Grenzkonflikt mit Belarus - Lukaschenko in der Falle

Der belarussische Präsident hat mit der von ihm ausgelösten Migrationskrise einen schweren Konflikt mit der Nato und der EU heraufbeschworen. Moskau lässt ihn aus Eigeninteresse zwar vorerst gewähren. Doch Alexander Lukaschenko gerät zunehmend in die Defensive. Gut möglich, dass der Kreml ihn demnächst fallen lässt.

Alexander Lukaschenko, Präsident von Belarus, am Dienstag bei einem Treffen mit hochrangigen Militärs / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

So erreichen Sie Antonia Colibasanu:

Anzeige

Bilder von Migranten – vor allem aus dem Nahen Osten, viele davon mit Kindern –, die an der Grenze campieren und versuchen, von Weißrussland nach Polen zu gelangen, sind weiterhin in den Nachrichten zu sehen. Inzwischen scheint sich die Situation allerdings zu entspannen. Am 18. November wurde berichtet, dass viele der Migranten von weißrussischen Sicherheitskräften von der Grenze in eine von der Regierung betriebene Einrichtung verlegt wurden. Es gab auch Berichte, wonach von Minsk aus Migranten in den Irak geflogen wurden, die sich bereit erklärt hatten, in ihr Heimatland zurückzukehren. Doch viele Migranten bleiben – und es ist unklar, wie der langfristige Plan für diejenigen aussieht, die das Land nicht verlassen wollen.

Auch wenn die derzeitige Krise wahrscheinlich bald enden wird wie die meisten anderen auch: Die politische Stabilität in Belarus bleibt ungewiss. Das wiederum eröffnet Russland die Möglichkeit, verstärkten Druck auszuüben, um Minsk in seiner Einflusssphäre zu halten. Gerüchte über eine bevorstehende russische Invasion in der Ukraine mögen die Schlagzeilen beherrschen, tatsächlich aber ist Belarus der Schlüssel zur regionalen Instabilität in den kommenden Monaten.

Verschärfte Sanktionen

Doch bevor wir nach Osten schauen, sollten wir einen Blick in den Westen von Belarus werfen. Vorige Woche hat der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko erklärt, die Europäische Union solle für die Rückkehr der Migranten in ihre Heimat zahlen. Die EU wiederum beschuldigte Weißrussland der „Instrumentalisierung von Menschen“ für politische Zwecke. Am 15. November verschärfte der Europäische Rat die Sanktionen gegen Weißrussland, indem er die Kriterien für spezifische Ausweisungen erweiterte: Die EU kann nun Personen und Einrichtungen ins Visier nehmen, die beim illegalen Überschreiten der EU-Außengrenzen Hilfe leisten. Außerdem stellte sie rund 750.000 Euro an humanitärer Hilfe für die an der belarussischen Grenze gestrandeten Migranten bereit. (Dies geschieht allerdings über nichtstaatliche Partnerorganisationen und nicht über die Regierung in Minsk.)

Die EU hat die Einwanderungskrise von 2015 noch frisch im Gedächtnis und sieht in dieser Art von Migration eine Bedrohung für ihre eigene sozioökonomische Sicherheit. Einfach ausgedrückt: Ein Zustrom von Einwanderern wird es der EU erschweren, ihre pandemiebedingten wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Polen und andere osteuropäische Mitgliedstaaten haben erklärt, sie wollten keine Migranten aufnehmen, zumal die meisten ohnehin versuchen, in westeuropäische Länder zu gelangen. Aber auch viele westliche Länder wie Deutschland und Frankreich tun sich schwer damit, Migranten und Flüchtlinge unterzubringen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Krise ein Nato-Mitglied auf der einen und eine pro-russische Regierung auf der anderen Seite unmittelbar betrifft, sodass es sich nun auch um ein Problem des westlichen Militärbündnisses handelt. Am 25. November erklärte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg: „Die Bündnispartner haben deutlich gemacht, dass sie die Ausbeutung schutzbedürftiger Menschen durch das Lukaschenko-Regime, um Druck auf Nachbarländer auszuüben, scharf verurteilen.“ Um das Ganze abzurunden, gab Stoltenberg auch einen Seitenhieb gegen Russlands militärische Aufrüstung in der Nähe zur Ukraine.

Nato-Außenministertreffen in Riga

Dies alles geschah im Vorfeld eines Nato-Außenministertreffens, das noch bis zum heuten Mittwoch in Riga stattfindet und bei dem Nato-Vertreter auch mit den Außenministern der Ukraine und Georgiens zusammentreffen. Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich kein Zufall, dass der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, am 29. November die Situation an der weißrussisch-polnischen Grenze als eine der schwerwiegendsten Migrationskrisen in Europa bezeichnete, die möglicherweise zeitverzögert globale Auswirkungen hat.

Unterdessen kündigte der belarussische Verteidigungsminister Wiktar Chrenin am 29. November an, dass Weißrussland zu einem noch unbestimmten Zeitpunkt gemeinsam mit Russland Militärübungen an den südlichen Grenzen plane. Mit anderen Worten: Es geht nicht nur um die Migranten, sondern auch um das Potenzial, gegnerische Mächte in einen Konflikt zu verwickeln.

Russland ist eine verwundbare Nation. Es liegt nicht in seinem Interesse, einen Streit zu beginnen, aber es würde eine Gelegenheit begrüßen, das Opfer zu spielen. Moskaus Hauptstrategie besteht darin, seine Pufferzone aufrechtzuerhalten und sich auf ein mögliches aggressives Vorgehen des Westens vorzubereiten. Es sieht die Nato-Erweiterung als eine Bedrohung seiner Interessen an, sodass ein direkter Angriff eines Nato-Mitglieds diese Sichtweise sicherlich bestätigen würde. In der Zwischenzeit hat Russland einen weichen Ansatz für den Umgang mit dem Westen entwickelt und nutzt politische und wirtschaftliche Probleme, um seinen Einfluss in seiner Pufferzone zu stärken.

Die derzeitige Grenzkrise passt in dieses Schema. Ein Fehler an der Grenze, der als Angriff des Westens auf Weißrussland interpretiert werden könnte, würde Russland einen guten Vorwand liefern, um sich über die Nato zu beschweren und in Weißrussland den Helden zu spielen.

Notstand an der Grenze

Die derzeitige Krise begann im Mai, als die Migranten erstmals die anfälligeren Grenzen zu Litauen und Lettland antesteten. Beide Länder haben seither den Notstand an der Grenze zu Weißrussland ausgerufen, wodurch die Migranten indirekt an die polnische Grenze gelenkt wurden.

Polen und Weißrussland ihrerseits sehen in der aktuellen Krise sowohl Herausforderungen als auch Chancen. Aus polnischer Sicht ist Russland eindeutig auf die eine oder andere Weise involviert. Warschau argumentiert, dass die Situation dem Finnland-Norwegen-Konflikt von 2015/16 ähnele und daher inszeniert sei. (Die finnische Grenze wurde Anfang 2016 angegriffen, nachdem Norwegen die Asylanträge von Migranten mit Dokumenten, die ihren legalen Aufenthalt in Russland bescheinigen, nicht mehr berücksichtigt hatte.)

Damals hatte die EU Sanktionen gegen Moskau verhängt, und Finnland hatte als Reaktion auf die russische Intervention in der Ukraine die bilateralen Beziehungen zu Russland abgebrochen. Die Beilegung des Streits ermöglichte es Russland, die Zusammenarbeit zwischen den nordischen Staaten und Weißrussland voranzutreiben. Der Gedanke liegt also nahe, dass beide Seiten aus dem finnisch-norwegischen Konflikt ihre Lehren gezogen haben.

Die polnische Regierung hingegen befindet sich in einer schwierigen Lage: Sie muss ihre harte Haltung gegenüber der Einwanderung im eigenen Land durchsetzen, ohne dabei zu weit zu gehen und eine Krise mit Russland zu provozieren oder den Rückhalt der EU oder der Nato zu verlieren. Im Jahr 2015 rügte Brüssel den Vorsitzenden der Regierungspartei und derzeitigen Vizepräsidenten Jaroslaw Kaczynski, weil er gesagt hatte, Polen habe keine moralische Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen. Doch die einwanderungsfeindliche Politik Warschaus wurde fortgesetzt, und heute hat Polen einen der niedrigsten Anteile an Ausländern in der EU.

Die Schuld an der aktuellen Krise auf Russland zu schieben, ist für Polens Strategie von zentraler Bedeutung, da es Polen als Verteidiger gegen einen russischen Hybridangriff darstellt und die EU unter Druck setzt, sich hinter Warschau zu stellen. Gleichzeitig kann Polen nicht zulassen, dass die Situation zu weit eskaliert und einen Konflikt auslöst, den niemand begrüßen würde – außer vielleicht Russland.

Ein Spiel mit hohem Einsatz

Weißrussland seinerseits spielt ebenfalls mit hohem Einsatz. Lukaschenko muss beweisen, dass er weiterhin die Kontrolle im Land hat. Außerdem ist er wütend auf die baltischen Staaten und Polen, weil sie belarussischen Politikern Aufenthalt gewähren, die die Opposition gegen sein Regime angeführt haben. Lukaschenko will vor allem, dass die EU seine Führungsrolle im Land anerkennt. Er hofft, die europäischen Staats- und Regierungschefs dazu zwingen zu können, mit ihm zu sprechen und ihn als einen Gleichgestellten anzuerkennen – was die deutsche Bundeskanzlerin in ihren Telefongesprächen mit Lukaschenko ausdrücklich zu vermeiden suchte, indem sie ihn mit „Herr Lukaschenko“ statt mit „Präsident“ anredete. Er hätte auch nichts gegen etwas EU-Geld – selbst wenn es nur dazu diente, Migranten nach Hause zu schicken. Das hat in der Vergangenheit in ähnlichen Situationen für Belarus funktioniert.

Allerdings spürt Lukaschenko auch die Hitze im eigenen Land, und er muss die Ordnung aufrechterhalten und das Vertrauen der Öffentlichkeit gewinnen. In der Lösung der humanitären Krise an der Grenze sieht er eine Möglichkeit, dies zu erreichen. Lukaschenko weiß, dass er kaum mehr die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung für sich hat. Laut der Umfrage eines russischen Meinungsforschungsinstituts, die im Oktober online veröffentlicht wurde, wünschen 59 Prozent der Belarussen die Ablösung Lukaschenkos. Wenn Moskau ihn durch einen anderen pro-russischen Führer ersetzen wollte, müsste es übrigens nicht lange suchen: Der inhaftierte Präsidentschaftskandidat Viktor Babariko, ein Bankchef mit Verbindungen zu Russland, wäre eine erstklassige Personalie.

Lukaschenko beteuert seine Loyalität gegenüber Moskau, hat aber hart daran gearbeitet, Weißrussland in den Westen einzubinden, um sich ein Druckmittel gegen den Kreml und Optionen für den Fall einer russischen Wirtschaftskrise zu verschaffen. Der Kreml ist sicherlich verärgert darüber, dass er jahrelang in das Projekt einer Militärunion mit Weißrussland investiert hat, die noch immer nicht verwirklicht wurde. Moskau musste alle möglichen Taktiken anwenden, einschließlich des Themas Energieversorgung, um Lukaschenko davon abzuhalten, sich zu sehr dem Westen anzunähern. Da die Ukraine weitgehend an den Westen verloren ist, musste Russland seine Bemühungen um Weißrussland verdoppeln.

Bei einigen Webinaren, an denen ich vor kurzem teilgenommen habe, bestätigten sogar Stimmen aus Belarus, dass Russland seinen Einfluss in dem Land möglicherweise dadurch schützen will, dass es Lukaschenko loswird. Schließlich ist er ein autoritärer Führer, der glaubt, er könne sich Moskau widersetzen, wenn es ihm passt. Es gab Spekulationen, dass die russischen Truppenbewegungen, von denen der Westen fürchtet, sie seien gegen die Ukraine gerichtet, in Wirklichkeit eine Bedrohung für Lukaschenkos Regime darstellen.

Stürzt Lukaschenko?

Lukaschenko ist sicherlich besorgt wegen russischer Truppen auf belarussischem Boden – selbst wenn sie einen guten Vorwand haben, um dort zu sein (wie vor einigen Monaten bei den Militärübungen im Zusammenhang mit Zapad 2021). Und wenn schon die Belarussen offen darüber spekulieren, muss das Lukaschenko-Regime mindestens ebenso alarmiert sein.

Das kalte Wetter und die Tatsache, dass Minsk zugestimmt hat, die Migranten in staatlichen Einrichtungen unterzubringen, lassen vermuten, dass die Grenzkrise in den nächsten Wochen abklingen wird. Doch angesichts der zunehmenden Isolation Lukaschenkos, der ein wirtschaftlich schwaches und weitgehend von Russland abhängiges Land führt, steigt das Potenzial für Instabilität und sogar für einen Regimewechsel in Belarus. Unter den gegenwärtigen Umständen, in denen der Großteil der prowestlichen Opposition gegen Lukaschenko ins Exil gegangen ist, würden Unruhen wahrscheinlich zur Einsetzung eines neuen pro-russischen Regimes führen. Dies wird vielleicht nicht in den nächsten Wochen oder Monaten geschehen, aber Lukaschenko macht sich zunehmend und zu Recht Sorgen darüber.

Der belarussische Staatschef sitzt also in der Klemme, und es besteht die Gefahr, dass er verzweifelte Maßnahmen ergreift, um sich zu retten. Ein Fehltritt, der die russischen Interessen in Belarus oder in der Region bedroht, könnte Lukaschenkos Befürchtungen Wirklichkeit werden lassen. Dies ist wahrscheinlich der wichtigste Grund dafür, dass Lukaschenko hofft, die Grenzkrise in aller Ruhe beenden zu können.

In Kooperation mit

Anzeige