Vor dem EU-Gipfel - Europas Spiel mit dem Feuer

Eiszeit mit Russland, Eskalation mit China und Schulterschluss mit den USA: Die EU orientiert sich in der Außenpolitik neu. Doch was Diplomaten als „Wiedergeburt des Westens“ feiern, hat einen hohen Preis.

Charles Michel will die EU-Außenpolitik neu ausrichten / dpa
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Charles Michel ist ein ausgesprochen freundlicher und umgänglicher Mensch. Der Belgier mit dem runden Gesicht und der sympathischen Ausstrahlung behandelt seine Gesprächspartner mit Takt und Respekt. 
Seit Michel den Europäischen Rat in Brüssel leitet, ist ihm noch kein Fauxpas unterlaufen. Nie würde es ihm in den Sinn kommen, Russlands Präsidenten Wladimir Putin als „Killer“ zu bezeichnen oder ein böses Wort über den chinesischen Staatschef Xi Jinping zu verlieren.

Doch nun führt Michel die EU auf Konfrontationskurs. Beim Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag will der Gipfelchef über die Beziehungen zu Russland reden. Nach den Streitigkeiten der letzten Wochen deutet alles auf einen Abschied von der alten „strategischen Partnerschaft“ und den Einstieg in einen neuen Kalten Krieg hin. Michel selbst sprach von einem Tiefpunkt.

Nicht frei von Sanktionen 

Michel will sich dazu mit US-Präsident Joe Biden abstimmen, der als Überraschungsgast am Donnerstagabend dazugeschaltet wird (das Treffen findet nicht, wie ursprünglich geplant, „physisch“ statt, sondern wegen der ernsten Corona-Lage als Videokonferenz). „Zeit zur Wiederherstellung unserer transatlantischen Allianz“, twitterte Michel vor dem Gipfeltreffen. Man wolle mit Biden über die künftige Zusammenarbeit reden. Der Gipfel werde die „Wiedergeburt des Westens“ feiern, heißt es in EU-Kreisen.

Der Gipfel will das dunkle Kapitel Donald Trump hinter sich lassen – und mit Biden einen Neustart wagen. Kaum vorzustellen, dass dabei nicht auch ein (böses) Wort über Russland fällt. Zuletzt hatte Moskau die Beziehungen zu Brüssel für „zerstört“ erklärt, neue westliche Sanktionen liegen in der Luft.
Auch die Türkei steht auf der Tagesordnung. Biden hat sich wiederholt kritisch über den schwierigen Nato-Partner geäußert, die EU hingegen ist auf Schmusekurs. Kanzlerin Angela Merkel will sogar einen neuen, milliardenschweren Flüchtlingsdeal. Auch das könnte spannend werden.

Spiegelbildliche Strafen

Das wichtigste Thema könnte jedoch China werden. Zwar stehen die Beziehungen zum Reich der Mitte offiziell gar nicht auf der Tagesordnung. Doch nachdem die EU und die USA am Montag abgestimmte Sanktionen gegen China verhängt haben, hat das Thema eine beachtliche Eigendynamik entwickelt. Michel und Biden werden kaum umhin kommen, ihren Chinakurs abzustimmen.

Vordergründig geht es dabei „nur“ um Menschenrechte. Die EU begründete ihre Sanktionen gegen vier chinesische Regierungsbeamte mit der (seit Jahren bekannten) Unterdrückung der Uiguren in der Provinz Xinjiang. Sie hoffte, Peking mit einer Politik der symbolischen Nadelstiche zum Einlenken zu bewegen. 

Doch anders als Russland, das auf EU-Sanktionen mit „spiegelbildlichen“ – und gleichwertigen – Strafen reagiert, übt Peking massive Vergeltung. Nicht vier, sondern gleich zehn EU-Bürger wurden mit Gegensanktionen belegt – darunter die beiden deutschen Europaabgeordneten Reinhard Bütikofer (Grüne) und Michael Gahler (CDU). 

Die chinesische Regierung setzte außerdem vier europäische Institutionen auf ihre Sanktionsliste, darunter das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) des Europäischen Rats, das die Sanktionen vorbereitet hatte. Betroffen ist auch das Mercator Institute for China Studies in Berlin, eine der führenden Denkfabriken in Europa.

Alles nur ein Irrtum

Damit haben die EU-Strategen nicht gerechnet. Michel und EU-Außenvertreter Josep Borrell hatten zwar negative Reaktionen einkalkuliert. Doch in Brüssel glaubte man, dass es möglich sein müsse, Peking gleichzeitig als „Systemrivalen“ und als Handelspartner zu behandeln. Symbolische Sanktionen und glänzende Geschäfte  darauf würde die neue Linie der EU hinauslaufen.

Noch im Dezember hatten die Europäer – damals unter Merkels Vorsitz – ein lang ersehntes Investitionsabkommen mit China auf den Weg gebracht. Es soll europäischen Unternehmen und Investoren besseren Zugang zum chinesischen Markt gewähren und mehr Rechtssicherheit bringen. Die Menschenrechts-Sanktionen würden den Deal nicht gefährden, glaubte man in Brüssel.

Doch das war wohl ein Irrtum. Die chinesischen Vergeltungsschläge treffen nämlich auch das Investitionsabkommen – wenn auch indirekt, über das Europaparlament. Die EU-Abgeordneten sind nicht bereit, dieses Abkommen durchzuwinken, solange Peking seine Strafen aufrecht erhält. Die „soften“ EU-Sanktionen könnten so einen schweren wirtschaftlichen Kollateralschaden verursachen.

Besonderes Willkommensgeschenk

Die EU-Strategen haben sich verkalkuliert. Dabei ist Europa mehr denn je von China abhängig. Das Reich der Mitte ist zum wichtigsten Handelspartner für Deutschland aufgestiegen, sogar die wirtschaftliche Erholung nach der Coronakrise hängt von China ab. Wenn sich der Sanktionsstreit ausweitet und zu einem Handelskrieg entwickelt, wie die USA ihn führen, wird Europa der große Verlierer sein. 

Es ist ein Spiel mit dem Feuer. EU-Ratspräsident Michel wandelt auf einem schmalen Grat zwischen Appeasement, Business „as usual“ und Eskalation.

Für Michels „special guest“ Biden hingegen ist der Streit ein ganz besonderes Willkommensgeschenk. Schließlich standen die USA dem EU-China-Deal von vornherein ablehnend gegenüber. Der US-Präsident kann nun einen Erfolg feiern, ohne selbst einen Finger gekrümmt zu haben. Die Sanktionsspirale und die Negativ-Dynamik zwischen Brüssel und Peking spielen Washington in die Hände.

Gewinner und Verlierer

Als Verlierer stehen dagegen die Deutschen da. Sie könnten nicht nur „ihr“ Investitionsabkommen mit China verlieren. Mehr denn je steht auch die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 auf der Kippe. Bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel am Dienstag hat US-Außenminister Antony Blinken ein Ende des Projekts gefordert und mit neuen US-Sanktionen gedroht. Die Amerikaner strafen nicht nur ihre Gegner, sondern auch ihre Freunde.

Beim EU-Gipfel dürften diese Konflikte jedoch nicht offen angesprochen werden. Man werde den Schulterschluss mit Biden üben und nach vorne schauen, sagen EU-Diplomaten in Brüssel. Michel dürfte dabei routiniert in die Kamera lächeln und freundliche Worte in gebrochenem Englisch sagen – wie immer. Doch das außenpolitische Umfeld wird nicht mehr dasselbe sein. Die Zeichen stehen nicht mehr auf Kooperation, sondern auf Konfrontation.

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