt und formten dort weniger überparteiliche Freundschaften. Nun gab es kaum mehr Gelegenheit zur Verbrüderung. Erst sanken die Hemmschwellen, dann das Niveau. Auch die Machtstrukturen wurden zugespitzt. Einst entschieden Alter und Dienstzeit darüber, welche Abgeordneten einflussreichen Ausschüssen bei- und vorsitzen dürfen. Gingrich setzte durch, die Positionen danach zu vergeben, wer sich am stärksten für die Partei einsetzte.

Loyalität wurde so zur Tugend. Erfahrene und ausgleichende Politikertypen gab es weiterhin, nur machten sie jetzt seltener Karriere. Der Kongress wurde immer mehr zu einer Theaterbühne für die Parteiwerbung und Selbstdarstellung politischer Performer. Wenn heute Hinterbänkler dort Reden halten, ist für den Fernsehzuschauer nicht ersichtlich, dass die Räumlichkeiten in der Regel leer sind. Wer wichtig ist, setzt ohnehin lieber auf reichweitenstarke Live-Interviews in den großen Nachrichtenkanälen. Die sozialen Medien sind nur zusätzliche Requisiten in einer längst einstudierten Inszenierung. 

Die Polarisierung der traditionellen Medien

Es ist die Polarisierung der traditionellen US-Medien, die besonders schwer wiegt. Sie begann Ende der 80er-Jahre nach der regulatorischen Rücknahme der „Fairness-Doktrin“, die Inhaber von Rundfunklizenzen in öffentlichen Meinungskontroversen eine Kontrastpflicht auferlegte. Als die Doktrin starb, blühte die Radiolandschaft auf. Insbesondere konservative Meinungsmacher wie der kürzlich verstorbene Rush Limbaugh erlebten einen kometenhaften Aufstieg. Sie sprachen zu einem Amerika, das sich in den institutionellen Kanälen oft nicht vertreten fühlte, und sorgten so für eine bessere Abbildung existierender Meinungsvielfalt. Aber sie trugen auch zu einer medialen Atomisierung bei, zur Schaffung einer Welt, in der jeder seine Nische findet, nicht nur als Zuflucht, sondern zunehmend auch als Ausflucht.

Das Kabelfernsehen perfektionierte das Geschäftsmodell. Im Gegensatz zu den ebenfalls schamlos-parteiischen Zeitungen des 19. Jahrhunderts eroberten die neuen Nachrichtenkanäle ihr Publikum auf nationaler Ebene. Rupert Murdochs konservatives Fox News, das 1996 auf Sendung ging, war lediglich Pionier einer neuen, auf High-Tech getrimmten Voreingenommenheitsindustrie, in die sich seit seiner Neuerfindung als Anti-Trump-Kanal auch das deutlich ältere CNN nahtlos einfügt. Beiden gemein ist der erbarmungslos auf 24 Stunden ausgedehnte Nachrichtentakt, das emotionale Spiegeln der Zuschauerschaft durch Verstärkung vorhandener Vorurteile, die gelegentliche Herabwürdigung anderer Nachrichtenquellen und das ständige Übertreiben dessen, was politisch auf dem Spiel steht.

Maßgeschneiderter Zorn

Wer Echokammern suchte, wurde hier schon lange fündig. Dabei gibt es einen Taschenspielertrick, der auf den ersten Blick verblüfft: Ein kleines Publikum kann lukrativer sein als ein größeres. Es lässt sich als Zielgruppe greifen, weil es sich schon als Gruppe begreift. Für Demokraten oder Republikaner Fernsehen zu machen bedeutet, spezifische Identitäten anzusprechen, spezifische Sorgen aufzugreifen, um spezifische Produkte zu verkaufen. Motivierbarkeit zählt mehr als Reichweite, Klasse mehr als Masse. Als angenehmer Nebeneffekt bleibt, dass einige namhafte Journalisten – wie Bari Weiss oder Glenn Greenwald – ihre Arbeit mittlerweile auf Substack anbieten, wo eine Privatkundschaft zahlt, die sogar noch kleiner und noch motivierter ist als das parteiische Fernsehpublikum.

Im Gratisnetz läuft es anders. Tracking-Cookies und andere Webwerkzeuge ermöglichen einer Nachrichtenseite auch ohne die Zuhilfenahme sozialer Medien das passgenaue Zuschneiden aufwühlender Inhalte nach demographischen Kriterien, inklusive politischer Vorlieben. Der liberale Journalist und Medienkritiker Matt Taibbi bezeichnet diesen Prozess als einen maßgeschneiderten Marketing-Trichter, in den man hineinfällt, ohne es zu merken, eine „individualisierte Kundenerfahrung — Zorn genau für dich.“ Möglich machen das Messinstrumente, mit denen man in Echtzeit nachvollzieht, wer auf welche Inhalte anspricht. Das gilt auch für klassische Fernsehinhalte, die zunehmend in „Big Data“ aufgehen. Netflix ist nicht unbedingt braver als Twitter.

Das Treibhaus der Polarisierung

Politische Polarisierung ist aber kein künstlicher Prozess, der in einem düsteren, digitalen Maschinenraum abläuft. Eher ähnelt sie einem Treibhaus: Die Temperatur wurde zweifellos künstlich angeheizt, aber die grundlegenden Abläufe sind natürlich. Der Journalist Bill Bishop prägte schon 2004 den Begriff der „großen Sortierung“: Amerikaner zöge es schlicht in Landesteile und Bezirke, in denen es bereits gleichgesinnte Mitbürger gibt. Durch erfolgten Zuzug verstärkten sich die Ähnlichkeiten noch. Diese These lässt aufhorchen, da sie dem Vorwurf nahekommt, der den sozialen Medien gemacht wird, nämlich, dass ihre Nutzer sich zwangsläufig eine gleichgesinnte Followerschaft aufbauten und sich in Filterblasen und Echokammern von abweichenden Meinungen abschirmten. Es ist ein Vorwurf, der in mehreren Studien zurückgewiesen worden ist. 

Dennoch ist es nützlich, Polarisierung zumindest teilweise als Nebenprodukt eines natürlichen Fortschritts zu denken. Seit dem Ende des Bürgerkriegs 1865 hat es auf dem Boden der Vereinigten Staaten keinen Krieg mehr gegeben und die Mobilität von Individuen und Familien ist explodiert. Es gab Reformen, aber keine politischen Revolutionen, die das Kartendeck des Schicksals ruckartig neu vermischt hätten. Millionen von Migranten konnten sich weitgehend frei auf das Land verteilen. Die Parteien haben sich an mentale Vorprägungen angepasst wie ein Paar ideologischer Handschuhe.

Jonathan Haidt bezeichnet es als ein fast unvermeidbares, „natürliches Resultat“, dass der konservative Süden sich nach den Bürgerrechtsreformen der 60er-Jahre von der Demokratischen Partei abgelöst und allmählich den Republikanern zugewandt hat. Beide Parteien beheimateten zuvor Vertreter liberalen und konservativen Temperaments, heute sind sie durchsortiert. Vereinigende Momente, die der Spaltung entgegenwirken, fallen zunehmend aus. Die Polarität des Kalten Kriegs, die die Polarisierung zu Hause einst bremste, endete etwa zeitgleich mit dem Abtritt jener amerikanischen Generationen, die durch ihre Weltkriegserfahrungen zusammengeschweißt wurden.

Nicht festverkabelt, aber vorverkabelt

Der letzte große Anlass nationaler Einmütigkeit waren die Terroranschläge des elften September, die nun beinahe 20 Jahre zurückliegen. Vincent Harinam und Rob Henderson, Nachwuchsforscher an der Cambridge University, schreiben in einem Beitrag in Quillette zur Psychologie von Krisen: „Weil Katastrophen ohne Unterscheidung töten und daher besonders egalitär sind, dämpfen sie die Qualitäten, die uns unterscheiden. Wohlstand, Herkunft, politische Zugehörigkeit; solche Dinge machen kaum Eindruck auf Bomben und Hurricanes.“ Deshalb könnten unterschiedliche Veranlagungen gerade dann wirkmächtig werden, wenn der materielle Fortschritt künstliche Katastrophen allmählich beseitigt.

Etwa ein Drittel bis die Hälfte der Variabilität politischer Vorlieben lässt sich genetisch erklären; zum Beispiel bevorzugen Konservative laut psychometrischen Studien Ordnung und Struktur, während Linksliberale offener für neue Erfahrungen sind. Der Neurowissenschaftler Gary Marcus fand die richtigen Worte, als er bemerkte, Menschen seien von Natur aus nicht festverkabelt, aber doch vorverkabelt. Sogar scheinbar unpolitische Präferenzen, etwa ob Gedichte sich reimen oder Romane in einer klaren Auflösung münden sollten, korrelieren leicht mit der politischen Orientierung des Befragten (Konservative neigen in beiden Fällen eher zur Bejahung).

Lincolns Verzicht auf Schuldzuweisungen

Möglicherweise ist Polarisierung schlicht das Nebenprodukt einer stärker hervortretenden Natur. Gerade darin liegt aber eine große Hoffnung begründet. Wenn politisches Temperament zumindest teilweise vorgeprägt ist, macht es weniger Sinn, andere wegen ihrer Überzeugungen zu dämonisieren. Ein Ventil der Toleranz öffnet sich. Historisch war es das vielleicht stärkste Argument der Schwulenbewegung, sexuelle Attraktion als etwas zu verstehen, das sich der Kontrolle des Einzelnen weitgehend entzieht. Der moralisierende Bannstrahl der Gegenseite lief damit ins Leere. Denn in unserer Machtlosigkeit gegen höhere Gewalt sind wir alle – gleich.

Es ist möglich, von den kühlenden Segnungen solcher psychologischer Einsichten zu profitieren, ohne zum politischen Relativisten zu werden: Abraham Lincoln war der bitterste Gegner der Sklavenhalter in den Südstaaten, nahm deren Bevölkerungen aber 1858 in Schutz, auch um der damaligen regionalen Polarisierung entgegenzuwirken: „Sie sind genau das, was wir in ihrer Situation auch wären.“ Nach Bürgerkrieg und Sklavenbefreiung vermied Präsident Lincoln triumphales Gehabe ebenso wie dumpfe Schuldzuweisungen, weil er wusste, dass beides die Spaltung des Landes zementiert hätte.

Rituale des sozialen Zusammenhalts

Heute böten sich praktische Tricks an, um den sozialen Zusammenhalt zu verbessern. Der Marketing-Professor Robert Cialdini beschreibt in seinem Buch Pre-Suasion, dass Menschen, die choreographisch in Einklang gebracht werden, einander als ähnlicher wahrnehmen und im Nachhinein auch positiver bewerten. Kein Wunder, dass die isländische Fußballnationalmannschaft ihren Teamgeist mit dem weltberühmt gewordenen „Viking Clap“ stählt, bei dem Team und Fans sich in einer gemeinsamen Bewegung spiegeln.

In Amerika gibt es bereits zwei geeignete Rituale, die, weniger spektakulär, doch Ähnliches vollbringen: Zum einen der in öffentlichen Schulen vorgetragene nationale Treueschwur (Pledge of Allegiance), und zweitens das Singen der Nationalhymne, insbesondere bei Sportveranstaltungen. Diese dringend benötigten Rituale sind jedoch nicht mehr überall en vogue. Wenn Konservative wie Gingrich oder Limbaugh eine Mitschuld an der Spaltung des Landes tragen, so kann man hier auch die andere Seite in Haftung nehmen: Es sind überwiegend Linke, die seit Jahrzehnten gegen den Treueschwur prozessieren – etwa, weil er die Worte „unter Gott“ enthält – und mittlerweile das Singen der Nationalhymne gelegentlich im Namen der sozialen Gerechtigkeit sabotieren, wie der für sein Hinknien bekannt gewordene Football-Star Colin Kaepernick.

Die falschen Kanäle

Unabhängig vom Gehalt der zugrundeliegenden Motive sind das die falschen Kanäle. Amerikaner brauchen Anlässe, zusammen unpolitisch amerikanisch zu sein. Einige ihrer alten Gründungsdokumente sprechen sogar von einer notwendigen „häufigen Wiederkehr zu grundlegenden Prinzipien.“ Darin steckt ein mächtiges Versprechen, das heute stärker ernst genommen werden sollte.

Auch Präsident Biden wirkt der Spaltung nicht entgegen, wie ein Fauxpas im Pentagon unlängst verdeutlichte. Nachdem Fox-Kommentator Tucker Carlson sich über Bidens militärische Prioritätensetzung mokierte – es ging um Ausrüstung für schwangere Kampfpilotinnen – überraschte ein offizieller Twitter-Account der US-Marines mit einer giftigen Stellungnahme, in der Carlson als „Boomer“ verhöhnt wurde. Bisher war es unvorstellbar, dass das Militär als letzter, vermeintlich neutraler Ruhepol des öffentlichen Lebens in einer lediglich politischen Kontroverse dermaßen Partei ergreift. Unter Biden werden auch Amerikas Kulturkriege militärisch ausgetragen. Das passt zu einer auseinanderklaffenden Nation auf der rastlosen Suche nach ihren Massenverklebungswaffen.

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