Ukraine und IS - Ein sicherer Hafen für Islamisten

Der spektakuläre Fall des Cesar Tochosaschwili zeigt: Ehemalige IS-Kämpfer nutzen die Ukraine konsequent als Rückzugsraum – und Sprungbrett. Denn die meisten können von dort aus ungehindert in die EU reisen.

Wie viele Islamisten sind noch in der Ukraine? / picture alliance
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Autoreninfo

Ekaterina Sergatskova ist Chefredakteurin der ukrainischen Onlinezeitung zaborona.com und spezialisiert auf Terrorismus und Migrationsbewegungen im postsowjetischen Raum.

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Mitte November vergangenen Jahres startet der ukrainische Geheimdienst mit Unterstützung der amerikanischen CIA und des georgischen Geheimdiensts eine Operation mit einem ganz besonders heiklen Ziel. Ein Spezialkommando umzingelt ein Haus in einem Vorort von Kiew, um eine der Schlüsselfiguren des „Islamischen Staates“ (IS) festzunehmen: Cesar Tochosaschwili, 33 Jahre alt, Kampfname Al Bara Schischani, war vor über einem Jahr mit einem gefälschten Pass in die Ukraine gekommen und hatte seitdem von hier aus die Tätigkeit des Amniyat, der Geheimpolizei des „Islamischen Staates“, koordiniert. Zu den Aufgaben der Einheit gehört es, weltweit Anhänger zu werben und Terror­akte zu begehen. 

Auf Fotos aus der IS-Zeit trägt Tochosaschwili einen langen, rötlichen Bart, posiert mit der Kalaschnikow vor dem Oberkörper, hinter sich die schwarze Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Bilder aus den Tagen nach seiner Festnahme zeigen ihn mit Dreitagebart und im Trainingsanzug. Nun stehen ihm die Auslieferung nach Georgien und eine Anklage wegen Unterstützung des Terrorismus bevor.

Aus Ermittlerkreisen ist zu erfahren, dass Tochosaschwili anfangs in der ukrainischen Schwarzmeerstadt Odessa lebte, dann nach Kiew übersiedelte und sich in der Ukraine mit Anhängern des „Islamischen Staates“ aus der russischen Kaukasusrepublik Dagestan umgab. Aber wie konnte einer der IS-Kommandeure mehr als ein Jahr unerkannt in der Hauptstadt eines demokratischen Staates verbringen, der gern der EU beitreten möchte?

Die Kämpfer aus dem Tal

Die Wurzeln liegen im georgischen Pankisi-Tal, einer idyllisch gelegenen, 30 Kilometer langen Schlucht, die im Norden an die russischen Kaukasusrepubliken Tschetschenien und Dagestan grenzt und in deren Dörfern an die 10 000 Menschen leben – Tschetschenen, die sich selbst aber Kisten nennen. Das Pankisi-Tal hat eine herausragende Rolle sowohl für den extremistischen Untergrund im Nordkaukasus als auch für die Entwicklung des „Islamischen Staates“ in Syrien und im Irak gespielt. Denn Anfang des Jahrtausends öffnete das Tal seine Grenzen für Tausende Flüchtlinge, die vor dem Zweiten Tschetschenienkrieg flohen. Zusammen mit den Flüchtlingen kamen auch an die 2000 Kämpfer, darunter Leute wie Ruslan Gelajew, einer der bekanntesten tschetschenischen Feldkommandeure. Mit seinen guten Kontakten zu den georgischen Geheimdiensten machte er das Tal zum sicheren Hafen für die Kämpfer, die sich hier verstecken und ärztlich behandeln lassen konnten, bevor sie zum nächsten Kampfeinsatz aufbrachen. Die Dorfältesten erinnern sich, wie die Menschen im Tal sowohl den Flüchtlingen als auch den Kämpfern halfen, und wie die Jugend sich bereitwillig den radikalen Bewegungen der Tschetschenen anschloss, in erster Linie dem Salafismus. Die Tschetschenen „von drüben“ bauten salafistische Moscheen und gründeten eigene, von Imamen geführte Gemeinschaften. 

Unter denen, die sich Ruslan Gelajew und seinen Kämpfern anschlossen, war auch Cesar Tochosaschwili, geboren Ende der achtziger Jahre im Dorf Omalo. Schon in seiner Jugend war er befreundet mit einer Reihe weiterer Kisten, die alle 2012 aus Georgien nach Syrien gingen, um gegen Baschar al Assad zu kämpfen. Einer von ihnen, Tarchan Batiraschwili, wurde 2013 unter dem Kampfnamen Umar Schischani (Schischani steht für „Tschetschene“) Kriegsminister des IS. 2015 wurde Tochosaschwili, jetzt schon unter seinem Kampfnamen Al Bara Schischani, dessen Stellvertreter. Mehrere weitere Jugendfreunde bekamen führende Positionen in anderen Terrorgruppen, etwa beim Qaida-Ableger Al Nusra. Aus dem Pankisi-Tal machten sich damals bis zu 200 meist junge Männer auf den Weg.

Ausgezogen, um den Islam zu schützen

Im Tal wunderte man sich darüber allerdings wenig. „Die Jugend sieht, was heute in der Welt los ist“, sagt der Älteste des Tales, Chaso Changoschwili. „Sie verstehen, dass die USA und einige europäische Staaten gegen den Islam vorgehen. In Ägypten, in Nordafrika und im Iran wird gegen den Islam gekämpft, und Europa und die USA wollen dort die Demokratie einführen. Unter Gaddafi gab es keine Demokratie, unter Saddam Hussein auch nicht, aber gibt es etwa in Russland Demokratie? Nein! Warum greifen die USA und Europa da nicht ein? Weil sie wissen, dass der Widerstand sehr groß sein wird. Unsere Jugend sieht das, und deshalb fahren sie fort von hier, um den Islam zu schützen.“ Solche Ansichten sind bei den Leuten im Pankisi-Tal weitverbreitet.

Aus dem Pankisi-Tal stammt übrigens auch der Tschetschene Selimchan Changoschwili – jener Mann also, der im August 2019 im Kleinen Tiergarten in Berlin von einem Russen, vermutlich beauftragt vom russischen Geheimdienst, erschossen wurde. Auch er hatte im Zweiten Tschetschenienkrieg gegen die russischen Truppen gekämpft und war für seine ausgeprägte Religiosität bekannt. Nach dem Krieg kehrte er ins Pankisi-Tal zurück und arbeitete mit dem georgischen Geheimdienst zusammen – als V-Mann und Trainer der georgischen Spezialkräfte. Changoschwili, so viel ist aus seinem Umfeld zu erfahren, gehörte zwar nicht zu den Anhängern des IS, kannte persönlich aber sehr viele georgische Tschetschenen, die nach Syrien gegangen waren, um für das Kalifat zu kämpfen.

Im Jahr 2015 zog Selimchan Changoschwili, der vier Jahre später in Berlin ermordet werden sollte, auf Einladung des georgischen Ex-Präsidenten Michail Saakaschwili nach Odessa. Saakaschwili war kurz zuvor ukrainischer Staatsbürger und Gouverneur der Schwarzmeerregion Odessa geworden und brachte viele ehemalige Mitstreiter aus den georgischen Sicherheitsdiensten, aus der georgischen Polizei und der Justiz seines Heimatlands nach Odessa. Einer davon war eben auch Changoschwili. Laut Giorgi Lortkipanidze, einem engen Vertrauten Saakaschwilis, der bis Ende 2016 die Polizei von Odessa führte, fungierten Changoschwili und die anderen Tschetschenen weiter als V-Männer, andere dienten als Personenschützer in Saakaschwilis Team.

Zur gleichen Zeit existierten im Osten der Ukraine zwei tschetschenische Bataillone, die gegen die von Russland unterstützten Separatisten kämpften. Der Kommandeur Muslim Tscheberlojewski bekannte in einem Interview mit der Times, dass es in seinem Bataillon Kämpfer gebe, die auch schon Erfahrung in Ausbildungslagern des IS gesammelt hätten. Später nahm er seine Worte zurück. 

Offene Tore in der Türkei

Studien zufolge schlossen sich zwischen den Jahren 2013 und 2018 mehr als 40 000 ausländische Kämpfer dem IS an, ein bedeutender Teil von ihnen stammte aus Zentralasien und dem Kaukasus. Laut einem Bericht der International Crisis Group begann der Exodus aus dem Kaukasus 2013, also zu der Zeit, als Russland sich gerade auf die Winterolympiade 2014 in der Kaukasusmetropole Sotschi vorbereitete. Die russischen Geheimdienste hatten entsprechend Weisung erhalten, potenzielle Gefahrenquellen so schnell wie möglich loszuwerden. Die Autoren des Berichts beschreiben, wie die Geheimdienstler verdächtige Muslime aus den russischen Teilrepubliken im Nordkaukasus durch Drohungen und Einschüchterung dazu zwangen, die Region zu verlassen. Oft waren die Menschen, die aus dem Land getrieben wurden, zwar keine Kämpfer, doch hatten sie sich verdächtig gemacht, indem sie salafistische Moscheen besuchten. Manche standen auch aus anderen Gründen mit der Politik ihrer Region oder ihres Landes im Konflikt.

Die Repressionen gegenüber den nordkaukasischen Muslimen heizten jedenfalls den Konflikt nicht nur in Russland an, sondern auch in mehreren autoritär geführten zentralasiatischen Staaten. Im Ergebnis radikalisierten sich viele dieser vertriebenen Muslime und etliche von ihnen schlossen sich dem „Islamischen Staat“ und anderen islamistischen Organisationen an. Deren Weg in den Dschihad wiederum führte üblicherweise über die Türkei. Formal verurteilte die Türkei den „Islamischen Staat“, aber in Wirklichkeit waren die Tore offen – in beide Richtungen. Das machte sich auch der im November bei Kiew festgenommene Cesar Tochosaschwili zunutze, als er im Jahr 2014 in der Türkei eine Verletzung behandeln ließ, die ihn beinahe die Hand gekostet hatte. Aus Syrien in die Türkei und zurück – kein Problem für einen wie ihn, der Stellvertreter des IS-Kriegsministers Omar Schischani und gleichzeitig als Koordinator der IS-Geheimpolizei für das Anwerben von Kämpfern sowie für Terroranschläge zuständig war.

Wie viele Islamisten überwintern in Osteuropa?

2017, der „Islamische Staat“ befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits wieder auf dem Rückzug, flieht Tochosaschwili in die Türkei und verbreitet dort Gerüchte über seinen angeblichen Tod beim Abzug aus der syrischen IS-Hochburg Rakka. Selbst seine Verwandten waren damals überzeugt von seinem Tod, nur ein paar enge Freunde im Pankisi-Tal geben heute zu, dass sie die Wahrheit kannten: Dass Cesar Tochosaschwili in Wirklichkeit nämlich mit einem gefälschten Pass über die Türkei in die Ukraine geflohen war. Was für ein Pass das war und wie ein georgischer Tschetschene, der für den IS gekämpft hat, in ein Land kommen konnte, das seit 2017 visafreien Reiseverkehr mit der EU unterhält, erklärte der ukrainische Geheimdienst SBU nach der Festnahme Tochosaschwilis im vergangenen November übrigens nicht. 

Eine Quelle im SBU, die mit dem Fall vertraut ist, weiß allerdings zu berichten, dass Cesar Tochosaschwili zunächst in Odessa lebte und später dann ein Jahr lang in Kiew; dass er dort nicht nur Kontakte zu IS-Anhängern unterhielt, sondern von der Ukraine aus auch weiter die Arbeit der IS-Geheimpolizei Amniyat koordinierte, zu deren Aufgaben es gehört, Terroristenzellen in verschiedenen Ländern zu organisieren. Zu den Kommandeuren dieser Geheimpolizei gehörte auch Achmed Tschatajew, den amerikanische und türkische Geheimdienste als Drahtzieher des Anschlags auf den Flughafen in Istanbul mit 45 Toten im Juni 2016 identifiziert haben. Tschatajew zog sich später nach Georgien zurück und wurde im November 2017 in Tiflis während einer Spezialoperation getötet. Bis zuletzt gehörte er zu den engsten Vertrauten des nun in Kiew festgenommenen Cesar Tochosaschwili.

Als Tochosaschwili sich nach seiner Festnahme im November 2019 auf der Anklagebank eines Stadtteilgerichts in Kiew wiederfand, war von seinem einstigen Terroristenimage nur wenig übrig geblieben: kurze Haare, kurzer Bart, Sportanzug, müder Blick. Die eigentliche Frage lautet nun: Wie viele Männer vom Schlage eines Cesar Tochosaschwilis leben inzwischen in der Ukraine? Wie viele sind wie er aus alten IS-Strukturen nach Osteuropa geflohen, um dort zu „überwintern“?

Ist die Ukraine sorglos bei gefälschten Papieren?

Laut Human Rights Watch sind zwar die meisten Kämpfer des „Islamischen Staates“ nach dessen Zerschlagung in Flüchtlingslagern im Norden Syriens gelandet. Etwa 1500 wurden im Irak oder in Syrien verurteilt und später nach Kasachstan, Usbekistan, Russland, in den Kosovo oder in die Türkei ausgeliefert. Etliche Kämpfer konnten aber auch in andere Länder fliehen – insbesondere in die Ukraine. In der Ukraine befinden sich heute geschätzt mehrere Hundert frühere Kämpfer; ein Teil von ihnen sitzt wegen der Fälschung von Pässen im Gefängnis oder wartet dort auf Auslieferung. Frühere Mitglieder des IS, die aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion stammen, erklärten mir einhellig, dass die Ukraine der ideale Ort sei, um sich vorübergehend vor strafrechtlicher Verfolgung zu verstecken. Gründe dafür sind die weit verbreitete Korruption, die es möglich macht, einen ukrainischen Pass unter falschem Namen zu bekommen; die russische Sprache, die das Leben im Alltag erleichtert – und eine geringe Wahrscheinlichkeit, in Länder mit autoritärer Führung ausgeliefert zu werden.

Da ist etwa der Kasache Ali (Name geändert), der sich enttäuscht vom IS abgewandt hatte und dann aus Syrien in die Türkei gegangen war, wo er schließlich in Istanbul Zuflucht fand. Einen Pass hatte er nicht mehr, aber über ein Netzwerk ehemaliger Kämpfer erfuhr er, dass es Märkte gebe, auf denen tadschikische Pässe verkauft werden. Die Pässe des zentralasiatischen Landes sind leicht zu fälschen, und auch der Preis war mit etwa 200 Dollar annehmbar. 

Als Ali im Jahr 2016 während einer Razzia der türkischen Polizei auf der Suche nach illegalen Einwanderern festgenommen wurde, stellte man ihm frei, ein Land zu wählen, in das er ausgeliefert werden will. Ali wählte die Ukraine – und er erinnert sich, dass die ukrainischen Grenzbeamten sich nicht im Geringsten an seinem gefälschten tadschikischen Pass gestört hätten. Die Einreise Mitte 2017 lief problemlos. 

Wie viele Islamisten sind noch in der Ukraine?

Damals herrschte zwischen der Ukraine und der EU schon visafreier Reiseverkehr. Dank eines Tipps aus der zentralasiatischen Community kam Ali in Kontakt zu einem Mann mit Verbindungen in die ukrainische Migrationsbehörde. Für 5000 Dollar besorgte der ihm einen biometrischen ukrainischen Pass, mit dem Ali nach Polen fuhr und dort mehrere Monate arbeitete. Auch nach Deutschland wäre er problemlos gekommen. Bei seiner Rückkehr in die Ukraine, so erzählt Ali, habe er an der Grenze keinerlei Probleme gehabt. Für seine wahre Identität interessiert sich bis heute niemand.

Als im November klar wurde, dass in Kiew mit Cesar Tochosaschwili einer der führenden Köpfe des IS festgenommen worden war, kam allerdings Unruhe auf: Die ukrainischen Behörden wiesen sofort alle Vorwürfe zurück, aufgrund der Korruption bei Polizei und der Migrationsbehörde sei das Land zu einem sicheren Hafen für islamistische Gefährder geworden. Aber der Fall Ali zeigt, wie einfach es ist, in der Ukraine ein neues Leben zu beginnen. Nach seinen Worten ist das Land das ideale Sprungbrett nach Europa: Wer einen biometrischen ukrainischen Pass hat, kann ohne Visum in die EU einreisen und dort entweder Asyl beantragen oder versuchen, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. „In der Türkei ist es besser als in Syrien, in der Ukraine besser als in der Türkei, und in Europa ist es besser als in der Ukraine“, so fasst es der ehemalige IS-Kämpfer zusammen.

Auch Cesar Tochosaschwili hätte sich ukrainische Papiere besorgen und nach Europa reisen können, wenn er nicht zuvor ins Fadenkreuz der Geheimdienste aus den USA, Georgiens und der Ukraine geraten wäre. Womöglich hatte er auch schon längst einen neuen Pass, doch die Behörden verschweigen das, um einen Skandal zu vermeiden. Der ehemalige IS-Kommandeur soll demnächst in seine georgische Heimat abgeschoben werden. Doch niemand weiß, wie viele seiner alten Kampfgefährten derzeit unbehelligt in der Ukraine leben – und von dort aus jederzeit in die EU weiterreisen können.

Dieser Text ist in der April-Ausgabe des Cicero erschienen, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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