Jamal Khashoggi und Co. - Die neuen Verschwundenen

Jamal Khashoggi ist nur das jüngste Opfer eines offenbar globalen Trends zu staatlich organisierten Entführungen und Morden. Die brutale Praxis verhöhnt den Primat des Rechts und erinnert an dunkle Kapitel des Kalten Krieges. Dagegen muss mehr getan werden als Kritik hinter verschlossenen Türen

Staatspräsidenten und Kidnapper: Xi Jinping und Wladimir Putin / picture alliance
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An Louis Antoine Henri de Bourbon-Condé, besser bekannt als Herzog von Enghien, wollte Napoleon Bonaparte im Jahr 1804 ein Exempel statuieren. Obwohl eine Beteiligung des Herzogs an einem Attentat-Komplott gegen Napoleon kaum nachzuweisen war, ließ der spätere Kaiser Frankreichs ihn aus dem Exil im badischen Ettenheim entführen und nach einem Schauprozess erschießen. Die Praxis, Widerständler „verschwinden“ zu lassen, hat eine traurige Tradition, auch im demokratischen Westen. Und sie scheint, derzeit ein unheilvolles Comeback zu erleben. Die Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi in Istanbul ist nur der aktuellste in einer Reihe ähnlicher Fälle.

Saudi-Arabien hat in jüngster Zeit eine gewisse Routine entwickelt: Im vergangenen Dezember wurde Saad Hariri, der gewählte Ministerpräsident des Libanon, entführt und, nachdem er etwas in die Mangel genommen worden war, aufgefordert, eine vorformulierte Abdankunsgrede im saudischen Fernsehen vorzulesen. Hariri wurde später ins Amt zurückgebracht.

Sogar ein Mitglied der königlichen Familie kann vor einer Entführung nicht sicher sein. Prinz Sultan bin Turki wurde  2003 in Genf festgenommen. Offenbar wurde er unter Drogen gesetzt und gewaltsam in ein Flugzeug nach Riad gepackt. 2016 traf es ihn erneut, diesmal in Saudi-Arabien und mit Mitgliedern seine Entourage.

Routine in Russland und China

Derlei Entführungen, Ermordungen und Attentate auf offenbar staatliche Anordnung scheinen sich in den vergangenen Jahren zu einem brutalen Trend zu entwickeln. Denn nicht nur Saudi-Arabien entführt seine Kritiker, auch die Weltmächte Russland und China sind darin geübt. Russlands Aktionen gegen Exilanten enden oft tödlich. Der versuchte Giftmord im englischen Salisbury an Sergej Skripal, dem ehemaligen russischen Geheimdienstagenten, den Präsident Wladimir Putin noch kürzlich „Abschaum“ und „Verräter“ denunzierte, erinnerte an das Attentat in London auf Alexander Litwinenko im Jahr 2006. Aber das sind nur die prominentesten Fälle. Auf der besetzten Krim hat es seit 2014 Dutzende Fälle von plötzlich und mysteriös Verschwundenen gegeben.

Der chinesische Präsident Xi Jinping ist derweil zum Serien-Kidnapper avanciert. Jüngstes Beispiel ist das plötzliche Verschwinden des Interpol-Präsident Meng Hongwei. Meng befand sich auf einer Reise von Frankreich, wo Interpol seinen Sitz hat, nach Peking, wo er auch als stellvertretender Minister für öffentliche Sicherheitsdienste tätig  war. Mengs Entführung war besonders schockierend, weil er der erste chinesischen Staatsbürger war, der eine große globale Führungsposition innehatte. Viele werteten das als Zeichen dafür, dass das Land endlich in der Spitzengruppe der internationale Ordnung angekommen war. Dennoch war  Xi Jinping offenbar bereit, diesen Achtungserfolg einfach wegzuwerfen. Schließlich wurde bekannt, dass gegen Meng wegen Bestechung ermittelt wurde. Damit wurde Meng zum Opfer der laufenden „Antikorruptionskampagne“ Chinas – ein Bestreben, von dem Kritiker behaupten, es sei ein Deckmantel für die Eliminierung politischer Gegner Xis. 

„Umdenken“ wie bei George Orwell

Doch nicht nur chinesische Politiker müssen sich vor Entführungen fürchten. Seit 2012 wurden Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft –  von Kleinverlegern in Hong Kong zu Wirtschaftsführern – im Ausland aufgegriffen und nach China gebracht. Typischerweise tauchen sie nach einer langen Zeit des Schweigens wieder auf, um ihr bisheriges Euvre zu verleugnen und ihre Loyalität zur kommunistischen Partei und China zu versichern. 

Genau das geschah im Fall Fan Bingbing, Chinas größter Filmstar. Sie verschwand im vergangenen Juli. Auf einmal verstummte ihr zuvor äußerst aktiver Account auf dem chinesischen Twitter-Pendant Sina Weibo. Niemand wusste genau, was passiert war, aber kaum jemand bezweifelt, dass die Regierung etwas damit zu tun hatte. Sämtliche Unternehmen, mit denen Fan Sponsorenverträge hatten, trennten sich von ihr.

Fan tauchte erst Anfang Oktober wieder auf. Sie bat öffentlich um Entschuldigung dafür, dass sie Steuern hinterzogen habe, sie sehe ein, dass die dafür mit massiven Geldstrafen rechnen muss. Bezeichnenderweise enthielt ihre Aussage viel Lob für die Kommunistische Partei Chinas, die sie als ausschlaggebend für ihren Erfolg als Schauspielerin nannte. Das Statement erinnerte auf bedrückende Weise an die Ankündigung des russischen Schriftstellers Boris Pasternak vor fast genau 50 Jahren, den Nobelpreis für Literatur nicht anzunehmen. Auch im Falle von Fan Bingbing möchte man sich lieber nicht vorstellen, wie es zu diesem „Umdenken“ gekommen ist, das wir nur zu gut aus George Orwells „1984“ kennen.

Praxis aus dem Kalten Krieg

Bei all diesen Fällen werden Erinnerungen wach an die dunkelsten Kapitel des Kalten Krieges. In der Sowjetunion und den Ländern des Warschauer Paktes gehörten Entführungen praktisch zur Staatsräson. Allein in West Berlin wurden Walter Linse und Erwin Neumann, zwei leitende Mitarbeiter des Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen, Robert Bialek, vor seiner Flucht nach West-Berlin Generalinspekteur der Volkspolizei und der Journalist Karl-Wilhelm Fricke entführt. In den den Ländern Lateinamerikas spricht man noch heute mit Schaudern von den „Desaparecidos“, den Verschwundenen. Die dortigen Militärdiktaturen, als Bollwerk gegen den Kommunismus unter kräftiger Mithilfe der USA ins Leben gerufen und am Leben erhalten, entledigten Regimekritiker gern, indem sie aus Helikoptern über dem Meer geworfen wurden. Oder man ließ sie hinrichten und danach verbrennen oder in Säure zersetzen, damit selbst die Leichen nie gefunden werden konnten.

Auch Demokratien wie die USA und Israel setzten staatliche Entführungen und Morde zur Erledigung von vermeintlichen Gegnern ein –  ohne lästige rechtliche Legitimation. Der damalige US-Präsident Ronald Reagan unterschrieb 1986 eine Top-Secret-Anweisung an die CIA, Terroristen überall und jederzeit entführen zu dürfen. Bekannt wurden diese als „snatch and grab“-Operationen (entreißen und fassen). Diese Praxis setzten die USA unter George W. Bush in weit größerem Ausmaß fort nach den Terrorattacken von 2001. In Drittländern richtete man Internierungslager ein und setzte Verbündete (darunter auch Deutschland) unter Druck, dabei zu helfen, diese zu füllen. Obwohl die Vereinten Nationen Entführungen von Bürgern eines anderen Staates als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ einstufen, ist darüber kein Politiker und auch kein CIA-Folterer verurteilt worden.

Es ist kein Wunder, dass andere Staaten diese makabre Lektion in Realpolitik gelernt und für sich vereinnahmt haben. Vor allem, wenn ihre Legitimität in Frage steht oder ihre Langlebigkeit angezweifelt wird. Es ist aber besonders perfide, dass mit dieser Praxis Bürger des eigenen Landes entweder zum Verstummen gebracht oder gleich getötet werden.

Leise Kritik ist nicht genug

All diesen Fällen gemeinsam ist die Dreistigkeit mit der Staatsoberhäupter gegen Dissidenten vorgehen und ihre offenbare Geringschätzung für das Recht und den Werten, auf die sich die so genannte Internationale Staatengemeinschaft so gern beruft. Sie zeigen, was passieren kann, wenn der Primat des Gesetzes zusammenbricht und niemand etwas dagegen unternimmt, auch nicht die Regierungen und Führer von demokratischen Ländern. Statt für die Wiederherstellung von Recht und Ordnung auch international zu kämpfen, werden die Augen vor den krassen Untaten verschlossen.

Das ist auf Linie dessen, was mancher „Außenpolitk-Experte“ derzeit fast unisono rät, gerade in Bezug auf China. Moral hätte in der Außenpolitik nichts zu suchen, heißt es dann, oder dass Kritik hinter verschlossenen Türen viel wirksamer sei, weil so alle Beteiligten  „ihr Gesicht wahren“ könnten. Doch angesichts der stummen Schreie der Verschwundenen sind leise Worte im Vertrauen einfach nicht genug. Und die Geschichte lehrt: Brutale, autokratische Regimes werden am effizientesten nicht durch die Hintertür, sondern durch Stärke bewältigt. Es waren keine geheimen Deals die das sowjetische Imperium oder die Apartheit in Südafrika zu Fall brachten. Sondern anhaltende politische und wirtschaftliche Konfrontation. Auch Napoleon hat diese Erfahrung gemacht. Der internationale Aufschrei gegen die Entführung des Herzogs von Enghien war danach so groß, dass Joseph Fouché, der berüchtigte Polizeichef des späteren Kaisers zugeben musste: „Es war schlimmer als ein Verbrechen. Es war ein Fehler”.

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