Konflikt um die Ukraine - Alles nur ein Bluff?

Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen hält die Welt weiter in Atem. Der Kreml hat gegenüber den USA und der Nato Maximalforderungen aufgestellt, deren Erfüllung wie erwartet nicht zugesagt wurde. Dennoch hat keine Seite wirkliches Interesse an einer militärischen Eskalation. Worum geht es Putin also tatsächlich?

Ein ukrainischer Soldat an der Trennlinie zu pro-russischen Rebellen in der Region Donezk / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Ekaterina Zolotova ist Analystin für Russland und Zentralasien beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

So erreichen Sie Ekaterina Zolotova:

Anzeige

Die Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland in der vergangenen Woche sind aussagekräftig, ohne viel auszusagen. Die ersten Gespräche fanden am 9. Januar statt, bevor am nächsten Tag weitere offizielle Gespräche in Genf abgehalten wurden. Einige Tage später sprachen Russland und die Nato in Brüssel über die Ukraine und, damit zusammenhängend, über die Nicht-Erweiterung der Nato nach Osten.

Es gab nie viel Hoffnung für diese Verhandlungen, bei denen Russlands Vorschläge für Sicherheitsgarantien, insbesondere gegenüber der Nato, ganz oben auf der Tagesordnung standen. Die drei Parteien beendeten ihre Gespräche mit der Einsicht, dass weiterhin Meinungsverschiedenheiten existieren. Nach den Gesprächen war in den Medien natürlich die Rede von Eskalation und von Vorbereitungen für eine Invasion in der Ukraine. Diese „Eskalation“ scheint jedoch eher eine Taktik als eine reale Option zu sein: ein Versuch Russlands, seine Gegner zur Teilnahme an weiteren Treffen zu drängen und so die Sicherheit seiner wertvollen Pufferzonen zu gewährleisten.

Psychologischer Druck auf die USA

Noch während der Verhandlungen begann Russland, seinen psychologischen Druck auf die USA und die Nato zu erhöhen. So initiierte es beispielsweise Militärübungen in den westlichen Regionen Woronesch, Belgorod, Brjansk und Smolensk – allesamt nahe der ukrainischen Grenze gelegen (etwa 3.000 Soldaten nahmen daran teil). Der Zweck der Übungen war klar: die Demonstration der eigenen Fähigkeiten und des Willens, die eigenen Interessen zu schützen. Psychologische Operationen wie diese sind besonders wichtig für Moskau, das glaubt, sich behaupten zu müssen, ohne einen Krieg führen oder zusätzliche Sanktionen verhängen zu müssen.
 
Der Zweck der Forderungen Moskaus ist ebenfalls ziemlich klar: Es will von der Nato und von Washington eine Garantie dafür, dass diese keine Nachbarländer zur Vorbereitung eines bewaffneten Angriffs auf Russland nutzen. Zudem fordert Moskau, dass Washington die Osterweiterung der Nato stoppt und eine weitere Aufnahme ehemaliger sowjetischer Satellitenstaaten verweigert. Und es will die Zusicherung, dass die USA in diesen Staaten keine Militärstützpunkte errichten und dass die Nato ihre militärischen Aktivitäten in der Ukraine sowie in anderen Teilen Osteuropas, des Südkaukasus und Zentralasiens einstellt. Ohne diese Garantien wird sich Russland in seinen westlichen Grenzgebieten unweigerlich verwundbar fühlen. Eines der wichtigsten geopolitischen Ziele Russlands ist es, eine Pufferzone zwischen seinem Kernland und externen Bedrohungen aus Europa zu erhalten.

Natürlich hat der Kreml nie erwartet, dass die USA in der vergangenen Woche vor seinen Forderungen kapitulieren würden. Aber er hatte gehofft, dass der Westen zumindest einige seiner Standpunkte in diesen Fragen aufweicht. Und da die Verhandlungen zu keinem Ergebnis geführt haben, kann man davon ausgehen, dass Russland in nächster Zeit etwas aggressiver auftreten wird, wenn auch nur rhetorisch. Schließlich ist das Grenzgebiet nach wie vor ungesichert: Der Konflikt im Donbass ist eingefroren, die Kaukasusregion wird ständig von der Türkei herausgefordert, und Zentralasien ist immer noch instabil.

Eine rote Linie

So erklärte der russische Präsidentensprecher Dmitri Peskow kürzlich in einem Interview mit CNN, dass sich die Beziehungen Russlands zur Nato aufgrund der militärischen Unterstützung der Ukraine durch das Bündnis einer roten Linie nähern würden. Er fuhr fort, dass die Nato ein Instrument der Konfrontation sei, dass Russland eine schrittweise Invasion des westlichen Militärbündnisses in der Ukraine sehe, und dass die vorgeschlagenen US-Sanktionen gegen die russische Führung zum Abbruch der bilateralen Beziehungen führen könnten. 

Darüber hinaus verkündete der stellvertretende russische Außenminister Sergej Rjabkow, der direkt an den Verhandlungen beteiligt ist, in einem Interview mit dem Fernsehsender RTVI, er könne nicht ausschließen, dass im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen mit dem Westen militärische Mittel nach Kuba und Venezuela entsandt würden. Auch hier mag es sich um rhetorische Äußerungen handeln, aber sie bringen die USA in die Defensive – und zwar in aller Öffentlichkeit.

Abgesehen von der verschärften Rhetorik hat Russland offen seine militärischen Bewegungen verstärkt. In der vergangenen Woche zeigten mehrere Dutzend Videos auf TikTok und Instagram die Verlegung von Militärpersonal und Ausrüstung aus Sibirien und dem Fernen Osten in die westlichen Regionen Russlands. Kurz darauf begann die Panzerarmee des westlichen Militärbezirks mit Übungen in fünf Regionen, an denen mehr als 800 Soldaten und mehr als 300 schwere Waffen beteiligt waren. Zudem begannen russische Truppen mit Übungen im Süden und Westen Weißrusslands. Mit diesen Schritten will Russland die Botschaft vermitteln, dass seine Streitkräfte bereit sind.

Trotz dieses performativen Manövers und trotz der Berichte über mögliche Einsätze gibt es jedoch viele Hinweise darauf, dass weder Russland noch die Vereinigten Staaten an einer ernsthaften militärischen Konfrontation interessiert sind.

Ohne Überraschungsmoment

Erstens: Wenn Russland eine Konfrontation gewollt hätte, dann hätte es dies im Stillen getan. Gut angekündigte militärische Bewegungen, insbesondere solche, an denen Soldaten aus dem anderen Ende des Landes beteiligt sind, machen jedes Überraschungsmoment zunichte, das sich Russland hätte erhoffen können. Und obwohl die Zahl der Truppen und Panzer im Westen Russlands groß zu sein scheint, reicht sie nicht annähernd aus, um in den weiten Gebieten der Ukraine einen erfolgversprechenden Krieg zu führen. (Bemerkenswert ist, dass die Verlegung von russischem Material bereits seit fast einem Jahr im Gange ist und nicht erst letzte Woche begonnen hat.)

Zweitens ist die Entsendung von Waffen oder Truppen nach Kuba und Venezuela keine leichte Aufgabe. Schon in den besten Zeiten wäre dies schwierig, aber aktuell sind es eben nicht die besten Zeiten. Die bilaterale Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern und Russland ist derzeit viel schwächer als in den zurückliegenden Jahren. Außerdem erfordert die Arbeit in einer so abgelegenen Region aktive Bewegung und eine zuverlässige Logistik, um die Sicherheit der militärischen Einrichtungen zu gewährleisten. Zudem würden die Projekte erheblichen Kapitaleinsatz erfordern, für den die instabile russische Wirtschaft nicht bereit ist.

Keine amerikanische Ausstiegsstrategie 

Schließlich kann der Kreml sein Ziel, eine Pufferzone zu sichern, auch ohne einen Krieg erreichen. Für Moskau ist eine friedliche Stabilisierung im Donbass ein suboptimales, aber durchaus akzeptables Ergebnis. Jeder Waffenstillstand würde den russischen Präsidenten Wladimir Putin als Friedensvermittler darstellen, der dem festgefahrenen Konflikt ein Ende gesetzt hat – was seine Zustimmungswerte und sein Ansehen in der Welt erhöhen dürfte. Kurzum: Putin kann nicht in eine Krise hineingehen und mit nichts Vorzeigbarem aus ihr herauskommen. Die USA haben noch weniger Grund, sich in einen Konflikt einzumischen, der weit von ihren Grenzen entfernt ist und für den es keine Ausstiegsstrategie gibt.

Russland möchte den Anschein erwecken, dass es bereit ist, einen Krieg zu führen, ohne am Verhandlungstisch ein Druckmittel zu verlieren. Die USA ihrerseits vermuten, dass Russland wahrscheinlich blufft. Sie wissen um die Grenzen Russlands und haben diesen Film schon einmal gesehen. Russland wird weiterhin Operationen durchführen, um die Kontrolle über die Pufferzone zu erlangen, und die USA werden mit diesen Aktionen nicht glücklich sein. Aber beide Seiten sind sich darüber im Klaren, dass sie zum Abbau der Spannungen keinen Dialog mit der EU, der Nato oder der Ukraine führen müssen. Sondern miteinander.

In Kooperation mit

Anzeige