Indien vor den Wahlen - Der Westen steht sich beim Verständnis Indiens selbst im Weg

Ab April sind 970 Millionen Inder berechtigt, ein neues Parlament zu wählen. Premierminister Narendra Modi wird aller Wahrscheinlichkeit nach eine dritte Amtszeit erhalten. Um seine Popularität zu verstehen, bedarf es eines differenzierten Blicks auf Indien.

Der indische Premierminister Narendra Modi / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Adrian Haack hat Politikwissenschaften in Hannover, Warschau und Göttingen studiert und als Außenpolitischer Referent im Deutschen Bundestag gearbeitet. Haack leitet das Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Neu Delhi und beschäftigt sich im Schwerpunkt mit der Außen- und Sicherheitspolitik auf dem Subkontinent sowie der wirtschaftlichen Entwicklung Indiens.

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Die indischen Wahlen werden von 15 Millionen Wahlhelfern durchgeführt. Nach indischem Gesetz müssen Wahlberechtigte im Radius von zwei Kilometern ihres Wohnorts ihre Stimme abgeben können. Im Bundesstaat Arunachal Pradesh muss deshalb eine Wahlmaschine auf 4100 Meter Höhe gebracht werden, um 35 Wähler zu erreichen. Allein dieses Beispiel zeigt, dass Wahlen in Indien sehr ernst genommen werden. Gerade die regionale Repräsentation und der direkte Wählerwille werden – anders als in der Wahlrechtsreform der Ampel – in den Vordergrund gestellt.

Beobachter sind sich jedoch einig, dass die Wahlen eigentlich schon entschieden sind. Premierminister Modi wird aller Wahrscheinlichkeit nach eine dritte Amtszeit erhalten, was unter anderem auf seine persönliche Popularität zurückgeht. Ein zweiter Grund ist die zersplitterte Opposition. Zwar gibt es ein breit aufgestelltes Wahlbündnis gegen die BJP, doch gibt es weder ein einheitliches Programm, noch einen Spitzenkandidaten. Tatsächlich treten in vielen Wahlkreisen mehrere Kandidaten der Opposition an, sodass sie sich gegenseitig Stimmen kosten.

Ein weiterer Grund sind die Erfolgsmeldungen der amtierenden Regierung. Seit dem Amtsantritt 2014 hat sich die Zahl der Flughäfen, der Highway- und Schienenkilometer ungefähr verdoppelt. Auch der Bau von Toiletten und der Zugang zu Elektrizität im ländlichen Raum hat große Fortschritte gemacht. Würde man in Indien und Deutschland eine Umfrage durchführen, ob sich das eigene Land seit 2014 zum Positiven oder Negativen entwickelt hat, dann wäre die indische Wählerschaft wohl optimistischer gestimmt.

Der missverstandene Hindu-Nationalismus

Dies sind drei Faktoren, die sich so auch auf europäische Wahlen übertragen ließen. Ein Schlagwort, das im indischen Kontext die Berichterstattung dominiert, ist der Hindu-Nationalismus. In der deutsch- wie der englischsprachigen Berichterstattung hat dieser Terminus eine negative Konnotation. Die journalistischen Beispiele, in denen Hindu-Nationalismus mit dem westlichen Faschismus gleichgesetzt wird, sind von taz bis Al Jazeera sowie in den indischen Medien selbst zu finden. Das könnte man generell kritisieren, weil Nazi-Vergleiche selten keine Übertreibung sind.

Ganz wertfrei kann man jedoch drei Fehlannahmen ausmachen, die das Verständnis des Phänomens Hindu-Nationalismus erschweren. Erstens: Der klassische Nationalsozialismus beziehungsweise der Faschismus geht mit einer aggressiven Außenpolitik einher. Das Vishwaguru-Konzept, das eine hinduistische Außenpolitik umreißt, ist dezidiert friedlich. In den Konflikten mit China und Pakistan ist jeweils die Gegenseite als Aggressor erkennbar, während Indien sehr deeskalierend agiert.

 

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Eine weitere Fehlannahme ist, dass auf dem Subkontinent schon immer Hinduismus und Islam koexistiert hätten. Der Hinduismus hat sich geografisch kaum ausgebreitet. Nicht jeder Inder ist Hindu, aber fast alle Hindus sind Inder. Selbst im Falle des Judentums lebt mehr als die Hälfte der Gläubigen außerhalb Israels. Es gibt keine andere große Religion, bei der fast alle Gläubigen in einem Staat heimisch sind. Der indische Subkontinent wird seit etwa 4000 Jahren vom Hinduismus geprägt. Im 12. Jahrhundert gab es erste Eroberungen durch islamische Herrscher im Norden Indiens. Ab dem 16. Jahrhundert unterwarfen Mogul-Herrscher fast ganz Indien. Es handelte sich damals um eine gewaltsame Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung und eine Ära, die aus Sicht der Hindu-Nationalisten als Kolonialzeit verstanden wird. 

Die westliche Antikolonialismus-Bewegung ist sehr auf europäischen Kolonialismus fokussiert, doch aus indischer Perspektive kamen Sklaverei und Unterdrückung lange vor den Briten. Wenn der westliche Antikolonialismus dies aus ideologischen Gründen ausblendet, ändert das freilich nichts an der Wahrnehmung in der ehemaligen Kolonie. Selbst wenn man diese Wahrnehmung nicht teilt, muss man sie – um das Land zu verstehen – zumindest zur Kenntnis nehmen.

Säkularismus und Multikulturalismus sind nicht dasselbe

Schließlich sollte man sich noch vor Augen führen, dass Indien kein säkularer Staat ist, wenn man die klassische französische Tradition vor Augen hat. In Indien gilt das Prinzip: Jeder wie er mag. Die indische Verfassung sieht nicht zwangsläufig eine Gleichheit im Zivilrecht vor, sondern gesteht unterschiedlichen Gruppen die Anwendung religiöser Praktiken zu. Indien bezeichnet sich zwar in der Präambel der Verfassung selbst als säkular, doch dies wurde 1976 während des Ausnahmezustands hinzugefügt. Im Kern handelt es sich jedoch eher um eine Art Multikulturalismus, in denen Teile des Zivilrechts religiöser Gesetzgebung überlassen werden.

Im Februar 2024 hat beispielsweise der Bundesstaat Uttarakhand einen „Union Civil Code“ beschlossen. Tatsächlich hebelt dieses einheitliche Zivilrecht rund um die Ehe das „Muslim Personal Law“ aus. Das Mindestheiratsalter für Mädchen wurde auf 18 Jahre festgesetzt und Polygamie untersagt. Die Triple-Talaq-Scheidung (Verstoßen der Frau durch dreimaligen Ausruf) wurde bereits 2019 verboten. Andere Aspekte der Gesetzesänderung kann man durchaus kritisieren, aber insgesamt wurde die rechtliche Stellung der Frauen verbessert und einem Zustand angeglichen, wie man ihm aus dem deutschen Zivilrecht kennt.

Natürlich muss Kritik zwischen Demokratien erlaubt sein. Sie mag vielleicht auch angebracht sein. Vielleicht entwickelt sich Indien in der dritten Regierungsperiode der BJP so, wie die Kritiker es prognostizieren. Es steht zudem außer Frage, dass es zwischen den beiden größten Religionsgruppen des Landes erhebliche Spannungen und Gewalt gibt, die sicher keine Einbahnstraße sind. Indien ist jedoch zu komplex, als dass man es auf Schlagworte reduzieren oder mit hinkenden Vergleichen erklären sollte. Dies ist kein Plädoyer für einen unkritischen, wohl aber für einen differenzierten Blick auf Indien.

Oliver Schulz im Gespräch mit Ben Krischke:
„Wenn wir sagen: Indien verstehen – welches Indien meinen wir dann?“

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