Emmanuel Macron - Vom Leitstern zur Sternschnuppe

Emmanuel Macron galt als Hoffnungsträger Europas. Jetzt droht der französische Präsident mit seinem politischen Projekt zu scheitern. Eine Chance aber bleibt ihm noch

Emmanuel Macron kommt in der französischen Realität an / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Stefan Brändle ist Frankreich-Korrespondent mit Sitz in Paris. Er berichtet regelmäßig für Cicero.

So erreichen Sie Stefan Brändle:

Anzeige

Emmanuel Macrons Aufstieg mutete märchenhaft an. Dem charmanten, wohlhabenden und intelligenten Mann wollte einfach alles gelingen. Schon als Jugendlicher hatte er nach Höherem gestrebt, mit 16 erklärt, er werde seine Theaterlehrerin heiraten. Was er dann auch tat. Seine Vorhersage, er werde einmal Staatspräsident seines Landes werden, hielt er ebenfalls. Das Glück ließ ihn nie im Stich: Wie durch ein Wunder schalteten sich seine Widersacher, ob nun Alain Juppé, François Fillon oder François Hollande, eigenhändig aus. Und als zum Schluss nur noch die böse Hexe Marine Le Pen übrig blieb, flogen die Herzen dem wackeren Mann scheinbar fast von selbst zu.

Dieses Märchen konnte weiter gehen, als Emmanuel Macron bereits König in seinem Schloss, dem Elysée-Palast war. Mit flammenden Europareden in Athen und an der Pariser Sorbonne-Universität wurde der Staatschef gerade jenseits der Landesgrenzen und insbesondere in Deutschland zum Heilsbringer des Kontinentes verklärt. Der neue Fixstern am europäischen Himmel verkündete eine „kopernikanische Revolution“, deutsche Medien entdeckten einen „Visionär“. In Frankreich hingegen herrschte weniger Euphorie. Aber man ließ den gewählten Präsidenten zunächst gewähren, als er die angekündigten Reformen – zuerst des Arbeitsmarktes, dann des hoch symbolischen Eisenbahnerstatuts – souverän durchzog.

Frühe verbale Ausrutscher

Schon in jenem Sommer 2017 gab es aber, wenn man genau hinhörte, verstörende Signale. Der linke Abgeordnete François Ruffin, ein rauer Rebell, ein Robespierre der neuen Zeit, schrieb in einer Kolumne: „Sie sind verhasst, verhasst und nochmals verhasst – bei den Rechtlosen, den Vergessenen, den Leuten ohne Rang.“ Macron hörte darüber hinweg. Lieber theoretisierte er über die „Vertikalität“ des Staatsaufbaus, natürlich mit ihm zuoberst. Ab und zu begab er sich unter das Volk, zum Beispiel in einen Bahnhof, „wo man Leute kreuzt, die Erfolg haben, und andere, die nichts sind“. Er hatte nicht gesagt: die nichts haben, sondern: die nichts sind.
 
Der Satz war Macron rausgerutscht, so wie er auch schon Schlachthofarbeiterinnen als „Analphabetinnen“ bedauert hatte. Die Franzosen dachten sich ihren Teil, sagten aber nichts. Schließlich wollten sie, dass ihr Präsident verwirklichen konnte, was er versprochen hatte: mit dem alten Frankreich aufräumen, eine neue Epoche jenseits der alten Rechts-Links-Querelen einweihen. Macron hatte Mut, er hatte Schneid, und er tat Gutes: Zum Beispiel verkleinerte er die Zahl der Schüler in jenen Vorstadtklassen, wo blutjunge Banlieue-Bewohner rasch einmal auf die schiefe Dschihadisten-Bahn geraten, wenn sich ihnen keiner annimmt.

Der Schlossherr hatte anderes zu tun

Gewiss, als Macron die Vermögenssteuer auf den Immobilienbesitz reduzierte, schluckten viele Citoyens. Doch Macron erklärte ihnen, das geschehe, um die Leute mit Geld im Land zu behalten und mit ihren Investitionen Jobs zu schaffen. Einige seiner Berater fragten ihn, ob man im Gegenzug nicht auch den Geringverdienern ein Steuergeschenk machen müsse – vor allem auch, weil im Land nun Rufe erschallten, Macron sei der „Präsident der Reichen“.

Der Schlossherr hatte anderes zu tun. Er konzentrierte sich auf den Handshake mit Donald Trump, beeindruckte Wladimir Putin im Spiegelsaal von Versailles, bemühte sich um Angela Merkel und ihre Antwort zu seinen Europa-Ideen. Die Affäre um seinen Leibwächter Alexandre Benalla unterschätzte er, weil er die politische Sprengwirkung der Konstellation – hier die Pariser Privilegienreiter, dort die fernen Provinzproleten – in seinem Palast missachtete. Ab und an äußerte er sich aus der Distanz noch über seine Landsleute; den Dänen erzählte er etwa von den „widerspenstigen Galliern“. Wieder zu Hause, bedeutete er denselben, sie sollten sich „weniger beklagen“; denn in Frankreich brauche man, wie er ein andermal tönte, „nur über die Straße zu gehen, um einen Job zu finden“. Drei Millionen Arbeitslose, die vom Existenzminimum leben, dankten für die Aufklärung.

Warnwesten als letzter Warnschuss

Die anderen Franzosen, die, die hart arbeiten, aber am Ende des Monat trotzdem vor einem leeren Konto stehen, stieß Macron dann mit seiner Benzinsteuererhöhung vor den Kopf. Die Steuer, begründet unter anderem mit Umweltschutz, wird jedoch nicht zweckgebunden verwendet und ist insofern wiederum auch schlecht mit Umweltschutz begründbar. Dieses Kernfrankreich, bestehend aus Globalisierungsverlierern an den Stadträndern und der tiefen Landesprovinz, holte die Warnwesten aus ihren Autos und schreit nun im Chor das, was Ruffin schon im Sommer 2017 geschrieben hatte: Macron, wir haben genug von den Steuern, genug von dir!

Einmal, auf dem Höhepunkt der Benalla-Affäre im Sommer 2018, erklärte der Präsident seinen Citoyens: „Sollen sie mich doch holen kommen!“ Jetzt sind sie gekommen. Vergangene Woche musste Macron 89.000 Polizisten im Land aufbieten, 8000 allein in Paris, damit sie ihn nicht im Elysée holen konnten, wo er sich mit ein paar Getreuen verschanzt hielt. Einer der wenigen Parteigänger, die ihm noch die Wahrheit zu sagen wagen, bedeutete ihm ohne Umstände: „Sie wollen Ihren Kopf auf der Lanze sehen.“

Erst jetzt schien bei Macron der Groschen zu fallen. Einen Tag später trat er vor die TV-Kameras und verschenkte mit samtweicher Stimme Sozialmaßnahmen im Wert von mehr als zehn Milliarden Euro. Das Volk zu beschwichtigen, die Revolte zu ersticken, die ihn auf dem falschen Fuß erwischt hat. Aber es ist zu spät. Die Franzosen, die sich insgeheim nichts so sehnlich wünschen wie einen „homme de providence“, einen Mann der Vorsehung à la Ludwig XIV., Napoleon oder de Gaulle – sie träumen wieder von Königsmord. „Macron, schau auf deine Rolex – es ist Zeit zu gehen“, hatte auf den Champs-Elysées einer auf den Rücken seiner gelbe Weste geschrieben. Und das ist noch einer der freundlichen Sprüche, die Macron als Emmanuel I. karikieren, und Brigitte als Marie-Antoinette.

Unpopulärer als Sarkozy und Hollande

Die Wut der Franzosen auf Macron ist eine Mischung persönlicher, sozialer und politischer Aversionen. Alles wendet sich nun gegen den Präsidenten. Gegen seinen Dünkel, den der Pariser Eliten, denen er seit dem Besuch des Nobel-Gymnasium Henri-Quatre angehört, gegen den Abbau der Vermögenssteuer. Er büßt auch für die Versäumnisse anderer: Auf einem Verkehrskreisel in Orléans sagte eine „gilet jaune“, sie rebelliere gegen „dreißig, vierzig Jahre verfehlter Politik“. So lange steigt die Arbeitslosigkeit schon. So lange hat Frankreich kein ausgeglichenes Haushaltbudget mehr zustande gebracht, obwohl die Steuern und Abgaben mittlerweile 46 Prozent des Bruttosozialproduktes erreichen – europäischer Rekord.

Und das Volk, es soll dazu nichts sagen. Es bekommt nur die Folgen zu spüren: Seine Kaufkraft stagniert, und zugleich steigen die Steuern, sodass den wackeren Kleinbürgern unterm Strich immer weniger bleibt. Dabei hat sich Macron mit acht neuen Steuern und Abgaben im Vergleich zu seinen Vorgängern noch zurückgehalten. Dennoch ist er unpopulärer als Nicolas Sarkozy und François Hollande – und das will etwas heißen.

Hau-ab-Rufe vor den Europawahlen

Nach dem Hochmut der Fall: Macrons himmelhoher Politanspruch weit über den Parteien schrumpft nun zum bloßen Kampf um das eigene Überleben. Er, der im Präsidentschaftswahlkampf selber davon profitiert hatte, dass die Franzosen alle Rechts- und Linkspolitiker auf den Mond wünschten, wird nun selber von dieser „Hau ab“-Welle (auf Französisch: „dégagisme“) eingeholt.

Der Glückspilz wird zum Pechvogel. Macrons ehrgeizige Europa-Pläne prallen an Vorgängen außerhalb Frankreichs ab: In Deutschland zieht Angela Merkel nicht mit, und in Italien ist Macron statt des erhofften Alliierten ein neuer Gegner in der Person von Matteo Salvini erwachsen. Bei den Europawahlen von 2019 wollte der 40-jährige Franzose einen dritten Mitteblock zwischen Konservativen und Sozialisten zimmern. Aber auch bei den Liberalen, wie der deutschen FDP, stößt er auf heftigen inhaltichen Widerspruch, obwohl er sich mit Ihnen für die Europawahlen nun verbündet hat. Es könnte eine Schicksalsgemeinschaft werden, die sich beide Seiten ganz anders vorgestellt hatten.

Wirtschaftliche Probleme nehmen zu

Langsam lahmt auch Frankreichs Konjunktur, die nach Macrons Wahlsieg vor anderthalb Jahren noch von der guten ökonomischen Weltlage profitiert hatte. Die Bilder von Chaos und Gewalt zerstören die Anstrengungen des Präsidenten, Frankreich als modernen, attraktiven Standort zu präsentieren. „France is back“, hatte er noch anfang des Jahres in Davos deklamiert – angesichts der Gelbwestenproteste sagen nun sogar Touristen ihre Frankreichreisen ab.

Die Investoren haben sich vom Abbau der Vermögenssteuer bisher auch nicht bezirzen lassen. Dafür ist der Präsident nun als „neoliberal“ verschrien. Dabei trifft das nicht einmal zu: Macron verhält sich in vielem konservativ und tritt für einen starken Staat ein. Dessen Ausgaben hat er in seinen ersten Haushalt trotz anderslautender Wahlversprechen sogar noch erhöht. Das war, noch bevor er den Gelbwesten Geldgeschenke von mehr als zehn Milliarden Euro machte. So handelt schon Jacques Chirac vor zwanzig Jahren.

Macron braucht sein Volk mehr denn je

Den Ruf eines Erneuerers hat Macron damit weitgehend eingebüßt. Aber ist er auch politisch bereits erledigt, obwohl er noch bis 2022 gewählt ist? Die Stellung des französischen Präsidenten ist zwar verfassungsmäßig beinahe unanfechtbar. Aber ohne das Volk kann Macron nicht regieren, noch weniger reformieren: Politisch isoliert zwischen den Blöcken, ohne Rückhalt durch seine ebenso unerfahrene Partei „La République en marche“ (LRM), ist Macron sogar mehr denn je auf diese Volksgunst angewiesen, die er nie in vollem Umfang hatte, und die nun auch bei den eigenen Anhängern verliert.

Seine am schwierigsten durchzusetzende Reform, die der so unterschiedlichen Rentensysteme, von denen viele Franzosen profitieren, steht ihm noch bevor. Er hatte sie für Anfang 2019 angekündigt. Derzeit kann er aber nicht einmal daran denken, die Vorlage zu präsentieren. Selbst populäre Vorhaben wie die Reduktion der Zahl der Abgeordneten (von 577 auf 404) musste er bereits mehrfach aufschieben.

Hoffen auf die Schnelllebigkeit

Macron hat noch mehr als drei Jahre vor sich im Elysée-Palast. Die französische politische Stimmung ist wankelmütig, heute zudem extrem schnelllebig. Einer geschickten Hand ist es möglich, die Stimmung in Frankreich zu wenden, die Franzosen auf die eigene Seite bringen. Dazu muss sich Macron aber zuerst selber läutern. Er muss vom hohen Ross steigen und den Franzosen den Sinn seiner Politik nahebringen. Wenn er es schafft, seinen fast autistisch anmutenden Starrsinn in eine politische Hartnäckigkeit zu verwandeln, ohne die Leute vor den Kopf zu stoßen, kann er auf Reformkurs bleiben.

Vielleicht ist das zu optimistisch. Aber Macron hat gar keine Wahl. Sonst kann der erklärte Reformer gleich zum Daumendrehen übergehen. Und zusehen, wie er, der angebliche Leitstern am europäischen Himmel, als bloße Sternschnuppe verglüht.

Anzeige