EU-Gipfel - Kanzlerin gerettet, Sprengsatz nicht entschärft

Der EU-Gipfel wird Angela Merkel vorerst stärken. Doch von effektiver Handlungsfähigkeit in der Asylpolitik bleibt die EU weit entfernt. Eine Analyse der Ergebnisse von Brüssel

Der Erfolg von Angela Merkel, Alexis Tsipras und Pedro Sánchez hat Schattenseiten / picture alliance, Quelle: Bundesregierung
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Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Beim diesem heiklen EU-Gipfel ging es vorrangig nicht um die Reform des europäischen Asylsystems, sondern um die Rettung von Merkels Kanzlerschaft. Insofern war der Gipfel ein voller Erfolg, denn parallel zu den zaghaften Zusagen von zwei Mittelmeerstaaten, Spanien und Griechenland, schon registrierte Asylsuchende zurückzunehmen, versammelte sich die deutsche Wirtschaft demonstrativ hinter der Kanzlerin. Das war professionell und wirkungsmächtig orchestriert.

An der europäischen Asylpolitik ändert das Ergebnis des Gipfels allerdings nur sehr wenig. Der Sprengsatz, den dieser Politikbereich an die EU legt – das Handelsblatt titelte: „Scheitert Europa? Wie die Flüchtlingskrise zur Schicksalsfrage der EU wurde“ – hat kein Gramm an Sprengkraft verloren, nur das Zündholz ist wieder ein wenig weiter von der Zündschnur entfernt worden.

Angesichts der Lage, in welche die Regierungen in den vergangenen Jahren die Europäische Union manövriert haben, ist das viel. Es dokumentiert, dass schon die Bewahrung der handlungsarmen Zerstrittenheit als Erfolg gewertet werden muss. Von effektiver Handlungsfähigkeit ist die EU in der Flüchtlingspolitik, und nicht nur hier, aber weiterhin Lichtjahre entfernt.

Eine Rettung für die deutsche Union

Die vereinbarte Rücknahme der in dem Fingerabdruck-Identifizierungssystem Eurodac erfassten Schutzsuchenden nach Griechenland und Spanien wird es jedoch ermöglichen, zumindest eine Union zu retten. Nicht die Europäische, sondern die Fraktionsgemeinschaft der beiden Unionsparteien CDU und CSU in Deutschland. Dafür, so sagte die Bundesregierung zu, würden im Gegenzug Familienmitglieder aus diesen Staaten mit Familienmitgliedern, die sich schon in Deutschland befinden, zusammengeführt.

Wie viele dies sind, dazu gab es keine umfassenden Hinweise. Dass die Regierungen auf Symmetrie achten werden, kann man sich denken. Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras sagte der FAZ zufolge, dass es sich um 100 bis 150 Rückführungen pro Monat aus Deutschland handeln würde, im Gegenzug 950 Menschen aus Griechenland mit ihren Familien in Deutschland zusammengeführt würden.

Parallel dazu wurde vereinbart, dass Griechenland und Spanien sowohl finanziell, als auch hinsichtlich der Ausstattung mit Polizisten an der Grenze unterstützt werden sollen, im Falle „der fünf Ägäis-Inseln in Griechenland und zur Unterstützung Spaniens sind zügig positive Maßnahmen zu ergreifen.“

Die Form dieser raschen Unterstützung, so wird man sich das ausmalen können, wird über den Eifer mitentscheiden, die anderen Vereinbarungen umzusetzen. Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez wies schon darauf hin, dass die Kosten für die Rückführungen von Deutschland zu tragen seien und hierzu finanzielle Unterstützung zur Grenzüberwachung an Spanien versprochen sei.

Die italienische Frage bleibt offen

Die wichtigste Frage blieb hingegen unbeantwortet: Was geschieht mit den Flüchtlingen aus Italien, nachdem die neue italienische Regierung nur ein Ziel verfolgt, nämlich sie aus dem Land zu bringen? Möglicherweise wird erneut die österreichische Regierung die Maßnahmen ergreifen müssen, die der Bundesregierung den Rücken freihalten. Denn es ist nicht auszuschließen, dass der italienische Eifer zur Registrierung von Schutzsuchenden erlahmt. Ebenso wenig wird man Migranten an der Weiterreise in den Norden hindern.

Dass die EU-Staaten zudem die Frontex-Agentur, zuständig für den europäischen Grenz- und Küstenschutz, stärken wollen, ist ein schon mehrfach geäußertes Ziel. Bisher blieben die entsprechenden Beschlüsse ohne erkennbare Wirkung. Jetzt soll es bis 2020 mit verstärkter Kraft vorangehen. Wie in vielen anderen Bereichen auch, wird diese Übereinkunft derzeit öffentlich nicht mit Zahlen unterlegt. Wie viel Personal ist wirklich erforderlich? Reicht die genannte Aufstockung auf 10.000 Mitarbeiter aus? Wie werden die Sicherheitskräfte in 18 Monaten einsetzbar sein? Welche Ausrüstung ist notwendig? Und vor allem: Was kostet das? So konkret wird keiner werden wollen, der wiedergewählt werden will.

Asylzentren in Nordafrika ohne Zusage

Die Staats- und Regierungschefs haben zudem die EU-Kommission aufgefordert, rasch zu prüfen, wo Asylzentren außerhalb der EU in Nordafrika errichtet werden können. Fast alle betroffenen Staaten lehnen dies aber ab, nicht zuletzt deshalb, weil sie befürchten, als Zielland für Migranten noch attraktiver zu werden, sollten solche Zentren auf ihrem Territorium errichtet werden.

Möglicherweise wird man in einigen Fällen – in Niger oder Libyen – mit erheblichen finanziellen Mitteln etwas ausrichten können. Aber es bleibt angesichts des wirtschaftlichen und demographischen Drucks in vielen afrikanischen Ländern eine Illusion, der Herausforderung auf diesem Weg effektiv begegnen zu können. Zumal Marokko, Algerien und Ägypten sich dieser Idee wohl auch weiterhin verschließen werden.

Der französische Präsident Emmanuel Macron und Spaniens Premierminister Pedro Sánchez hatten vor einigen Tagen angesichts der Krisen um Flüchtlingsboote privater Hilfsorganisationen auf offener See gemeinsam Aufnahmezentren für Bootsflüchtlinge innerhalb der EU gefordert. Dem ist der Gipfel gefolgt und hat beschlossen, dass geschlossene Aufnahmezentren errichtet werden können, allerdings – und mag letztlich entscheidend sein – auf freiwilliger Basis.

Abschied von Solidarität zwischen den EU-Staaten

Geschlossene Lager werden in europäischen Staaten sicher heftige politische Debatten auslösen. Es wird nicht lange dauern, bis sich Europarechtler zu Wort melden. Von dort aus sollen die Schutzsuchenden auf die EU-Staaten verteilt werden. Allerdings nur auf diejenigen, die sie freiwillig aufnehmen. Damit ist ein prinzipielles Ziel aufgeweicht worden, das die Bundesregierung bisher betont hat: dass es nämlich verbindliche, der gegenseitigen Solidarität in der EU entsprechende Quoten geben soll.

Aber diese Initiative wurde von so vielen Staaten in der EU abgelehnt, dass sie sowieso von Beginn an tot war. Die Visegrád-Staaten (Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei) haben sich damit fürs erste durchgesetzt. Hinter den Verabredungen des Gipfels wird versteckt, dass die Bundesregierung von diesem Prinzip abgerückt ist.

Etwas verwundert soll der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte angesichts dieser Ergebnisse gefragt haben, was eine Einigung bei so viel Freiwilligkeit eigentlich wert sei. Das werden die nächsten Wochen und Monate zeigen.

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