Europäische Union - Die EU ist keine Demokratie

Das Postengeschacher um die fünf Spitzenämter offenbart einmal mehr, wie undemokratisch die Europäische Union aufgebaut ist. Bei aller Liebe für die EU darf man nicht die Augen vor Fehlentwicklungen verschließen. Eine Erwiderung auf Kay Walter

Ursula von der Leyens Nominierung zeigt, dass nicht nur die Spitzenkandidaten geeignet sind / picture alliance
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Autoreninfo

Rudolf Adam war von 2001 bis 2004 Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes. Von 2004 bis 2008 leitete er als Präsident die Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Er ist Senior Advisor bei Berlin Global Advisors. Foto: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

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Kay Walter hat auf dieser Seite kürzlich eine Philippika auf Kritiker der EU publiziert. Nun weiß ich: Ich bin ein „Demagoge und Lügner”, ich habe keine Ahnung, meine Ansichten sind Stuss. Ich war drei Jahre lang mit der Koordinierung der EU-Außenpolitik befasst und möchte seine Aussagen deswegen nicht so stehen lassen.

Wie weit es überhaupt Sinn ergibt, innerhalb der EU von „Demokratie” zu sprechen, ist eine kontroverse Frage. Die Tatsache allein, dass alle fünf Jahre eine Versammlung gewählt wird, die sich „Parlament” nennt, bedeutet nicht, dass es sich um eine Volksvertretung handelt. Es gibt kein europäisches Volk. Selbst der Vertrag von Lissabon spricht von den Völkern Europas im Plural.

Es gibt keine europäischen Parteien

Das EU-Parlament hat kein Demokratie-, sondern ein Repräsentationsdefizit. Und das wird nicht dadurch gelöst, dass immer mehr Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte konstruiert werden, die schließlich zu Selbstlähmung beziehungsweise zu eben dem Postengeschacher führen, das Kay Walter so vehement abstreitet.

Das EU-Parlament wird nicht nach gleichem Wahlrecht gewählt. Ein Abgeordneter aus Deutschland vertritt mehr als zehnmal so viele Bürger wie einer aus Luxemburg oder Malta. Es gibt auch keine europäischen Parteien. Nach jeder Wahl bilden sich im EU-Parlament Fraktionen. Jede Fraktion ist ein Dach für Dutzende einzelner Parteien. Insgesamt sind im EP (751 Abgeordnete) Vertreter von über 200 Parteien vertreten – das macht im Schnitt knapp vier Abgeordnete einer programmatisch geschlossenen Partei. Die Fraktionen verändern sich nach jeder Wahl wie ein Kaleidoskop.

AfD-Wähler mussten sich betrogen fühlen

Geradezu schmerzhaft ins Auge sprang dies nach den Wahlen 2014: Die AfD entsandte 7 Abgeordnete nach Brüssel. Diese schlossen sich zunächst der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) an. Kurz danach setzte die AfD ihren Vorsitzenden Bernd Lucke ab, der die Mehrzahl der AfD-Europaabgeordneten mit sich nahm. Diese fünf (sie nannten sich zunächst ALFA, später LKR; bei den Wahlen 2019 erhielten sie 0.1Prozent der Stimmen) blieben in der EKR-Fraktion, gehörten aber nicht mehr der AfD an.

Die übrigen beiden – Beatrix von Storch und Marcus Pretzell – wandten sich anderen Fraktionen zu: Die eine trat 2016 in die Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD) über, der andere schloss sich im gleichen Jahr der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) an. Beide bleiben der AfD treu, gehörten aber unterschiedlichen europäischen „Parteien” an. Wer in der Wahl zum EU-Parlament seine Stimme der AfD gegeben hatte, musste sich betrogen fühlen: Die einen gründeten einfach eine neue Partei, die beiden übrigen wandten sich zwei verschiedenen europäischen „Parteien” zu.

Es geht nicht um eine „Koalition”

Dass die sogenannten europäischen „Parteien” keine echten Parteien sind, zeigt sich schon daran, dass man sie nicht wählen und ihnen auch nicht als einfaches Mitglied beitreten kann. Zur Wahl stehen lediglich nationale Parteien, die sich dann auf europäischer Ebene zu Aktionsbündnissen/Fraktionen zusammenschließen. Keine der europäischen „Parteien” hat eine eigene Organisation, eine interne demokratische Struktur, eine Parteiführung, ein Programm, ein eindeutiges politisches Profil. Sie „Parteien” zu nennen ist Teil der Euphemismen, von denen die EU durchdrungen ist. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat Recht, wenn er echte europaweite Parteien als Voraussetzung für bessere demokratische Willensbildung im EU-Parlament fordert.

Insofern geht es jetzt in Brüssel nicht um eine „Koalition”. Eine Koalition ist erforderlich, um eine Regierung zu bilden und dauerhaft zu tragen. Die Zusammensetzung der Kommission wird jedoch nicht von einer parlamentarischen Koalition bestimmt. Sie besteht vielmehr aus Kommissaren, die von nationalen Regierungen benannt werden – ohne Beteiligung der nationalen Parlamente. Das EU-Parlament kann lediglich der gesamten Kommission das Vertrauen entziehen. Das ist bislang kein einziges Mal geschehen. Die Santer-Kommission ist 1999 zurückgetreten, um einem angedrohten Misstrauensvotum zuvorzukommen. Das parlamentarische Scherbengericht hat sie damit vermieden.

Die EU ist ein internationales Vertragswerk

Es wird allzu leicht vergessen, dass die EU auf einem klassischen internationalen Vertragswerk basiert. Das ist inzwischen zu einem der umfassendsten und komplexesten völkerrechtlichen Texte herangewachsen. Es hat in vielem den Rang einer überstaatlichen Verfassung gewonnen. Dennoch bleiben die Mitgliedstaaten die Herren, die Kommission lediglich Hüterin der Verträge. Das EU-Parlament hat bei Vertragsänderungen keine substantiellen Mitwirkungsrechte. Vertragsänderungen erfordern vielmehr die positive Zustimmung sämtlicher Mitgliedsstaaten – viele schreiben hierfür sogar eine obligatorische Volksabstimmung vor.

Die Legitimation aus den nationalen Verfassungsorganen – Regierungen und Parlamente – bleibt stärker als die aus dem EU-Parlament. Auch der Brexit zeigt, dass bei aller faktischer Verwobenheit jeder Mitgliedstaat letztlich souverän bleibt, seine Teilnahme an diesem Vertragswerk zu widerrufen. Daran kann kein EU-Parlament etwas ändern. Die EU kann Austrittsbedingungen aushandeln. Sie könnte aber einen „no-Deal“-Brexit nicht verhindern, wenn sich tatsächlich ein solch radikaler Kurs in London durchsetzen sollte.

Das Spiel der Spitzenkandidaten entsprang einer Intrige

Das ganze Spiel mit den Spitzenkandidaten stellt, wenn nicht den Wortlaut, so doch zumindest den Sinn der Vertragsvorschriften auf den Kopf. Es entsprang einer genialen Intrige. Eingefädelt im Büro von Martin Schulz, der sich und Jean-Claude Juncker damit den Zugriff auf das prestigeträchtigste Amt in Brüssel sichern wollte.

Der Vertrag von Lissabon besagt klar und eindeutig: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.” (Vertrag über die Europäische Union, Art. 17, (7)) Das Europäische Parlament hat kein Initiativ-, sondern lediglich ein Zustimmungsrecht. Auch wenn der erste Kandidat vom EU-Parlament abgelehnt wird, bleibt das Vorschlagsrecht beim Europäischen Rat.

Ob Frau oder Mann sollte zweitrangig sein

Richtig ist, dass es hier um einen mehrschichtigen Proporz geht: Regionale Herkunft, parteiliche Affiliation, Ausgewogenheit zwischen den fünf zu vergebenden Spitzenämtern. Weshalb „Geschlechtergerechtigkeit mehr als angemessen” sein soll, verschweigt uns Herr Walter. Im Vordergrund sollte doch stehen, dass jede Position mit der Person besetzt wird, die dafür die besten Voraussetzungen mitbringt. Da fällt beim Kommissionspräsident weniger die politische Couleur als diplomatisches Verhandlungs- und Ausgleichsgeschick ins Gewicht, Erfahrung in internationaler Diplomatie und in breiten, ressortübergreifenden Aufgaben. Ob dann schließlich mehr Frauen oder Männer an der Spitze dieser Gremien stehen, sollte zweitrangig sein.

Schließlich zeigt Ursula von der Leyens Nominierung zur EU-Kommissionspräsidentin, dass das Feld geeigneter Kandidaten breiter ist als die enge Gruppe der Spitzenkandidaten.

Die Debatte nicht mit „Basta“ vom Tisch wischen

Kay Walter fährt mit der Vehemenz eines Fastenpredigers unter die vermeintlichen EU-Ketzer. Damit ist er leider einer der Vertreter, für die die EU eine Sache des Glaubens, nicht des Verstandes ist. Gerade wer das unbestreitbar Gute, das die EU Europa gebracht hat, bewahren will, darf nicht die Augen vor Fehlentwicklungen verschließen – und schon gar nicht die Debatte darüber mit einem unwirschen „Basta“ vom Tisch wischen.

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