Sturm der Trump-Anhänger aufs Kapitol - Warum wir die Bilder aus Washington als Warnung verstehen müssen

Die amerikanische Verfassung galt immer als Vorbild für westliche Demokratien. Umso erschütternder sind die Bilder vom Sturm der Trump-Anhänger aufs Kapitol. Sie sollten auch in Deutschland als Warnung verstanden werden. Denn auch hier wächst die Kluft zwischen Regierenden und Regierten.

Wütender Furor: Der Sturm aufs Kapitol weckt Erinnerungen an den Mob vor dem Berliner Reichstag / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Aus Gedanken werden Worte. Aus Worten werden Taten. Aus Taten bahnt sich das Postfaktische seinen deformierten und gewaltsamen Weg zurück in die allzu lang geleugnete Wirklichkeit. Das, was die amerikanische wie die internationale Öffentlichkeit gestern gegen 8 Uhr Washingtoner Ortszeit an den Stufen wie auch im Inneren des Kapitols und somit im Zentrum der amerikanischen Demokratie erleben musste, nahm seinen Anfang in dem Überlegenheitswahn eines narzisstisch gekränkten Präsidenten. Es formte seinen Weg in unzähligen, 280 Zeichen, umfassenden Lügengeschichten auf diversen Social Media-Kanälen und entlud sich schließlich in den Gewaltexzessen eines wütenden Trump-Mobs.

Die amerikanischen Kongressabgeordneten waren gerade im Begriff, den Sieg Joseph Bidens bei der letzten Präsidentschaftswahl zu bestätigen – eigentlich nur eine Formalie – , als sich eine aggressiv aufgeladene Menge von Trump-Loyalisten, angestachelt vom noch amtierenden Präsidenten selbst und den längst als Fake entlarvten Nachrichten über eine angeblich gestohlene Wahl, auf den Weg gemacht hatte, das Kapitol zu erstürmen.

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Die Mutter aller Demokratien 

Es war ein wütender Furor, in der Geschichte der freiheitlichen Demokratie ist er nahezu ohne Beispiel: Im Namen des amtierenden Präsidenten wurden Rohrbomben gelegt, Büroräume von Senatoren verwüstet, Fenster zerbrochen, Kunst geplündert. Szenen, die man sonst nur aus Bananenrepubliken oder allenfalls noch vom Militärputsch gegen den demokratisch legitimierten chilenischen Präsidenten Allende im Jahr 1973 kannte, ereigneten sich plötzlich an einem Ort mit höchster Symbolkraft für die gesamte Welt.

Denn so wie die Französische Revolution ein Schritt zur „Harmonie der Menschheit“ war, so ist auch die Amerikanische Verfassung nebst ihren Institutionen aus der Sicht des Westens noch immer Vorbild und Antrieb für die globalen Demokratiebewegungen. Es war der französische Publizist und Politiker Alexis de Tocqueville, der diesen Gedanken früh in seiner Schrift „Über die Demokratie in Amerika“ geäußert hatte. 

„Genug ist genug“

An Donald Trump wie an seinen gescheiterten Putschisten in Washington scheint diese Warnung vorbeigegangen zu sein. Wer sich zu einem gottgleichen Herrn über die Verfassung aufschwingt, der wird am Ende eine bittere Niederlage einfahren. Denn was als verspäteter und nur mit Gewalt zu erringender Sieg der Trumpisten gedacht war, das entpuppte sich zumindest kurzfristig als Kapitulationserscheinung des ultra-rechten Lagers. Als der Senat nach Verhängung einer Ausgangssperre wieder zusammentrat, schien die gespaltene Nation etwas näher zusammengerückt zu sein.

Nicht nur war man sich in weiten Teilen des Kongresses einig in der Verurteilung der Ausschreitungen, auch rückten nun immer mehr republikanische Abgeordnete vom ihrem noch amtierenden Präsidenten ab. Lindsey Graham etwa, der einflussreiche Senator aus South Carolina, erklärte Biden bei der nach den Ausschreitungen wieder aufgenommenen Debatte zum legitimen Präsidenten: „Trump und ich hatten eine lange gemeinsame Reise“, so Graham. „Aber jetzt bin ich raus. Genug ist genug.“

Sinnbild für gesellschaftliche Spaltung  

Und auch Vizepräsident Mike Pence nutzte anschließend die Gelegenheit, um sich mit scharfen Worten von Trump zu distanzieren: „Gewalt gewinnt nie. Freiheit gewinnt!“, so Pence, der gerade den Vorsitz der Debatte geführt hatte, als die Trump-Anhänger ins Kapitol eingedrungen waren.

Es ist ein Satz, den man in diesen Stunden nur zu gerne glauben möchte. Ein Satz, der nach jenem Amerika klingt, das über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg zum Aushängeschild und Wegweiser einer besseren, weil demokratischere Zukunft werden konnte. Dieses Amerika aber, diese Avantgarde der Freiheit, wirft seit dem gestrigen Abend lange Schatten in Richtung Europa. Die Bilder von den Rechten und Rednecks am Fuße des Kapitols haben nicht zuletzt auch die Alte Welt daran erinnert, wie tief die gesellschaftliche Spaltung längst auch außerhalb der USA geworden ist.

Erinnerungen an den Mob vor dem Berliner Reichstag 

Sollte Amerika, diese Nation, die es einstmals besser hatte, nicht vielleicht auch in den dunklen Stunden Modellcharakter für gefährliche Entdemokratisierungsprozesse auf der ganzen Welt haben? Erinnerungen an die Bilder vom Mob vor dem Berliner Reichstag werden wach.

Erinnerungen an den Mordfall Walter Lübcke. Erinnerungen daran, wie auch hierzulande Realitäten geleugnet werden, solange, bis das Postfaktische wie ein aufgeplatztes Krebsgeschwür außer Kontrolle gerät. Der Gang der Politik, hat der Amerikafreund Alexis de Tocqueville geschrieben, gleicht dem Flug eines Drachens, dessen Bahn von den Winden abhängt, die ihn treiben. Momentan stehen die Winde nicht gut.

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