EU ohne Großbritannien - Deutschlands Schaden und Merkels Schuld

Aus und vorbei! Zum Jahreswechsel verliert die EU mit Großbritannien ein wichtiges Mitglied. Derweil drängen neue Hilfsempfänger vom Balkan in die Union. Den Schaden hat vor allem Deutschland. Die Hauptschuld an diesem Exodus trägt Kanzlerin Merkel. Die Folgen der Kräfteverschiebung sind weitreichend.

Bye, bye Briten: Angela Merkel trägt die Hauptschuld / dpa
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Wolfgang Bok war Chefredakteur und Ressortleiter in Stuttgart und Heilbronn sowie Direktor bei der Berliner Agentur Scholz & Friends. Der promovierte Politologe lehrt an der Hochschule Heilbronn Strategische Kommunikation.

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Es ist in der Tat von „historischer Bedeutung“, dass mit Großbritannien nicht nur erstmals ein Land die Europäische Union verlässt, sondern ausgerechnet eine große Wirtschaftsmacht die Scheidung vollzieht. Doch anders als von Angela Merkel in ihrer zähem Gleichmut gedeutet, verspricht das „neue Kapitel der Beziehungen“ vor allem für Deutschland reichlich dunkle Seiten. Das beginnt bei den zusätzlichen finanziellen Belastungen, die dem heute schon mit fast 15 Milliarden Euro größten Nettozahler aufgebürdet werden, weil nun die knapp sechs Milliarden fehlen, welche die Briten bislang mehr in die EU-Töpfe entrichtet als daraus bezogen haben.

Gewichtiger sind jedoch die langfristigen Folgen: Auf die Briten können fortan keine Lasten mehr abgewälzt werden, die sich durch die Entwicklung zur Fiskal- und Schuldenunion auftürmen. Allein die Hilfspakete, mit denen die Folgen der Corona-Krise abgefedert werden sollen, summieren sich mittlerweile auf 2400 Milliarden Euro. Die Pandemie wird zugleich genutzt, um die letzten Hürden zur eigenständigen Kreditaufnahme und Steuererhebung zu nutzen. Schleichend berauben sich die deutschen Parlamente damit ihres Königsrechts, nämlich zu entscheiden, wofür wie viel Geld ausgegeben wird. Außer der AfD applaudieren alle im Bundestag vertretenen Parteien, wenn sie mehr und mehr zu Vollzugsgehilfen der Brüsseler Vorgaben degradiert werden. Kein anderes Land gibt freiwillig soviel nationale Souveränität ab und ruft mit Freude (wie aktuell bei der Verteilung des knappen Anti-Corona-Impfstoffes): Europa first!

Stimme der Freiheit

Premierminister Boris Johnson kann seinen Landsleuten dagegen stolz verkünden, dass sich die EU nur in 17 Prozent der strittigen Vertragsfragen durchgesetzt habe. Er hingegen habe in 43 Prozent gesiegt und bei 40 Prozent einen guten Kompromiss erzielt. Deshalb rufen nun auch die Schweizer nach einem solchen „Weihnachtsgeschenk“ aus Brüssel, das den Briten laut Johnson „einen zoll- und barrierefreien Handel mit dem europäischen Binnenmarkt ermöglicht, ohne sich im regulatorischen und rechtlichen Orbit“ der EU bewegen zu müssen. Diese Stimme der Freiheit, die sich der Brüsseler Bevormundung, verharmlosend Harmonisierung genannt, widersetzt, wird künftig schmerzlich vermisst werden.

Um so vernehmlicher kann sich Frankreich als Fürsprecher der Südländer profilieren, welche die EU vor allem als Honigtopf verstehen, der für eigenes Reformversagen haftet und ständig neue Subventionen auflegt – nur zu gerne auf Kosten des größten Nettozahlers Deutschland. Der drangsaliert seine Bürger derweil mit der höchsten Abgabenlast, obwohl Italiener, Spanier oder Franzosen hinsichtlich des privaten Vermögens sogar deutlich wohlhabender als die Deutschen sind.

Stures Festhalten von Berlin und Brüssel

Zu Recht wird in London darauf verwiesen, dass Merkel den Brexit befördert hat. Grundsätzlich, indem sie sich bei allen Reformverhandlungen im Zweifel gegen das britische Bedürfnis nach weniger EU-Bevormundung gestellt hat. Von Johnson wird kolportiert, dass Merkels „lutheranischer Ekel gegenüber dem Libertinären“ die Remainer-Fraktion geschwächt habe, indem sie die Reformbestrebungen von Johnsons Vor-Vor-Gänger Cameron ins Leere laufen ließ, mit denen dieser den Brexit verhindern wollte. Diese antiliberale Haltung hat Merkel als CDU-Vorsitzende auch 2017 gegenüber der FDP zum Ausdruck gebracht – und damit die Lindner-Partei zum Auszug aus einer möglichen schwarz-grün-gelben Koalition genötigt.

Ebenso ist sie den „sparsamen Fünf“ (Österreich, Schweden, Dänemark, Holland, Finnland) in den Rücken gefallen, als diese Corona-Hilfen vor allem nur als Kredite vergeben wollten. Entscheidend war aus britischer Sicht jedoch die „unilaterale Flüchtlingspolitik“ ab Herbst 2015. Die Aussagen der Bundeskanzlerin, dass man „Grenzen nicht schließen kann“ oder „es nicht in unserer Macht liegt, wie viele nach Deutschland“, befeuerte laut FAZ die Leave-Kampagne und gab Forderung nach einer Kontrolle über die eigenen Grenzen Auftrieb. Das sture Festhalten von Berlin und Brüssel an der „europäischen Freizügigkeit“ dürfte ausschlaggebend gewesen sein, dass sich am 23. Juni 2016 die Brexitianer mit 52 Prozent letztlich knapp durchgesetzt haben.

Tricksereien des Boris Johnson honoriert

Anstatt die Scheidung konsequent zu vollziehen, um Nachahmer abzuschrecken, haben Brüssel und Berlin die Tricksereien des Boris Johnson sogar honoriert. Der wird auf der Insel dafür gefeiert, der EU in letzter Minute ein Maximum an Zugeständnissen abgerungen zu haben: Rückeroberung der vollen Souveränität, ohne den Zugang zum EU-Markt („null Zölle, null Quoten“) zu verlieren. Der ist für die Briten ungleich wichtiger als umgekehrt: 46 Prozent ihrer Waren gehen in die EU, derweil nur sechs Prozent der EU-Exporte nach Großbritannien geliefert werden. Das gilt übrigens auch für Deutschland, das auf den britischen Markt (sechs Prozent) weit weniger angewiesen ist als umgekehrt (zehn Prozent).

Damit wird der 1246 Seiten umfassende Freihandelsvertrag die Briten weit weniger hart treffen, als von denen erhofft, die im Brexit gerne eine Selbstverstümmelung sehen. Zwar hat man nun keinen Sündenbock Brüssel mehr, dem man Mängel im eigenen Land anlasten konnte. Aber dies verstärkt eben auch den Reformdruck. Schon kündigt Johnson „große Veränderungen“ im Königreich an. Sie reichen von Investitionsprogrammen über Freihäfen bis zu Steuerentlastungen. Mit fast 60 Ländern hat London bereits Freihandelsabkommen geschlossen. Unter anderem mit Japan, Kanada, Korea, der Schweiz, Norwegen und Mexiko. Den USA biedert sich London gerade an, was auch ein Präsident Joe Biden nutzen wird, um Druck auf die EU und Deutschland auszuüben.

Gemessen an den Einsparungen und neuen Freiheiten ist der Preis, den London zahlt, relativ gering: ein bisschen mehr Bürokratie; vage Zusagen, sich an die EU-Regeln zu halten (wer will das kontrollieren?); und ein paar Fischereirechte, von denen vor allem Frankreich profitiert. Dieser sanfte Ausstieg dürfte zudem jenen Kräften in den Niederlanden und Dänemark Auftrieb geben, die ebenfalls mehr nationale Souveränität zurückgewinnen wollen und noch zu den letzten Nettozahlern zählen. Polen und Ungarn hält ohnehin lediglich das Brüsseler Milliarden-Füllhorn im EU-Verbund. Nur in Deutschland reckt man wacker die europäische Fahne hoch – und zahlt bereitwillig mit der Abgabe souveräner Rechte und vielen Steuermilliarden, von denen niemand so recht weiß, wohin sie versickern.

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