Deutsch-französisches Debakel - Das Versagen der Energiepolitik in Europa

Die Europäer wollen bis 2050 klimaneutral sein, aber ein gemeinsamer Kurs fehlt. Joachim Bitterlich, ehemaliger außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, warnt in einem Gastbeitrag vor einem energiepolitischen Auseinanderdriften von Deutschland und Frankreich.

Kernkraftwerk von Cattenom. Im Gegensatz zu Deutschland setzt Frankreich verstärkt auf Kernenergie / picture alliance, Silke Rottleb
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Autoreninfo

Joachim Bitterlich, Botschafter a.D., ist ehemaliger europa-, außen- und sicherheitspolitischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, und Honorarprofessor an der ESCP Paris. Er war über ein Jahrzehnt für den französischen Umwelt-Dienstleister Veolia tätig und acht Jahre Mitglied des Aufsichtsrates von EnBW

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Wir Europäer haben uns das gemeinsame Ziel der Klima-Neutralität bis 2050 gesetzt, scheinen aber nicht zu merken, dass wir dank unzureichender, ja falscher Rezepte zugleich unsere Wirtschaft an die Wand fahren. Das gilt vor allem für Deutschland dank grünen doktrinären Schlafwandelns. Aber das Versagen der Politik ist beim Nachbarn Frankreich nicht minder groß. Mir schwant Unheil vor allem für das nächste Jahrzehnt. Wenn es so weiter geht, laufen wir Risiko, nicht genug Strom für die Elektrifizierung unserer Wirtschaft zu haben. Deutschland und Frankreich scheinen ohnmächtig hinter der Zeit her zu rennen.

Letzte Woche ergriff mich die kalte Wut, als ich las, dass ein hoffnungsvolles deutsches Start-up, Marvel, das unsere Energieversorgung längerfristig mitsichern könnte, in die USA abwandern muss. Das Unternehmen suchte vergeblich für sein Demonstrationsprojekt der Kernfusion via Laser in Deutschland und Frankreich einen Standort und 150 Millionen Euro Risikokapital.

Wieder ein Beispiel für unsere Ohnmacht in der „disruptiven“ Risiko-Forschung im Vergleich zu den USA! Seit Jahren bemühen wir uns im Rahmen der J.E.D.I.-Initiative vergeblich, das europäische Ruder herumzureißen; warum sollten wir die erfolgreichen US-Verfahren der Darpa nicht in Europa einführen? Und: Wäre doch der Erfolg dieser Technologie zumindest für einen Teil der Grünen nicht vielleicht ein Weg, ihre Offenheit für Technologie zu unterstreichen?

Eine neue Abhängigkeit

Deutschland scheint ein Brett vor dem Kopf zu haben. Die Grünen leiteten 1999 unter Trittin und Höhn mit schweigender Billigung aller anderen Parteien das Ende der Kernenergie ein. Sie schützten zugleich die Kohle aus Angst vor dem Machtverlust in NRW und suchen jetzt krampfhaft den Ausstieg – mit Hilfe einer neuen Abhängigkeit vom Gas, diesmal nicht von Russland, sondern aus den USA und vom Golf.

 

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Wäre es denn schon damals nicht leichter und logischer gewesen, mit dem Kohleausstieg zu beginnen, die neuesten Kernreaktoren als Rückgrat der Energieversorgung am Netz zu halten und langfristig auf die Kernfusion zu setzen? Wäre es schon damals nicht zudem logischer gewesen, in der dezentralen Versorgung ergänzend im Sinne von Mitverantwortung zum Beispiel auf Müllverbrennungsanlagen in der Nähe von Städten über 100.000 Einwohner zu setzen? Auf gut Deutsch: flexibel und offen auf alle möglichen Mittel zur langfristigen Klima-Neutralität zu setzen. 

Zerstörung der deutschen Automobilindustrie

Erschwerend kommt die schleichende Zerstörung der deutschen Automobilindustrie mit dem gravierenden Irrtum des Endes des Verbrennungsmotors 2035 hinzu. Unsere chinesischen Freunde fragen sich bis heute, was hinter diesem, auch aus ihrer Sicht, gravierenden Irrtum der Europäer steckt. Ein dem chinesischen Staatsrat eng verbundener Freund fragte mich offen:

Warum gebt ihr Europäer euren einzigen Wettbewerbsvorteil so einfach auf? – Batterien können wir längst besser und Elektromotoren können wir alle. In spätestens zehn Jahren werden wir, wie einst die Japaner und Koreaner, den europäischen Markt mit weitaus billigeren Elektro-Fahrzeugen übernehmen!

Ich fragte ihn, was Beijing denn von uns erwartet hätte? Die Antwort lautete: bis 2030 den relativ sauberen Verbrennungsmotor mit einem Verbrauch von 3 ltr/100 km! Warum hat die Wirtschaft der deutschen und europäischen in Wahrheit blinden Politik ohnmächtig zugeschaut?

Angesteckt von blindwütigem Eifer

Frankreich geht es in Wahrheit nicht besser als uns Deutschen. Paris, Regierung und die Strom-Monopolisten EDF wie AREVA haben es in zehn Jahren geschafft, die französische Nuklearindustrie zu zerstören. Angesteckt vom blindwütigen Eifer der deutschen Grünen, hatte man sich an die Reduzierung der Kernenergie gemacht. Frankreich sucht jetzt fast verzweifelt den Wiederaufbau dieses einstigen Stolzes der Grande Nation. Schon heute sind sie für Reparaturarbeiten an den Meilern auf technische Hilfe aus dem Ausland angewiesen.

Die Franzosen werden größte Schwierigkeiten haben, rechtzeitig in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren die notwendigen neuen und zusätzlichen Kernkraftwerke zu bauen und ans Netz zu bringen. Der gleiche chinesische Freund meinte trocken:

Die Franzosen haben uns erfolgreich gezeigt, wie man moderne Reaktoren baut, wir sind jetzt gern bereit, diese schlüssel-fertig auch in Frankreich zu bauen!

Sinnloser Kleinkrieg auf europäischer Ebene

Deutschland und Frankreich haben in den vergangenen Jahren, jeder für sich verbohrt, zu viele Fehler gemacht, anstatt eine langfristige, offene Strategie zu entwickeln. Statt zu hoher und letztlich nicht kontrollierbarer Risiken, bleibt rational nur die Möglichkeit, den sinnlosen Kleinkrieg auf europäischer Ebene endlich zu beenden und einen gemeinsamen Neuanfang ohne ideologische Scheuklappen zu suchen!

Beide wie auch Europa insgesamt brauchen diesen historischen Kompromiss, um den Übergang und unsere Wirtschaft zu retten. Beide müssen ihre unterschiedlichen Präferenzen nicht nur tolerieren, sondern gemeinsam alle sinnvollen Ansätze zur Sicherung der Energieversorgung (unserer Wirtschaft wie der Bevölkerung) unterstützen – und zugleich darauf setzen, ein echtes europäisches Stromnetz auf den Weg zu bringen, das den Stromaustausch „in der Sekunde“ zum sofortigen Ausgleich von Problemen und Schwächen erlaubt und uns zudem 10 Prozent Energie sparen könnte.

 

Lamia Messari-Becker im Gespräch mit Daniel Gräber
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