Japan - Mehr China wagen

Im November wird Shinzo Abe der am längsten regierende Premierminister Japans sein. Er will den Einfluss des Landes in der Region stärken und betreibt eine Abkehr vom Pazifismus. Paradoxerweise wird Japan auf diesem Weg seinem Rivalen China immer ähnlicher

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Was unterscheidet Japans Premier Shinzo Abe und Chinas Staatspräsident Xi Jinping noch? / picture alliance
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Felix Lill ist als Journalist und Autor spezialisiert auf Ostasien.

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Shinzo Abe dürften dieser Tage einige Gründe einfallen, stolz auf sich zu sein. Schon dass sich der mächtigste Mann Japans bis jetzt im Amt halten konnte, ist ein Erfolg. Mehrere unangenehme Affären – von Vorwürfen der Vetternwirtschaft bis zum Vertändeln der Rentendaten von mehr als einer Million Japanern – hat Abe überlebt. Im Vergleich zu seinen Vorgängern besticht er noch immer durch einen autoritären, unbeirrten Auftritt. Und als wäre von Anfang an klar gewesen, dass sich dieser Mann oben halten würde, hob ihn das Magazin The Economist bereits im Frühjahr 2013, kaum ein halbes Jahr nach Amtsantritt, auf die Titelseite. Dort flog Abe im Superman-Kostüm durch die Lüfte.

Am 20. November stellt der 65-Jährige nun einen Rekord auf: Er wird zum am längsten regierenden Premierminister in der japanischen Geschichte. Zwar reichen dafür schon knapp acht Jahre im Amt, also weniger als zwei volle Legislaturperioden. Aber in der politischen Nachkriegskultur des ostasiatischen Landes, die für große Vorhaben nicht selten Neuwahlen erwartet und in der die Bürokraten oft mächtiger sind als ihr oberster Chef, verschleißen sich Premiers im Schnitt nach kaum zweieinhalb Jahren. Abe dagegen hat seit 2012 fünf Unter- und Oberhauswahlen überstanden.

Die unangefochtene Nummer eins

Nie hatte Japan in seiner Nachkriegszeit einen mächtigeren Politiker. In der konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP) ist der Nationalist Abe die unangefochtene Nummer eins, auch die Opposition kann ihm seit Jahren nicht mehr gefährlich werden. Was deshalb aber auch am Stolz Abes nagen dürfte, denn seine Bilanz als Regierungschef fällt bis jetzt bescheiden aus. Misst man ihn an seinen eigenen Zielen, läuft Abe sogar Gefahr, selbst als Japans dienstältester Regent als einer der erfolglosesten in die Bücher einzugehen.

Die Ankündigung einer Wiederbelebung der Wirtschaft, mit der er Ende 2012 den Wahlsieg errang, ist bis heute unerfüllt. Abes Versuch, auf internationaler Ebene eine multilaterale Handelsordnung wiederzubeleben, wie er es zuletzt im Juni als Gastgeber des G-20-Gipfels in Osaka verkündet hatte, ist ergebnislos geblieben. Und auch sein für ihn wichtigstes Ziel einer Verfassungsänderung, mit der Japan militärisch aufgerüstet und insbesondere gegen das aufstrebende China gestärkt werden soll, ist derzeit wieder in die Ferne gerückt. In der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt und dem einzigen G-7-Mitglied Asiens fragen sich immer mehr Menschen: Wie lange braucht Abe noch für die Umsetzung seiner Vorhaben? Oder: Warum ist er, anders als seine Vorgänger, nach einem so langen Ausbleiben von Erfolgen noch immer im Amt?

Lange herrschte nur Krisenmanagement

Für die älteste liberale Demokratie Asiens waren es keine guten Vorzeichen, die Shinzo Abe den Weg an die Spitze ebneten. Von Anfang an war es vor allem der Wunsch weiter Teile der Gesellschaft nach Kontinuität – nach einem Premier, der Dinge anpacken und umsetzen kann. Diesem diffusen Wunsch war eine für Industrienationen mittlerweile nicht mehr ungewöhnliche Mischung von Wahrnehmungen vorausgegangen. Enttäuschung über die regierenden Politiker paarte sich mit allgemeiner Verunsicherung inmitten gesellschaftlicher Veränderungen. Alles vermengte sich zu einem obskuren Gefühl nationaler Krise.

Für politische Enttäuschungen hatte in den Jahren 2009 bis 2012 die linksliberale Demokratische Partei Japans (DPJ) gesorgt. Von ihren Reformversprechen (vor allem ein stärkerer Sozialstaat und ein offeneres Ohr für die Bedürfnisse der Menschen) hatte sie nur wenig umgesetzt. Dabei war die DPJ angetreten, um nach Jahrzehnten fast ununterbrochener LDP-Herrschaft moderner und weniger korrupt zu regieren. Zu allem Unglück kamen im März 2011 ein Erdbeben der Stärke 9 und ein Tsunami mit mehr als 20 Meter hohen Wellen, durch den das Atomkraftwerk Fukushima ­Daiichi havarierte. An den Katastrophentagen starben 20 000 Menschen, im 30-Kilometer-Radius um das Atomkraftwerk musste evakuiert werden; Hunderttausende verloren ihr Zuhause. Die als Regierungspartei junge DPJ sah angesichts ihres Krisenmanagements nur noch alt aus.

Nicht mehr das, was es mal

Auf die gesellschaftliche Verunsicherung, die sich schon über Jahrzehnte im Land ausgebreitet hatte, hatte auch die DPJ keine Antworten gefunden. Nach einem Börsencrash im Jahr 1990, der den bis dahin über Jahrzehnte andauernden Wirtschaftsboom jäh beendet hatte, rutschte Japan zunächst in eine Krise. Es folgten die sogenannten „zwei verlorenen Jahrzehnte“, in denen die Wachstumszahlen häufig um den Nullpunkt oszillierten und sich irreguläre Beschäftigungsverhältnisse ausbreiteten. Durch Konjunkturprogramme wuchs die Staatsverschuldung, die Realeinkommen hingegen stiegen kaum.

Für den damaligen Oppositionspolitiker Shinzo Abe war das die große Chance. Er zeichnete ein Bild nationaler Krise. Schließlich hatte Japan in all den Jahren ökonomischer Stagnation die Stellung der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt verloren – ausgerechnet an den ungeliebten Nachbarn und historischen Rivalen China. Und in Umfragen zeigte sich nicht nur, dass Japaner immer deutlichere Vorbehalte gegenüber den zusehends zu Wohlstand gelangenden Chinesen hegten. Sondern auch, dass sie ihr eigenes Land immer pessimistischer betrachteten. Die LDP befand: Japan ist nicht mehr das, was es mal war. Aber mit der richtigen Regierung könnte das Land wieder „auferstehen“.

„Japan zurückholen“

Im Herbst 2012, eineinhalb Jahre nach der Katastrophe von Fukushima, gab Shinzo Abe dem desillusionierten Wahlvolk eine einfache Antwort auf komplizierte Fragen: „Nippon wo torimodosu“, auf Deutsch: „Japan zurückholen“. Der damals 58-Jährige beschwor alte Zeiten herauf, in denen das Wirtschaftswachstum hoch und der Optimismus kräftig war. Auf Grundlage seines viel zitierten Buches „utsukushii kuni e“ („Hin zu einem schönen Land“) versprach er den Japanern auch eine Nation, die sich mit breiter Brust und starkem Militär gegen aggressive Nachbarn behaupten könne. Abes folgender Wahlsieg war ein Lehrstück für Kampagnen wie „America first“ (Trump) und „Take back control“ (Brexit).

Viele Menschen überzeugte der heutige Premier zwar nicht, die Wahlbeteiligung erreichte mit 59,3 Prozent den seit Kriegsende niedrigsten Wert bei einer Wahl für das Unterhaus, der mächtigeren der zwei Kammern im japanischen Parlament. Aber unter denen, die wählen gingen, traute eine Mehrheit der LDP zu, dass sie mit einer klaren Marschroute das Land durch diese ungewisse Zeit führen könne. Immerhin hatte die LDP seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fast durchgehend regiert und war die Architektin von Japans Wirtschaftswunder. Wer, wenn nicht diese Partei, sollte etwas von Wiederaufstieg verstehen? Zumal unter der Führung Shinzo Abes, dem Spross einer Politikerdynastie. Abes Großvater, Nobusuke Kishi, hatte Japan im Zweiten Weltkrieg als Minister gedient und war Ende der fünfziger Jahre Premierminister. Eisaku Sato, Shinzo Abes Großonkel, war von 1964 bis 1972 Premier. Shintaro Abe, Vater von Shinzo, war in den achtziger Jahren Außenminister.

Ein lang geplanter Rückschlag

Shinzo Abe hat mittlerweile immerhin für politische Stabilität gesorgt. Von den acht Männern, die unmittelbar vor ihm Premierminister waren, hatten sich nur zwei länger als ein Jahr gehalten. Alle litten unter schnell sinkenden Beliebtheitswerten, die meisten sahen sich einer Pattsituation zwischen den beiden Parlamentskammern ausgesetzt. Größere politische Vorhaben starben dadurch oft schon bei ihrer Geburt. Zu diesen schnell gescheiterten Premiers hatte auch Abe selbst gehört. Von 2006 an, als er erstmals die Regierung anführte, konzentrierte er sich schnell auf einige konservative Themen, die bei der Mehrheit der Japaner wenig Anklang fanden. Dazu gehörten ein Versuch zur Lockerung von Arbeitnehmerrechten und die Aufwertung der Verteidigungsressorts zu einem vollwertigen Ministerium. Als die LDP daraufhin bei der Oberhauswahl 2007 schlecht abschnitt, trat Abe offiziell wegen gesundheitlicher Probleme zurück. Der Mann galt als politisch genauso schnell erledigt wie seine Vorgänger. Aber er holte nur zu einem lang geplanten Rückschlag aus.

Es ist ein Rückschlag, zu dem er nach fast acht Jahren im höchsten politischen Amt noch immer ausholt. Denn aus seiner glücklosen ersten Periode als Premier hat Abe gelernt, dass es klug sein kann, nicht alle Vorhaben auf einmal anzugehen, dass der Erfolg eines Politikers nicht unwesentlich auf gutem Timing basiert. Und dass auf dem Weg zum Ziel viele Manöver nötig sein können, die mit dem eigentlichen Ziel vermeintlich wenig zu tun haben.

Die politische Vision Shinzo Abes ist schnell erklärt. Wie seinen Amtsvorgängern schwebt ihm ein Japan vor, das sich in der Welt behaupten kann und als regionaler Hegemon Einfluss im pazifischen Raum ausübt, daheim gestärkt durch einen starken Staat. Andere Politikbereiche sind diesem höheren Ziel untergeordnet. Im Wahlkampf 2012 gab Abe selbst zu, dass er „nicht besonders vertraut mit Finanzpolitik“ sei. Sein Interesse liegt in Diplomatie und Sicherheit.

Land ohne Militär

Die eigentliche Hürde zu seiner Vorstellung vom „schönen Land“, wie er es in seinem Buch beschreibt, sieht Abe ohnehin nicht in Finanzen. Größter Dorn im Auge ist ihm der weltweit einzigartige Passus, den die im Zweiten Weltkrieg siegreichen USA im Jahr 1946 dem in Trümmern liegenden Japan in dessen neue Verfassung schrieben. Artikel 9 sagt wörtlich: „Das japanische Volk entsagt dem Krieg als souveränem Recht der Nation sowie der Abschreckung oder der Nutzung von Gewalt als Mittel zur Lösung internationaler Konflikte.“ Japan ist es seitdem per Verfassung verboten, eine Armee zu führen, geschweige denn militärische Gewalt einzusetzen. Und Shinzo Abe hat es zum Lackmustest seiner Regentschaft gemacht, ob es ihm gelingt, diesen Artikel 9 aus der Verfassung zu streichen oder zumindest abzuschwächen. „Es wird der Geist einer von uns selbst geschriebenen Verfassung sein, der uns in eine neue Ära bringt“, sagt Abe. Die Nachkriegsverfassung sei „obsolet“. Denn „die Sicherheitslage, die Japan umgibt, wird immer ernster“.

Wäre Japan aber von der Pazifismus-Klausel befreit, dann könnte es seine Selbstverteidigungskräfte offiziell Militär nennen und hätte weniger Rechtfertigungsdruck bei Aufrüstung. Dann dürften japanische Soldaten in Auslandseinsätzen nicht nur Sandsäcke und Wasserkanister tragen, sondern auch Waffen. Dann könnte man gegenüber China, wo in den dreißiger Jahren Abes Großvater und politisches Vorbild Nobusuke Kishi als hoher Kolonialbürokrat stationiert war, eine stärkere Politik der Abschreckung betreiben.

Umgeben von Bedrohungen

Es nagt am Selbstverständnis der in Japan einflussreichen Nationalisten, dass China ihrem Land allmählich in mehrfacher Hinsicht den Rang abläuft. Über die letzten Jahrzehnte hat Japans Abhängigkeit von China als Handelspartner zugenommen, während umgekehrt China immer weniger auf den japanischen Markt angewiesen ist. Bis in die neunziger Jahre fürchtete der Westen noch die Unternehmen aus Japan und umgarnte dessen Konsumenten. Heute orientiert sich die Welt nach China. Und weil Japans Bevölkerungsgröße nur auf ein Zehntel von der Chinas kommt, dürften sich all diese Entwicklungen bis auf Weiteres zuspitzen. Japan gerät gegenüber seinem großen Nachbarn, dem sich gerade die Nationalisten kulturell überlegen fühlen, ins Hintertreffen.

Abes Lösungsansatz, sein Land auch deshalb wieder zu einer militärischen Macht aufzubauen, ist durchaus konsequent. China, dessen ökonomisches Wachstumspotenzial seinen Zenit wohl überschritten hat, versucht sich unter Präsident Xi Jinping umso aggressiver in territorialer Expansion. Wo es nur kann, ob in Hongkong, im Südchinesischen Meer oder rund um die von Japan kontrollierten Inseln, erhebt es mit offensiver Rhetorik und militärischem Muskelspiel Gebietsansprüche. Die USA werden ihre Truppenpräsenz in Asien und insbesondere in Japan künftig eher reduzieren als ausbauen. Japan dagegen, das wegen Artikel 9 keinem multilateralen Bündnis wie der Nato angehört, hat zudem reichlich Grund, sich auch noch vor dem kaum berechenbaren Nordkorea zu fürchten.

Superkräfte sind nicht im Spiel

Abes größtes Problem dabei sind allerdings nicht die Chinesen, sondern die Japaner: Für eine Verfassungsänderung braucht er sowohl im Unter- als auch im Oberhaus eine Zweidrittelmehrheit, gefolgt von einer einfachen Mehrheit in einem Volksentscheid. Während die Stimmverhältnisse im Unterhaus reichen, hat er sie im Oberhaus bei der zurückliegenden Wahl im Juli bis auf Weiteres knapp verloren. Und die ultimative Hürde bleibt die Bevölkerung: Schon lange sieht die Mehrheit der Japaner in Artikel 9 eine Friedens- und daher Wohlstandsgarantie. Ein starkes Militär weckt Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. In einer Umfrage vor der Oberhauswahl im Juli gaben 56 Prozent an, gegen eine Verfassungsrevision zu sein – und damit gegen eine Verwässerung von Artikel 9. Shinzo Abe weiß seit Jahren, dass sein dringlichster politischer Wunsch im Widerspruch zum Wahlvolk steht. Und weil ihm auch klar ist, dass über das Gelingen politischer Vorhaben der Zeitpunkt entscheiden kann, versorgt er das Volk seit Jahren gezielt mit vermeintlich guten Nachrichten – bis die Stimmung eines Tages kippen könnte. Erst dann dürfte er all sein politisches Kapital in Parlamentsverhandlungen sowie einem Referendum aufs Spiel setzen.

Mit der Wirtschaft hat Abe angefangen. Mittels „Abenomics“, einer einfachen Strategie mit hochtrabendem Namen, wurde den Japanern das Blaue vom Himmel versprochen. Auf das seit mehr als zwei Jahrzehnten geringe Wachstum, das seine Ursachen vor allem im bereits erzielten Reichtum im Land und in der schrumpfenden Arbeitsbevölkerung hat, sollte ein Boom folgen. Abenomics ist eine Mischung aus hohen Staatsausgaben, sehr lockerer Geldpolitik und vermeintlich wachstumsfördernden Strukturreformen. Superkräfte sind nicht im Spiel.

Entsteht eine neue Spekulationsblase?

Sechseinhalb Jahre nach Beginn der Strategie zeigt sich: Japans Realeinkommen steigen noch immer kaum, die Inflationsrate erreicht nicht annähernd die anvisierten 2 Prozent, und das Wirtschaftswachstum ist kaum höher als vor Abes Amtsantritt. Dafür ist die Staatsverschuldung auf mittlerweile 237,5 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung gestiegen, und die Bilanzsumme der Notenbank hat sich angesichts der Staatsanleihenkäufe fast vervierfacht. Die daraufhin stark gestiegenen Aktienkurse an der Tokioter Börse lassen befürchten, dass gerade eine neue Spekulationsblase entsteht.

Schonungslose Berichterstattung über die Wirtschaftspolitik und andere Themen muss Abe allerdings kaum fürchten. Kurz nach Amtsantritt besetzte er den Vorsitz von Japans öffentlichem Rundfunksender mit seinem politischen Freund Katsuto Momii. Momii bekundete bald, dass er Kritik an der Regierung seitens des Rundfunks für „verwirrend“ hielte. Zudem brachte Abe ein Gesetz durchs Parlament, das es der Regierung ermöglicht, bestimmte Themen zum Staatsgeheimnis zu erklären. Whistleblowing und Berichterstattung darüber können seitdem mit Gefängnis bestraft werden. Mehrmals wurden Medien auch eingeschüchtert, Fernsehsendern drohte Abes Kabinett schon mit dem Lizenzentzug.

Notwendiger Verfassungsbruch?

Mit dem Versprechen eines bald einsetzenden Wirtschaftsbooms hat sich Abe Zeit gekauft, mit der Gängelung der Medien relative Ruhe in einer überwiegend pazifistisch eingestellten Nation. In diesem Umfeld versucht er sich Schritt für Schritt auf dem Weg „hin zu einem schönen Land“, wie es ihm vorschwebt. Das Budget der Selbstverteidigungskräfte hat Abe erhöht. Um die heimische Rüstungsindustrie zu unterstützen, darf diese erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder ihre Produkte exportieren. Seit 2015 interpretiert die Regierung den pazifistischen Artikel 9 zudem so, dass Japan sehr wohl zur Waffe greifen darf, sobald die eigene Sicherheit oder die eines strategischen Partners bedroht ist. Die meisten Experten halten diese Auslegung für einen Bruch der Verfassung. Abe hält sie für notwendig, um für die Spannungen in der Region gewappnet zu sein.

Die Einflusssphäre Chinas will Abe derweil auch durch Handels- und Infrastrukturpolitik eindämmen. In den vergangenen Jahren hat er mehrere Freihandelsverträge abgeschlossen, darunter einen von elf Pazifikanrainern sowie einen mit der EU, von denen China jeweils ausgeschlossen ist. Derzeit verhandelt Japan mit den USA über ein entsprechendes Abkommen. Den Wettlauf mit China um Hegemonie hat Japan auch auf anderer Ebene aufgenommen. Zum Beispiel als Reaktion auf die Neue Seidenstraße, die mit 900 Bauprojekten in Form von Straßen, Brücken, Häfen und Pipelines im Wert von insgesamt 850 Milliarden US-Dollar den Einfluss Pekings in gut 60 Ländern mit rund zwei Dritteln der Weltbevölkerung ausweiten soll. Mit der zunächst 200 Milliarden US-Dollar schweren Partnership for Quality Infrastructure, die sich durch Bausicherheit sowie zuverlässiges Management von Chinas Vorhaben absetzen soll, errichtet Japan derzeit reichlich Konkurrenzprojekte.

Gehört Japan noch der liberalen Weltordnung an?

Gemeinsam mit Indien wird der Asia-Africa Growth Corridor geplant, in dessen Zuge Häfen an den Küsten Indiens sowie in Sansibar, Mombasa und Dschibuti gebaut werden sollen, damit diese Regionen ökonomisch enger an Japan gebunden sind – und nicht an China. Aus ähnlichem Grund haben sich die USA, Australien und Japan trilateral dazu verpflichtet, im pazifischen Raum über die nächsten Jahre in Energie, Tourismus und Transport zu investieren. Wenn Abe auf Auslandsreisen für solche japanisch angeführten Projekte wirbt, betont er in Abgrenzung zu China, dass diese umweltschonend und im Einklang mit einer „liberalen Weltordnung“ seien.

Dabei wird immer fraglicher, wie sehr Japan selbst noch dieser liberalen Weltordnung angehört. Auf Abes Odyssee zu einer Verfassungsänderung wurde zuletzt auch noch die Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Offiziell im Namen der Sicherheit für die Olympischen Spiele, die im nächsten Sommer in Tokio stattfinden, wurde ein Gesetz durchgebracht, auf dessen Grundlage die Polizei verdächtige Menschenansammlungen auflösen und vermeintliche Anstifter noch nicht begangener krimineller Akte festnehmen kann. Die Olympischen Spiele, die die Regierung die „Spiele des Wiederaufbaus“ nennt, könnten wiederum einen patriotischen Schub bringen, der womöglich Abes einmalige Chance sein wird, sein Land doch noch von der Notwendigkeit einer Verfassungsänderung zu überzeugen. Japan wäre dann militärisch stärker – und sein Premier am Ziel. Gleichzeitig wäre das Land ausgerechnet dem ungeliebten China ein bisschen ähnlicher geworden.

Dieser Text ist in der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können. 

 

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