Geopolitik - Warum ich leider Recht behalten habe

In seinem Buch „Die nächsten 100 Jahre“ sagte unser Autor schon vor mehr als zehn Jahren die Invasion der Ukraine durch Russland voraus. Jetzt kämpft er mit dem unguten Gefühl, sich über das Eintreten seiner traurigen Vorhersage zu freuen. Aber weil jede Nation in ihrer eigenen Realität gefangen ist, spielen Prognosen – ob sie richtig sind oder falsch – für die Geschichte oder die Menschheit ohnehin keine Rolle.

Ein zerstörter Panzer in der ukrainischen Stadt Mariupol / picture alliance
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Im Jahr 2009 habe ich ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Die nächsten 100 Jahre“, in dem ich vorhersagte, dass Russland immer aggressiver werden und dass seine Aggression irgendwann um das Jahr 2020 zu einer Invasion der Ukraine führen würde. Viele hielten dies für absurd, wenn nicht gar für unmöglich. Ich möchte nicht leugnen, dass ich mich bestätigt fühlte. Manche Männer sehnen sich nach Geld, manche nach Ruhm. Mein Wunsch ist es, Recht zu haben. Dies ist nun ein Moment, in dem ich Recht hatte – und zeigen konnte, warum ich Recht hatte.

Was meine Freude dämpft, ist die Tatsache, dass Recht haben in diesem Fall bedeutet, einen Krieg zu erleben. Vorige Woche schrieb ich über die Qualen des Krieges anhand der Erfahrungen meines Vaters im Zweiten Weltkrieg. Das war etwas Persönliches. Als ich vor über einem Jahrzehnt meine Prognose verfasste, war das eine weniger persönliche Sache. Damals verfolgte ich ein einfaches Ziel: ein Buch zu schreiben, das die kommenden Jahre möglichst genau abbildet. Heute weiß ich, dass die Leidenschaft, Recht zu haben, einen blind macht für das, womit man Recht hat.

Als ich damals an meinem Buch gearbeitet habe, schrieb ich ohne Rücksicht auf das, was ich vorhersagte. Schlimmer noch: Als die Russen die Grenze zur Ukraine überschritten, galt mein erster Gedanke nicht den Truppen an den Grenzübergängen, die sich einen Schusswechsel lieferten und den Tod in Kauf nahmen. Mein Gedanke war die Freude darüber, Recht zu haben. Es bedurfte der Erinnerung an das Leben meines Vaters, um die Perversion zu begreifen, die in meiner Rechthaberei steckte. Das betraf nicht die Welt, die sich weiterdreht, ohne sich um mich zu kümmern. Aber es betrifft den Beruf, den ich ergriffen und in gewisser Weise begründet habe.

Zusammenspiel der Nationen

Geopolitik ist die Wissenschaft vom Zusammenspiel der Nationen. Meine wichtigsten Prognosen handeln vom Schmerz, auch wenn sie nicht mit Krieg zu tun haben. Einige, wie meine Vorhersage über die Vereinigten Staaten, die sich jetzt manifestiert, stellen eine seltene Ausnahme vom Krieg dar. Andere, wie der Niedergang und die Fragmentierung Chinas, sind noch nicht eingetreten. Im Fall der Vereinigten Staaten dachte ich, dass ich ein Element des Trostes anbiete, indem ich behaupte, dass die Zwietracht unserer Zeit schon einmal stattgefunden hat und dass Amerika letztlich besser daraus hervorgegangen ist. In den vergangenen Jahren, in denen ich die nicht enden wollende Wut und den gegenseitigen Hass in den Vereinigten Staaten erlebt, gehört und gesehen habe, ist mir klar geworden, dass die Prognose wenig Trost bietet.

Mein Ziel war es, einen Fahrplan für die Zukunft zu erstellen, der auf jenen Kräften basiert, die die Nationen zu bestimmten Verhaltensweisen treiben oder sie in ihren Handlungsmöglichkeiten einschränken. Mein Argument ist, dass der Einzelne sein Leben innerhalb der Grenzen dieser Zwänge gestalten kann – aber als Einzelner ist er gleichzeitig in der Zeit und dem Ort, in dem er lebt, gefangen. Auch die kollektive Öffentlichkeit ist in dieser Zeit und an diesem Ort gefangen, und all ihre kollektive Wut und Hoffnung ist von geringer Bedeutung. Wir alle leben unser Leben, gefangen in der Realität.

Ich habe geschrieben, was ich geschrieben habe, in der Hoffnung, dass meine Methode richtig ist – und in der Hoffnung, dass das Verständnis der Kräfte, die uns überwältigen, in irgendeiner Weise den Schmerz des Lebens in der Geschichte lindern könnte. Ich wollte in Bezug auf die Ukraine und Russland Recht haben, hoffte aber gleichzeitig, dass das Wissen um das, was kommen würde, es wenn nicht verhindern, so doch zumindest abmildern könnte. Ich hatte eine Zeit vorausgesehen, in der Russland versuchen würde, sein Imperium wieder aufzubauen, in der es die Ukraine zurückholen müsste – und in der die USA und Europa Widerstand leisten würden. Ich sagte auch voraus, dass die Invasion zum Scheitern verurteilt sein und dass die Niederlage Russland zerreißen würde.

Keine Möglichkeit der Linderung

Wenn ich Recht hatte, dann gab es tatsächlich keine Möglichkeit der Linderung. Jede Nation ist in ihrer eigenen Realität gefangen – in dem, was sie fürchtet und was sie hofft. Und die Welt könnte sich sowieso nicht weniger dafür interessieren, was ich dachte. Also erteile ich mir selbst die Absolution. Die Männer, die auf dem kalten Boden schlafen, sind nicht dort, weil ich etwas gesagt habe. Sie sind dort, weil die Russen ihr Schicksal nicht dauerhaft akzeptieren wollten, weil die Ukraine das Schicksal Russlands nicht teilen wollte, und weil der US-Dollar eine mächtige Waffe ist. Wäre Putin nie geboren worden, würde jemand anderes versuchen, das Russische Reich wieder aufzubauen. Und das Scheitern würde eine weitere russische geopolitische Katastrophe nach sich ziehen.

Ob meine Prognosen richtig sind oder nicht, spielt für die Geschichte oder die Menschheit keine Rolle. Aber für mich ist es wichtig, weil ich aus unerklärlichen Gründen Recht haben will und eine Persönlichkeit habe, die gepflegt werden muss. Wenn man sich an Ereignissen erfreut, die zu Qualen führen, ist das aber nicht gut.

Ich hatte einmal einen Freund, der Neonatologe war: ein Arzt, der Frühgeborene behandelte, von denen viele sterben mussten. Mein eigener Sohn wurde unter seiner Obhut geboren, und er überlebte und gedieh. Ich habe mit meinem Freund einige sehr dunkle Stunden durchlebt, und er erklärte mir, dass das Wichtigste, was er tat, darin bestand, jene Kinder zu identifizieren, die auf jeden Fall sterben würden. Das, so sagte er, gab ihm die Zeit und die Kraft, sich um diejenigen zu kümmern, die überleben könnten.

Das tröstet mich, auch wenn es absurd ist. Was er getan hat, hat hoffentlich zu etwas Gutem geführt. Nichts, was ich tue, wird eine Nation retten oder umbringen. Ich versuche lediglich, einem Publikum, das nicht zuhört, die Spielregeln eines Spiels zu erklären, das auch ich kaum verstehe. Und das ist der einzige Trost, den ich habe. Ob richtig oder falsch? Die Geschichte wartet nicht auf mein Urteil. Darin liegt ein Trost.

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