Globaler Süden - Der Anti-Westen

Alle reden vom „Globalen Süden“, dabei gelingt eine Definition, was dieser genau sein soll, nicht widerspruchsfrei. Trotzdem ist der Begriff hilfreich, weil er auf wichtige Bruchlinien im Verständnis internationaler Politik hinweist: Jenseits des Westens wächst etwas zusammen.

Güterwaggons in Nairobi / picture alliance
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Johannes Plagemann ist Politikwissenschaftler am German Institute for Global and Area Studies in Hamburg. Foto: GIGA

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Henrik Maihack ist Politikwissenschaftler und leitet seit 2021 das Referat Afrika der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Foto: Friedrich-Ebert-Stiftung

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Beim jüngsten Gipfel der Brics-Staaten in Südafrika Ende August wollten die anwesenden Staatschefs die „Agenda des Globalen Südens voranbringen“. Wenige Tage später beim G-20-Gipfel in Delhi versprach der Gastgeber, Indiens Premierminister Narendra Modi, die „Stimme des Globalen Südens“ zu sein. Und bei der UN-Vollversammlung in der Woche darauf sprach auch alle Welt vom Globalen Süden, dessen Wünsche und Interessen heute wichtiger denn je seien. 

Tatsächlich ist mittlerweile schwer vorstellbar, dass der russische Angriffskrieg in der Ukraine ohne Beteiligung von Ländern wie China, Indien oder Brasilien gelingen kann: die Einbeziehung des Globalen Südens als Voraussetzung für den Frieden in Europa. Aber wer oder was ist der Globale Süden? Und welche Welt strebt er an?

(K)eine sinnvolle Definition

Die schematische Trennung zwischen Westen und Globalem Süden ist eine brutale Verallgemeinerung. Sie ist widersprüchlich und übersieht die Zwischentöne. Oft lassen sich Staaten gar nicht so genau zuordnen. Das gilt auch für den Westen, dessen Eingrenzung uns leichter fällt als die des Globalen Südens. 

Ist das Nato-Mitglied Türkei Teil des Westens oder des Globalen Südens? Brasiliens rechtspopulistischer Präsident Jair Bolsonaro, der 2022 abgewählt wurde, hat mehr gemein mit Donald Trump als mit dem südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa. Und was ist mit den reichen Pazifikstaaten Australien und Neuseeland? Beide liegen geografisch im Süden, sind aber politisch Kanada ähnlicher als Papua-Neuguinea oder den Philippinen. 

Die Staaten Zentralasiens wiederum liegen nicht auf der Südhalbkugel, werden aber auch nicht als Teil des Westens wahrgenommen. Japan und Südkorea werden dem Westen schon eher zugerechnet, wenn auch noch nicht so lange. Auch die alte Bundesrepublik hat sich übrigens lange mit der Selbstverortung als „westlich“ schwergetan. Die Westbindung erfolgte erst nach 1949 und war noch lange danach umstritten. 

Eine sinnvolle Definition des Globalen Südens funktioniert nur in Abgrenzung vom Westen. Genauso wie der Westen nur in Abgrenzung von anderen Teilen der Welt verständlich wird. Ob der Begriff hilfreich ist, ist dennoch umstritten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Globale Süden viel diverser ist als die westlichen Industriestaaten, die sich beispielsweise in der G 7 versammeln. 

Der Begriff ist hilfreich

Die Unterschiede zwischen Ländern wie Brasilien und Vietnam sind größer als ihre Gemeinsamkeiten. Aber beide waren (auch) als Vertretung des Globalen Südens zum G-7-Gipfel 2023 in Hiroshima eingeladen. Auch die Brics-Staaten Brasilien, Russland, China und Südafrika teilen wenig – jenseits des Wunsches nach mehr Mitsprache auf globaler Ebene. Und so konnte die Rivalität zwischen China und Indien auch der jüngste Gipfel nur mühsam verdecken. Ägypten und Äthiopien, zwei von sechs neuen Mitgliedern der Staatengruppe, teilen vor allem den Streit um das Wasser des Nils. Eine Definition des Globalen Südens wird also immer Widerspruch ernten. 

Straßenszene in Peking, China / picture alliance

Trotzdem, der Begriff ist hilfreich, weil er auf wichtige Bruchlinien im Verständnis internationaler Politik hinweist und weil er in Ländern des Globalen Südens selbst und mit emanzipatorischem Anspruch verwendet wird. Sicher ist, dass der Globale Süden mehr ist als Geografie. Seine Begriffsgeschichte hat mit der Gründung der Bewegung Blockfreier Staaten in Bandung 1955 zu tun. In Dokumenten der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung taucht der Begriff bereits 1968 auf. Darin kritisierten Delegierte aus Lateinamerika die Ungleichheit zwischen der „nördlichen und südlichen Hemisphäre“ und betonten den Beitrag des Südens zum Reichtum des Nordens. 

1977 wird die Nord-Süd-Kommission unter der Leitung von Willy Brandt gegründet. Personen aus Politik und Wissenschaft im Westen und im Globalen Süden machten Reformvorschläge für die Weltwirtschaft. Und in den letzten zwei Jahrzehnten beziehen sich immer mehr Autorinnen und Autoren in Wissenschaft und Medien auf den Globalen Süden. 

Eine historische Einheit

Zum Beispiel versteht der südafrikanische Politikwissenschaftler Adekeye Adebajo den Globalen Süden als historische Einheit, die alle Länder umfasst, die gemeinsam für die Dekolonialisierung vor allem in Afrika und Asien kämpften. Aber auch in Lateinamerika wird der Begriff des Globalen Südens verwendet, um geteilte Herausforderungen zu betonen. Die bewusste Abkehr von Bezeichnungen wie „Dritte Welt“ oder „Entwicklungsländer“ markiert, dass man nicht mehr als „zu entwickelnde“ Länder verstanden werden will. 

Um einer Definition des Globalen Südens näherzukommen, kann man alle Länder Asiens, Afrikas, des Mittleren Ostens und Lateinamerikas dazuzählen, die sich selbst nicht als Teil des Westens verstehen und historische Marginalisierungserfahrungen durch den Westen teilen. Die meisten dieser Staaten waren selbst lange Kolonie. Oder sie waren – wie Äthiopien und Thailand – umgeben von Kolonien, die ihren Handlungsspielraum einschränkten. 

Staaten also, die den Reichtum im industrialisierten Westen maßgeblich durch Sklavenhandel, Kolonialismus, Imperialismus und die Ausbeutung fossiler Rohstoffe vorfinanziert haben. Versklavte Afrikanerinnen und Afrikaner produzierten die Baumwolle, die in Europas Fabriken verarbeitet wurde. Das befeuerte die Industrialisierung und den Imperialismus, was wiederum die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas erforderte, deren Nutzung den Klimawandel hervorgerufen hat. So gewann der Westen die geopolitische und wirtschaftliche Dominanz der vergangenen drei Jahrhunderte. 

Eine zunehmende Skepsis

Auch ein immer mächtiger werdendes China gehört daher eigentlich zum Globalen Süden. Schließlich bezieht sich die chinesische Propaganda innen- und außenpolitisch habituell auf vergangene Erniedrigungen durch den Westen. Andererseits hat China dank seiner Wirtschaftskraft und politischen Durchsetzungsstärke eine Ausnahmeposition inne. 

Nicht zum Globalen Süden gehören aber Russland, andere Staaten Osteuropas, Neuseeland und Australien. Ebenso wenig dazu gehören die ostasiatischen Industriestaaten mit einem mit Europa vergleichbaren oder höheren Wohlstandsniveau wie Südkorea und Japan. Letzteres ist selbst eine ehemalige Kolonialmacht.

 

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Viele Länder des Globalen Südens teilen eine historische und zunehmende Skepsis gegenüber den Empfehlungen des Westens. Eine vom Westen dominierte Welt wird nicht als Verheißung, sondern als tendenziell ungerecht angesehen. Ein besseres Verständnis der Gemeinsamkeiten des Globalen Südens ist notwendig, kann aber das Wissen über ihre Unterschiede nicht ersetzen. 

Länder des Globalen Südens verbindet beispielsweise keinesfalls, dass in ihren Gesellschaften der Westen und die von ihm zumindest rhetorisch hochgehaltenen politischen Werte wie Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte grundsätzlich abgelehnt werden. Indien spielte eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948. 

Knapp 70 Prozent aller Menschen in Afrika halten Demokratie laut Umfragen des Afrobarometer-Netzwerks für die beste Regierungsform. Die Afrikanische Union, in der fast alle afrikanischen Regierungen vertreten sind, suspendiert Länder, in denen Militärputsche stattfinden, wie zuletzt Mali, Burkina Faso und Guinea. Demokratie und Menschenrechte sind prominente Ziele der Zivilgesellschaften in Asien, Lateinamerika, dem Nahen Osten und Afrika.

Nicht automatisch gerechter

Gleichzeitig werden politische Rechte in der Mehrheit der Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union auch ohne Militärregierungen weiterhin stark eingeschränkt. In Indien bedroht der rechtspopulistische Premierminister Narendra Modi die Demokratie. China perfektioniert die politische Kontrolle der eigenen Bevölkerung mittels digitaler Überwachung. Weder im Iran oder Syrien noch in Venezuela oder Kuba ist eine politische Öffnung erkennbar. 

Das heißt auch, dass eine Welt, in der Regierungen von Ländern des Globalen Südens mehr Gewicht haben, nicht automatisch gerechter sein wird. Mehr internationale Mitsprache für die amtierenden Regierungen Ugandas oder Malaysias würde wahrscheinlich zu einer faireren globalen Handels- oder Klimapolitik führen. Angesichts drakonischer Anti-LGBTQI-Gesetzgebungen in diesen Ländern wäre sie aber auch ein bedrohliches Signal für sexuelle Minderheiten weltweit.

Eine neue Bipolarität

Hört man sich die Verlautbarungen derjenigen Staaten an, die auch die Einheit des Globalen Südens betonen, dann fällt ein Begriff mit Sicherheit: Die Welt ist „multipolar“, so sagen es der russische ebenso wie der indische Außenminister. Und auch Bundeskanzler Scholz verwendet den Begriff regelmäßig in seinen außenpolitischen Ansprachen. Was also heißt Multipolarität als Zustandsbeschreibung jenseits russischer oder chinesischer Propaganda? Und wie geht es weiter mit dem Globalen Süden und dem Westen in einer multipolaren Welt?

Schon der Begriff Multipolarität verunsichert uns im Westen nachhaltig. Er bezeichnet eine Welt mit verschiedenen Zentren auch jenseits des Westens. Die Welt des Kalten Krieges mit zwei sich gegenseitig abschreckenden Blöcken und der kurze unipolare Moment US-amerikanischer Hegemonie nach Ende des Kalten Krieges werden wohl nicht wiederkommen. Ob sich mittelfristig eine neue Bipolarität zwischen den USA und China abzeichnet, ist mindestens zweifelhaft, auch weil die Länder des Globalen Südens genauso wenig wie Europa daran ein Interesse haben. 

Erkennbar ist vielmehr, dass sich die internationale Politik immer neu an wechselnden Polen ausrichtet. Das heißt: Der Globale Süden ist nicht ein Pol, ebenso wenig wie es der Westen ist. Nicht die G 7 gegen die jüngst auf elf Staaten erweiterte Brics-Staatengruppe. Stattdessen entstehen je nach Interessen und außenpolitischen Angeboten neue und ungewohnte Konstellationen. 

Nach Ende des Kalten Krieges

Einseitige Abhängigkeiten lassen sich in einer multipolaren Welt leichter vermeiden als noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Dabei war auch die Blockkonfrontation zwischen Ost und West keine rein „bipolare“ Welt. Was die Kritik am Begriff der Multipolarität bisweilen vergisst: Auch in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hatte eine Mehrzahl der Staaten weltweit kein Interesse daran, sich bedingungslos einer der beiden aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs aufgestiegenen Supermächte anzuschließen. 

Die USA versuchten den Kommunismus in Vietnam mit Napalm zu vertreiben und sahen dabei geflissentlich darüber hinweg, dass das von ihnen protegierte Südvietnam alles andere als eine lebendige Demokratie war. Derweil suchten Präsident Nixon und sein im Westen noch immer als diplomatisches Genie missverstandener Sicherheitsberater Kissinger den Ausgleich mit dem ebenfalls kommunistischen China – und verprellten das demokratische Indien. Wie passt das in die Vorstellung einer streng bipolaren Welt? 

Strand von Ipanema in Rio de Janeiro / picture alliance

Ähnlich diffus war der unipolare Moment nach Ende des Kalten Krieges. Sicher, für Entscheidungstragende im Westen waren die 1990er Jahre eine Zeit des fast uneingeschränkten Triumphes. Die Anzahl an Demokratien weltweit war sprunghaft angestiegen. Die wirtschaftsliberalen Rezepte von Weltbank und Weltwährungsfonds fanden Anwendung in Asien, Afrika und Lateinamerika. Und dennoch: Die heutige Skepsis gegenüber dem Westen wird genährt auch durch die Krisenerfahrungen der Staaten des Globalen Südens in dieser Zeit. 

Der Internationale Währungsfonds vertiefte die Wirtschaftskrise in Asien, anstatt sie zu lösen. Den Vereinten Nationen gelang es nicht, den Völkermord in Ruanda zu verhindern. Und die Staaten des Westens verpassten die Gelegenheit, die in die Jahre gekommenen Vereinten Nationen grundsätzlich zu reformieren. Stattdessen vermauerte sich die Regierung von George W. Bush im Unilateralismus: „You’re either with us or against us“ – das war die Schreckensnachricht, die der Irakkrieg 2003 weltweit aussendete. 

Dabei ahnte man in Washington schon damals, dass die US-amerikanische Hegemonie nicht ewig währen würde – und schraubte deswegen an der sicherheitspolitischen Aufwertung Indiens, das man als Verbündeten gegenüber einem feindseligen China betrachtete. 

Große und kleine Staaten

Eine ähnliche Unschärfe gilt auch für den Begriff der Multipolarität heute. Schließlich suggeriert die Vorstellung einer Welt bestehend aus mehr als zwei Polen vor allem das, was man im 19. Jahrhundert erkannt hat: Großmächte, die zwar auch untereinander handelten, primär aber darauf bedacht waren, in ständiger Konkurrenz zueinander die eigenen Einflusssphären zu konsolidieren. So gesehen ist Multipolarität Großmachtpolitik zwischen mehr als zwei Polen, jeweils ausgestattet mit ähnlicher Macht. 

Wie passt das zusammen mit der heutigen Welt, in der Regierungen großer und kleiner Staaten und deren Gesellschaften so intensiv miteinander verwoben sind, dass die Vorstellung von getrennt voneinander existierenden Polen abwegig erscheint? Und inwieweit ist die Vorstellung mehrerer ähnlich mächtiger Pole zutreffend in einer Welt, in der die USA allein immer noch mehr für Rüstung ausgeben als die zehn nächstgrößten Staaten zusammen? 

Auch wirtschaftlich sind die Pole der Welt heute alles andere als gleich. Die Afrikanische Union vereinigt knapp ein Drittel aller Stimmen in der Generalversammlung der Vereinten Nationen auf sich, vertritt aber einen Kontinent mit nur 3 Prozent der globalen Wirtschaftskraft. 

Ein Sinnbild multipolarer Politik

Diesen berechtigten Einwänden zum Trotz hilft uns der Begriff der Multipolarität zu verstehen, welchen Chancen und Dysfunktionalitäten die internationale Politik heute gegenübersteht. Er stützt die Erkenntnis, dass der Westen seine einstige Vormachtstellung unwiederbringlich eingebüßt hat. Ohne den Globalen Süden wird es nicht gehen. Ökologisch sowieso nicht. Ohne Brasilien, Indonesien und den Kongo wird der Schutz der Regenwälder, die wiederum für den Klimaschutz unerlässlich sind, nicht gelingen. Ohne China und Indien werden sich die CO2-Emissionen kurzfristig nicht reduzieren lassen. Und ohne alternative, fossilfreie Entwicklungspfade in Afrika wird man sie auch mittelfristig nicht in den Griff bekommen. 

Aber auch politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich ist die Welt längst multipolar. In vielen afrikanischen Staaten wetteifern heute türkische, indische und vor allem chinesische Unternehmen um den Bau von Straßen, Flughäfen und Eisenbahnverbindungen. Ähnlich in Süd- und Südostasien. Hier konkurrieren chinesische Unternehmen mit japanischen und manchmal auch indischen Firmen um den Bau von Schnellzügen in Indonesien oder Häfen in Bangla­desch. Für westliche Firmen bleibt da meist wenig übrig. Washington und Brüssel versuchen gegenzusteuern, indem sie einen Transportkorridor von Südasien über Saudi-Arabien und Israel nach Europa propagieren – ein Sinnbild multipolarer Politik. 

Wachstumsregion der nahen Zukunft

Die Volkswirtschaft mit dem größten kaufkraftbereinigten Bruttoinlands­produkt ist seit einigen Jahren China, nicht mehr die USA. Indien hat sich bereits an Deutschland, Japan und anderen westlichen Staaten auf den dritten Platz vorbeigeschoben. Derweil ist China der wichtigste Handelspartner für eine große Mehrheit aller Staaten weltweit. Auch deswegen ist der Süd-Süd-Handel inzwischen umfangreicher als der zwischen Nord und Süd. 

Ohnehin gilt die Region Indopazifik vielen als die Wachstumsregion der nahen Zukunft, auch weil hier 60 Prozent der Weltbevölkerung leben. Die Mitgliedstaaten von ASEAN, einem Zusammenschluss südostasiatischer Staaten, haben gemeinsam mit China, Japan, Australien und Südkorea 2020 das inzwischen größte Freihandelsabkommen der Welt beschlossen – Indien ist ebenso außen vor wie die USA.

Zentral für die Sicherheit Europas

Zumindest bis zur nächsten Präsidentschaftswahl in den USA bleibt die Nato zentral für die Sicherheit Europas, und die Regierung unter Präsident Biden tut viel dafür, um die militärischen Allianzen mit ihren langjährigen Partnern Japan, Südkorea und den Philippinen zu zementieren. Ganz anders im Mittleren Osten, in Afrika und Südamerika. Hier ist der sicherheitspolitische Einfluss der USA schwieriger aufrechtzuerhalten als in den Staaten Ostasiens, die sich von China und Nordkorea bedroht sehen. Der Waffenstillstand im Sudan wurde nach den Ausbrüchen von Kämpfen im April 2023 zunächst in Saudi-Arabien ausgehandelt. Und die jüngste Annäherung von Saudi-Arabien und Iran wurde von China herbeigeführt. 

Bauarbeiter in Bangladesch vor einem Porträt von Premierministerin Wajed / picture alliance

Multipolarität zeigt sich besonders deutlich in einer sich wandelnden Welt der Rüstungsexporte. Während Russland seine prominente Stellung als Waffenexporteur infolge des Angriffs auf die Ukraine wohl einbüßen wird, gewinnen Staaten wie Südkorea, die Türkei oder der Iran an Bedeutung. Die USA werden absehbar der wichtigste Waffenproduzent der Welt bleiben. Aber gerade im Globalen Süden ist man darauf bedacht, Importe zu diversifizieren, um einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden. 

US-amerikanische Sanktionen, so die weitgeteilte Wahrnehmung, sind unberechenbar. Das eröffnet Märkte für alternative Anbieter. Und China? Ein Grund dafür, dass Chinas Rüstungsexporte in Südostasien überschaubar sind, ist das aggressive Auftreten Pekings in seiner Nachbarschaft. Dann doch lieber französische oder südkoreanische Waffen, so die Haltung in vielen Staaten Asiens. Blockbildung sieht anders aus.

Ein emanzipatorisches Versprechen

Kulturell und gesellschaftlich ist die Welt ohnehin schon multipolarer, als wir das im Westen anerkennen. Die im Globalen Süden am meisten gesehenen Serien und Filme kommen immer häufiger aus der Türkei, Südkorea, Indien, Nigeria oder Brasilien. Noch diverser ist die Herkunft der erfolgreichsten Künstlerinnen und Künstler auf Instagram, Tiktok und Youtube. Touristen aus China, nicht Deutschland, sind mittlerweile Reiseweltmeister und verändern das Stadtbild in Rom ebenso wie in Bangkok. Nigerianerinnen und Nigerianer der Mittelschicht lassen sich als „Medizin-Touristen“ in hochwertigen indischen Kliniken behandeln. Inderinnen und Inder wandern nach Dubai aus, um dort in Pension zu gehen. 

Im Globalen Süden kennt man diese multipolare Welt schon längst und findet sich relativ gut darin zurecht. Mehr noch: Vielerorts ist Multipolarität ein emanzipatorisches Versprechen. Der Versuch der Wiederbelebung einer bipolaren Welt – mit Autokratien wie Russland oder China auf der einen und einem westlich geführten, demokratischen Lager auf der anderen Seite – findet auch deswegen im Globalen Süden keine Abnehmer. Man will sich nicht vorschreiben lassen, wen man sich zum Feind macht. Und man kann sich einseitige Abhängigkeiten nicht leisten. 

Denn Optionen schaffen Autonomie und erhöhen Resilienz. Genau diese fehlende Resilienz fällt uns in Deutschland angesichts unserer bisherigen Abhängigkeit von russischer Energie, chinesischem Exportmarkt und US-amerikanischen Sicherheitsgarantien seit dem Februar 2022 auf die Füße.

Nicht mehr vom Westen überstimmen lassen

Wie geht es also weiter mit dem Globalen Süden und dem Westen in einer multipolaren Welt? Multipolarität ist im Globalen Süden häufig dezidiert positiv besetzt, weil sie Staaten, die sich lange nur zwischen dem Westen und internationaler Isolation entscheiden konnten, Alternativen bietet. Im Westen hingegen assoziiert man mit Multipolarität Unordnung und Unvorhersehbarkeit. Das Gesetz des Stärkeren vielleicht – oder gar kein Gesetz. Beide Lesarten sind richtig. 

Die für die Lösung globaler Probleme eigentlich notwendigen internationalen Organisationen sind blockiert, auch weil insbesondere die großen Staaten des Globalen Südens sich nicht mehr vom Westen überstimmen lassen. Offenbar beinhaltet die viel beschworene „regelbasierte internationale Ordnung“ Regeln, die nicht alle teilen und durchsetzen wollen. Vielleicht auch, weil sich nicht alle gleichermaßen als Urheber dieser Regeln sehen. China, Indien, aber auch mittelgroße Staaten wie Kenia, Bangladesch oder Indonesien zeigen sich heute selbstbewusster denn je. 

Das erklärt die Sichtbarkeit der Kritik am Westen heute. Sie ist nicht neu, nur hat man erst jetzt das Gefühl, es sich auch erlauben zu können. Die bittere Erinnerung an die Fremdherrschaft in der postkolonialen Welt kann sich der Westen nicht wegwünschen. Dass die chinesische und russische Propaganda darauf nur zu gern zurückgreift, ist dabei nur ein Nebenaspekt. 

Dennoch: Was zählt, ist weniger alte Verbundenheit als vielmehr neue Angebote. Postkoloniale Ressentiments lassen sich zwar politisch nutzbar machen, wie zuletzt von den Putschisten in Mali und Niger. Das gilt umso mehr, wenn erkennbar ist, dass die alten Hier­archien fortbestehen. Aber die allermeisten Staaten in Lateinamerika, Asien, Afrika und dem Mittleren Osten sind offen für Partnerschaften mit allen Seiten – pragmatisch und berechnend.

Die Bildung von dauerhaften Allianzen mag schwieriger werden. Dafür hat die Anzahl potenzieller Partner auch für Deutschland und die EU zugenommen. Die Chancen liegen auf der Hand. Pragmatische Bündnisse mit Ländern des Globalen Südens können eine Versicherung für Zeiten sein, in denen die Zusammenarbeit innerhalb westlicher Bündnisstrukturen stockt. Notwendig für die Lösung der Großkrisen der Gegenwart sind sie ohnehin.

„Wir sind nicht alle – Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens“ erschien im September 2023 bei C. H. Beck, 249 Seiten, 18 €

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