Indigene im brasilianischen Parlament - Wächterin des Waldes

Die Aktivistin Sônia Guajajara zieht als Indigene ins brasilianische Parlament ein – sie will nicht nur den Ureinwohnern eine Stimme geben, sondern auch den Amazonas retten.

Die brasilianische Abgeordnete Sônia Guajajara / dpa
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Autoreninfo

Andrzej Rybak, geboren 1958 in Warschau, ist Journalist und lebt in Hamburg. Er arbeitete mehrere Jahre als Redakteur und Reporter für Die Woche, den Spiegel und die Financial Times Deutschland, berichtete als Korrespondent aus Moskau und Warschau. Heute schreibt er als Autor vor allem über Lateinamerika und Afrika u.a. für Die Zeit, Focus und Capital.

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Einen Monat nach ihrem Wahlsieg ist die Freude noch nicht abgeklungen: „Wir werden durch die Fronttür in den Nationalkongress einziehen“, sagt Sônia Bone Guajajara mit einem breiten Lächeln. Die 48-Jährige hat allen Grund, stolz zu sein, denn sie ist die erste indigene Abgeordnete aus dem Bundesstaat São Paulo, wo sie 156.000 Stimmen auf sich versammeln konnte. In Brasilia hat sie viel vor; es geht ihr darum, das Bewusstsein der Brasilianer zu verändern, die brasilianische Politik „zu indigenisieren und die Köpfe wieder aufzuforsten“. 

Sônia Bone de Souza Silva Santos, die den Namen ihres Volkes Guajajara trägt, hat noch nie vor großen Aufgaben zurückgeschreckt. Sie lernte früh zu kämpfen; schon mit zehn Jahren verließ sie ihr Dorf in dem Guajajara-Gebiet Araribóia im Amazonas-Bundesstaat Maranhão, um in der Stadt die Schule zu besuchen. Sie musste dort als Kindermädchen arbeiten, um sich über Wasser zu halten. Ihre Eltern konnten weder lesen noch schreiben – Sônia Guajajara war die Erste in der Familie, die einen Universitätsabschluss geschafft hat. Schon während des Studiums begann sie, für die Rechte der indigenen Völker Brasiliens zu kämpfen. „Nur mit Kampf können wir eine echte Demokratie erreichen“, lautet ihr Credo bis heute. 

Im Ringen mit den Mächtigen

Indigene Anführer haben es lange Zeit abgelehnt, sich um politische Funktionen in Brasiliens „weißem“ Herrschaftssystem zu bewerben. Sônia Guajajara hingegen war immer überzeugt davon, dass die Indigenen eine eigene Stimme in der brasilianischen Politik brauchen, um einen direkten Einfluss ausüben zu können. Seit sie 2013 die Führung der nationalen indigenen Organisation APIB übernahm, versuchte sie aus 300 Gruppen eine panbrasilianische Bewegung der indigenen Völker zu formen. Vor vier Jahren kandidierte sie an der Seite des sozialistischen Politikers Guilherme Boulos für die Vizepräsidentschaft in Brasilien – als erste Indigene in der Geschichte des Landes.

Das Land der Guajajara in Maranhão, obwohl offiziell von der Regierung geschützt, wird seit Jahren von der Holzfällermafia und illegalen Goldsuchern überfallen. Immer wieder werden Stammesführer, die sich gegen die Raubzüge der Weißen wehren, von bezahlten Killern der Großgrundbesitzer ermordet. Unter dem scheidenden Präsidenten Jair Bolsonaro nahm die Gewalt stark zu; ihn nennt Sônia Guajajara „den schlechtesten Präsidenten in der Geschichte Brasiliens“. Sie legt sich auch mit der mächtigen Agrarlobby an, die nur für den Export arbeite: „Der Urwald weicht den Monokulturen, der Boden wird vergiftet.“ Als Parlamentarierin will sie traditionelle ländliche Gemeinden unterstützen, die für den Familienbedarf produzieren und nachhaltig wirtschaften.

Das US-Magazin Time kürte Sônia Guajajara im Frühjahr 2022 zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Welt. Denn sie wirbt nicht nur um Solidarität mit den indigenen Völkern Brasiliens, sondern sucht den Schulterschluss mit Indigenen auf der ganzen Welt. Zu Gast war sie unlängst auch beim Klimagipfel in Ägypten und kündigte dort an, Brasilien werde unter dem neuen Präsidenten Luiz Lula da Silva alles unternehmen, um die Zerstörung des Amazonas zu stoppen. 

Stolze Indigene

An Lulas dritte Amtszeit hat Sônia Guajajara denn auch große Erwartungen. Früher war sie selbst Mitglied in dessen Arbeiterpartei PT, schloss sich später aber der sozialistischen PSOL an, die sich stärker für die Belange der Armen und Landlosen einsetzt. Eines ihrer zentralen Anliegen ist es, dass Lula wichtige Regierungsposten mit Indigenen besetzt – und dass er sich auch für andere Minderheiten wie schwarze Randgruppen oder die LGBT-Gemeinde einsetzt.

Sônia Guajajara, die gerade mal 150 Zentimeter groß ist, scheut keine großen Bühnen: Um für den Schutz des Amazonas zu werben, trat sie 2017 bei einem Konzert von Alicia Keys in Rio de Janeiro auf – was ihr weltweite Aufmerksamkeit verschaffte. Während der Amtszeit Bolsonaros organisierte sie indigene Straßenproteste in Brasilia, zu denen Tausende von indigenen Aktivisten aus dem ganzen Land kamen. Mit solchen Aktionen gelang es ihr und ihren Mitstreitern tatsächlich, das bereits verabschiedete Gesetz über die Öffnung von indigenen Gebieten für den Bergbau und die Holzindustrie „einzufrieren“. 

Bei offiziellen Auftritten trägt Sônia Guajajara meist eine Federkrone ihres Volkes. Die Mutter dreier Kinder ist stolz auf ihre indigenen Wurzeln; nach dem Wahlsieg fuhr sie als Erstes nach Maranhão, um dort mit Freunden und Verwandten zu feiern. „Die brasilianische Gesellschaft muss mehr Verständnis und Respekt für die indigenen Lebensweisen zeigen“, sagt sie, „die Indigenen sind von Geburt an Wächter des Waldes, denn wir sind ein Teil der Natur.“ Und fügt nach einer Pause hinzu: „Wir sind der Ursprung dieses Landes.“

 

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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