Großbritannien - Johnson tritt als Parteichef zurück und bleibt vorerst Premier

Am Ende wurde der Druck zu groß für Boris Johnson. Der konservative Politiker hat seinen Rückzug als Regierungs- und Parteichef angekündigt. Doch er macht klar, dass er nicht freiwillig geht. Und aus der Downing Street verabschiedet er sich auch noch nicht.

Nach der Erklärung seines Rücktritts als Parteichef geht Boris Johnson erst einmal wieder in die Downing Street Nr. 10 zurück / dpa
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Der britische Premierminister Boris Johnson ist als Chef der Konservativen Partei zurückgetreten. Er wolle aber als Regierungschef weitermachen, bis ein Nachfolger gewählt ist, sagte Johnson heute in London. Er selbst wurde vor knapp drei Jahren von seiner Partei ins Amt gewählt. Kurz vor seiner Rücktrittsankündigung ernannte Johnson noch neue Minister. Allerdings fordern zahlreiche Parteifreunde, der 58-Jährige solle sofort auch als Regierungschef abtreten. Die Opposition verlangt eine Neuwahl.

Johnson war in den vergangenen Tagen massiv unter Druck geraten. Mehrere Kabinettsmitglieder und Dutzende parlamentarische Regierungsmitarbeiter traten von ihren Ämtern zurück. Zuletzt forderte ihn sogar der erst am Dienstag ins Amt berufene Finanzminister Nadhim Zahawi zum Rücktritt auf. Zahawi gilt wie Außenministerin Liz Truss und Handelsministerin Penny Mardaunt als möglicher Nachfolger. In Umfragen führt Verteidigungsminister Ben Wallace. Offiziell hat bisher nur Generalstaatsanwältin Suella Braverman ihre Kandidatur angekündigt.

Oppositionschef Keir Starmer von der Labour-Partei begrüßte den Rücktritt Johnsons. Er forderte aber, nun sei ein „frischer Start“ nötig. „Wir brauchen eine Labour-Regierung“, sagte Starmer. „Wir sind bereit.“ Noch am Mittwochabend hatte ein enger Johnson-Vertrauter verkündet, der Premier werde nicht aufgeben. „Der Premierminister ist in einer optimistischen Stimmung und wird weiterkämpfen“, sagte Johnsons parlamentarische Assistent James Duddridge dem Sender Sky News. Johnson habe bei der vergangenen Parlamentswahl das Mandat der Wähler bekommen und „so viel zu tun für das Land“.

Britischen Medienberichten zufolge ist es zunehmend unwahrscheinlich, dass Boris Johnson nach seinem Rücktritt als Tory-Parteichef bis zur Wahl eines Nachfolgers als Premier im Amt bleibt. Britische Journalisten berichteten von zahlreichen konservativen Abgeordneten, die sich für eine unmittelbare Ablösung Johnsons an der Spitze der Regierung aussprechen. Üblicherweise bleibt der scheidende Premier solange im Amt, bis ein Nachfolger gewählt wird. Doch dagegen regt sich wohl Widerstand.

Strafbar gemacht

Als Übergangspremier käme Johnsons Stellvertreter Dominic Raab infrage. Der Justizminister hielt jedoch bis zuletzt treu zu Johnson. Mehrere Kabinettsmitglieder gelten als potenzielle Nachfolger. Außenministerin Liz Truss brach Berichten zufolge eine Reise nach Indonesien ab und begab sich auf die Rückreise nach London. Sie gilt als eine der aussichtsreichsten Kandidatinnen.

Der skandalumwitterte Premier war in den vergangenen Tagen massiv unter Druck geraten. Mehrere Kabinettsmitglieder und Dutzende parlamentarische Regierungsmitarbeiter traten von ihren Posten zurück. Zuletzt forderte sogar der erst am Dienstag ins Amt berufene Finanzminister Nadhim Zahawi den 58-Jährigen zum Rücktritt auf.

Ausgelöst wurde die jüngste Regierungskrise in Westminster durch eine Affäre um Johnsons Parteikollegen Chris Pincher, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird. Zuvor war herausgekommen, dass Johnson von älteren, ähnlichen Anschuldigungen gegen Pincher wusste, ihn aber dennoch in ein wichtiges Fraktionsamt hievte. Das hatte sein Sprecher zuvor jedoch mehrmals abgestritten. Die Affäre erwies sich nun als Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Johnson steht schon seit Monaten massiv wegen illegaler Lockdown-Partys während der Pandemie im Regierungssitz Downing Street in der Kritik. Er hatte wegen Teilnahme an einer der illegalen Zusammenkünfte selbst einen Strafbefehl von der Polizei erhalten und ist damit der erste britische Regierungschef, der sich während seiner Amtszeit strafbar gemacht hat. Trotzdem stritt er lange jegliches Fehlverhalten ab.

Russland erfreut

Russland bejubelt Johnsons Rücktritt derweil mit Häme. Der britische Premier ist einer der glühendsten Unterstützer der ukrainischen Regierung. „Die ,besten Freunde der Ukraine‘ gehen. Der ,Sieg‘ ist in Gefahr!“, schrieb der Vizechef des russischen Sicherheitsrates, Ex-Präsident Dmitri Medwedew, am Donnerstag im Nachrichtendienst Telegram. Johnsons Abgang sei das „rechtmäßige Ergebnis britischer Unverfrorenheit und niveauloser Politik. Besonders auf internationalem Feld“, meinte Medwedew.

Medwedew schrieb, dass vielleicht weitere Verbündete der Ukraine wegbrechen könnten. „Wir warten auf Neuigkeiten aus Deutschland, Polen und dem Baltikum“, so der frühere Staatschef. Allerdings wackeln dort die Regierungen nicht.
Kremlsprecher Dmitri Peskow sprach von einer schweren Krise in Großbritannien. „Was Herrn Johnson selbst angeht, so mag er uns überhaupt nicht. Und wir ihn auch nicht“, sagte Peskow der Agentur Interfax zufolge. Zugleich äußerte er die Hoffnung, dass in Großbritannien irgendwann „professionellere Leute“ an die Macht kämen, die auch die Notwendigkeit von Dialog verstünden. „Aber im Moment ist darauf kaum zu setzen.“

Quelle: dpa

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