Die neue Kirchenspaltung - Orthodoxes Ostern in Zeiten des Krieges

Ostern ist der höchste Feiertag der orthodoxen Christenheit. Allerdings ist das orthodoxe Christentum infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine so gespalten wie nie. Davon legen die Osteransprachen der jeweiligen Kirchenoberhäupter Zeugnis ab.

Bartholomaios I. unterzeichnet im Januar 2019 den Tomos zur Eigenständigkeit der ukrainisch-orthodoxen Kirche / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Heute wird in der orthodoxen Christenheit der Ostermontag begangen. Ostern ist das wichtigste Fest der orthodoxen Christenheit, weil in ihm der Sieg des ewigen Lebens über den Tod gefeiert wird. 

Metropolit Onufrij, das Oberhaupt der ukrainisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats, bringt die Bedeutung des orthodoxen Osterfests in seiner Ansprache folgendermaßen auf den Punkt: „Die glorreiche Auferstehung Christi ist das Fest des Triumphs des Guten über das Böse, der Gerechtigkeit (Pravda) über die Ungerechtigkeit (Nepravda), des Lichts über die Finsternis. Die Auferstehung ist das ewige Osterfest, in dem Christus, unser Herr und Erlöser, uns vom Tod zum Leben, von der Hölle zum Himmel geführt hat.“

Kurz vor dem Osterfest hatte Onufrij dafür plädiert, unter dem Schutz der Kirche die Toten und Verletzten aus Mariupol zu evakuieren. Er trat für eine Waffenruhe ein, allerdings ohne Erfolg.

Gottesknecht und Pantokrator

Im orthodoxen Osterfest kommen zwei verschiedene Christusgestalten zusammen. In der Karwoche erscheint Jesus zunächst als „Gottesknecht“, der um der Menschen willen das Leid der Welt auf sich nimmt und im Akt der Selbstentäußerung („Kenosis“) in die Niederungen ihres Lebens herabsteigt. Der auferstandene Jesus Christus wird dagegen traditionell als „Pantokrator“ dargestellt – das ist Griechisch für „Allherrscher“. Damit verkörpert er grenzenlose Macht.

Wie Emanuel Sarkisyanz seinerzeit in seinem Buch „Russland und der Messianismus des Orients“ schlüssig skizziert hat, legitimieren die Zaren seit jeher ihre Herrschaft durch das Bild des allmächtigen Pantokrator. Die Vorstellung von Jesus als leidendem Gottesknecht blieb indes eher in der Volksfrömmigkeit dominant. Und sie fand genauso ihre Ausprägung in den Werken der russischen Literatur, die aus diesem Fundus des Leidenscharismas schöpfte. So dichtete Boris Pasternak seinerzeit zum Karsamstag: Sie singen bis zum Morgenlicht, / im Schmerz sie ihre Häupter senken, / und manche Stimme traurig bricht, / wenn man den Psalter leise spricht, / um Gottes Leiden zu gedenken.

Beide Christusvorstellungen beziehen sich also in ihrem Innersten auf das Erlösungsdrama Jesu – sie sind damit aufs Engste mit dem Osterfest verbunden. Und beide Symbole finden sich in den Ansprachen der verschiedenen Kirchen zum aktuellen Krieg in der Ukraine.

Moskau versus Konstantinopel

Die Rolle des „Martyriums“ der Ukraine betont insbesondere Bartholomaios I., der Patriarch von Konstantinopel: „Wir leiden mit dem frommen, mutigen ukrainischen Volk, das ein schweres Kreuz trägt“, so der Geistliche in seiner Osterbotschaft. Seine Stimme hat Gewicht: Denn bis zum Fall von Byzanz im Jahr 1453 befand sich das Zentrum des orthodoxen Christentums im heutigen Istanbul. Noch heute ist Bartholomaios das Ehrenoberhaupt aller orthodoxen Kirchen.

Dagegen findet sich das machtzentrierte „Pantokrator“-Bild eher in der Rhetorik des Moskauer Patriarchen Kyrill I. Der frühere KGB-Offizier spricht von ominösen „dunklen Kräften“, die die Einheit Russlands, Belarus’ und der Ukraine zerstören wollten – und er segnet die russischen Streitkräfte für ihren Kampfeinsatz in der Ukraine. Die vorgeschobene Situation der vorwiegend russischsprachigen Bevölkerung im Donbass dient hier eher einer Rhetorik, die auf Sieg und Triumph zielt. In seiner Osterbotschaft hat er sich allerdings nicht zum Krieg geäußert: Wer sie liest, hat den Eindruck, dass sie auch aus einem beliebigen anderen Jahr stammen könnte.

Denn Skandale gab es schon genug. So etwa als Kyrill eine verwegene Behauptung aufgestellt hatte: Weil die Menschen im Donbass derart rechtgläubig seien, dass sie keine „Gay Parades“ in ihrem Land dulden würden, habe der dekadente Westen diesen Krieg vom Zaun gebrochen, so der Moskauer Patriarch. In diesem „metaphysischen Kampf“ würde aber Moskau siegreich sein, so Kyrill weiter. Damit bleibt der Moskauer Patriarch seiner traditionellen Rolle treu – er war und ist ein Diener der Macht.

Moskau als „Drittes Rom“

Moskau behauptet seit dem 16. Jahrhundert, das „Dritte Rom“ zu sein. Es habe die Rolle des Zentrums des Christentums vom „Ersten Rom“ (in dem Petrus gekreuzigt wurde) und vom „Zweiten Rom“ (des gefallenen Konstantinopel) geerbt, schrieb seinerzeit der Mönch Filofej. Damit ist ein politisches Sendungsbewusstsein verbunden: Russland wird als dasjenige Volk angesehen, das dazu erwählt sei, durch ein religiöses Leben die orthodoxe Christenheit spirituell anzuführen. Das einzig rechtgläubige „Dritte Rom“ sei damit das letzte weltliche Reich vor der Wiederkunft Christi.

Diese Lehre vom geistlichen Exzeptionalismus der russisch-orthodoxen Kirche musste sich aber in dem Maße verwässern, in dem das Moskauer Patriarchat die griechisch-orthodoxe Kirche immer stärker an sich band und auch ihren eigenen Ritus an den griechischen anpasste. Schon Mitte des 17. Jahrhunderts war die Liturgie der russisch-orthodoxen Kirche von derjenigen der griechisch-orthodoxen Kirche kaum mehr zu unterscheiden. 

Der Preis für die „Einheit der Orthodoxie“ war damit die Aufgabe des eigenen Exzeptionalismus. Und das sorgte für enorme Verwerfungen: Ein großer Teil der russischen Bevölkerung lehnte die Reformen des Patriarchen Nikon ab. Noch heute weigern sich die russisch-orthodoxen „Altgläubigen“, die Kirchenreformen des 17. Jahrhunderts anzunehmen. Früher wurden sie zu Millionen verfolgt und ins Exil nach Sibirien oder Fernost getrieben. Inzwischen haben sich aber die „popentreuen“ Altgläubigen wieder mit der offiziellen russisch-orthodoxen Kirche uniert und gelten als Stolz der Nation. Es war deshalb ein geschichtsträchtiger Moment, als Putin im Jahr 2017 die Metropolie der Altgläubigen in Moskau besucht hatte – ein Schritt, den kein modernes russisches Staatsoberhaupt vor ihm gegangen war.

Damit kehrt die Lehre vom „Dritten Rom“ wieder nach Russland zurück, diesmal aber mit militärischen statt mit spirituellen Mitteln. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sich die ukrainisch-orthodoxe Kirche zunehmend von Moskau entfernt hat – und sich ebenfalls auf eine lange vergessen geglaubte Tradition kirchlicher Eigenständigkeit zurückbesinnt.

Demokratische Kirchentraditionen in der Ukraine

Tatsächlich ist die ukrainisch-orthodoxe Kirche erst seit 1686 Moskau formell unterstellt. Zuvor hatte das ukrainische Kosaken-Hetmanat seine Unabhängigkeit aufgegeben und sich Moskau unterworfen. Erst im 18. Jahrhundert war die Eingliederung der Ukraine ins Russische Reich weitgehend abgeschlossen – und das hatte beispielsweise zur Folge, dass die Ukrainer ihre Priester nicht mehr frei wählen konnten. Fortan wurden sie in Moskau ernannt und die Kirche wurde zentralisiert. Die ukrainische Enzyklopädie der Universität Toronto fasst diesen historischen Sachverhalt wie folgt zusammen:

Ein wichtiges Merkmal des klerikalen Lebens unter der Kosakenherrschaft war die Wahl von Weltgeistlichen in die niederen kirchlichen Ämter, die zuvor vererbt wurden. Eine Reihe von Verträgen zwischen Priestern und Gemeindemitgliedern zeugt von einer gewissen Abhängigkeit des Klerus von der Gemeinde. Der ukrainische Klerus in der Kosakenzeit war kein geschlossener Stand … : Kosakenoffiziere, einfache Kosaken, Bürger und Bauern traten in den Klerus ein, wobei das Priesteramt in bestimmten Familien Tradition blieb. …  Der Klerus spielte im Hetmanat des 17. und 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle im politischen und kulturellen Leben der Nation. Im 17. Jahrhundert brachte der ukrainisch-orthodoxe Klerus viele Gelehrte, Schriftsteller und Vertreter des kulturellen Lebens hervor. Die Unterordnung der ukrainisch-orthodoxen Kirche unter das Moskauer Patriarchat im Jahr 1686 schwächte die Rolle und Bedeutung des ukrainischen Klerus.

Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die rechtliche Stellung des ukrainischen Klerus gegenüber der des russischen Klerus unter dem Hetmanat erheblich eingeschränkt. Dem weltlichen Klerus wurden verschiedene Steuern auferlegt, die Vorrechte der kirchlichen Gerichte wurden eingeschränkt, der Brauch der Priesterwahl durch die Kirchengemeinde wurde abgeschafft, der Priesterstand wurde stärker vom Erbadel abhängig und so weiter. Gleichzeitig versuchten die russische Regierung und der Heilige Synod der russischen Kirche, den ukrainischen Klerus zu russifizieren, aber sie hatten mehr Erfolg bei den höheren Geistlichen als bei den niederen. Letztere blieben bis weit ins 19. Jahrhundert hinein im Großen und Ganzen ukrainisch. 

Die neue Kirchenspaltung

2019 hatte sich die ukrainisch-orthodoxe Kirche Kiewer Patriarchats infolge des Konflikts im Donbass von der ukrainisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats offiziell abgespalten. Das geschah mit dem Segen des Konstantinopeler Patriarchen Bartholomaios, der den Tomos zur Eigenständigkeit der ukrainisch-orthodoxen Kirche unterzeichnet hatte. Seither stehen sich der moskautreue Metropolit Onufrij und sein byzanztreuer Konkurrent Epifanij unversöhnlich gegenüber. 

Innerhalb der orthodoxen Kirchen in der Ukraine ist die Spaltung weitreichend. Während Metropolit Epifanij die Autonomie der ukrainisch-orthodoxen Kirche aus der Taufe der Kiewer Rus im Jahr 988 herleitet, betont Metropolit Onufrij eben daraus die Bindung an Moskau: Schließlich seien sowohl das ukrainische als auch das russische Volk aus dem gleichen Taufbecken hervorgegangen.

Es ist gleichwohl bemerkenswert, dass sich sowohl Onufrij als auch Epifanij gegen den russischen Angriffskrieg stellen – wenngleich Epifanijs Forderungen weitaus militanter und unversöhnlicher klingen als die seines moskautreuen Amtskollegen, der vielen russisch-orthodoxen Gläubigen inzwischen als „Verräter“ gilt. Seit Kriegsausbruch sind über 100 ukrainische Gemeinden und Klöster unter die Obhut Epifanijs gewechselt. Und auch Onufrij kommemoriert in seinen Gebeten den Patriarchen Kyrill nur noch als „Patriarchen“, nicht mehr als „hochwürdigsten Herrn und Vater“.

Die Beziehungen zwischen der russisch-orthodoxen und der griechisch-orthodoxen Kirche sind deshalb an einem historischen Tiefpunkt angelangt. Das Moskauer Patriarchat hat schlichtweg alle Beziehungen zu Konstantinopel einseitig abgebrochen, seit es die „Autokephalie“, d.h. kirchliche Eigenständigkeit der ukrainisch-orthodoxen Kirche anerkannt hat. Es würde Schismatiker unterstützen, so der Vorwurf aus Moskau.

In russisch-orthodoxen Kirchen wird deshalb nicht mehr für das Wohlergehen des Patriarchen von Konstantinopel gebetet. Und Russland versucht, in Afrika eigene Diözesen zu gründen, weil die Kirchen von Alexandria, Griechenland und Zypern der Entscheidung von Bartholomaios gefolgt waren. Dabei war es das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel selbst gewesen, das der russisch-orthodoxen Kirche überhaupt erst die Autokephalie verliehen hatte. 

Unmut innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche

Es gibt auch russisch-orthodoxe Priester im Ausland, die sich inzwischen weigern, für Patriarch Kyrill zu beten. Eine russisch-orthodoxe Gemeinde in Amsterdam hat diesen Schritt bereits vollzogen. Sie hat sich zudem von Moskau abgespalten und die Union mit dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel beantragt. Aber auch innerhalb Russlands ziehen viele Priester beim Kriegskurs Moskaus nicht mit. 293 Priester haben einen Aufruf zur sofortigen Beendigung der Kriegshandlungen in der Ukraine unterzeichnet. Einer von ihnen ist Ioann Burdin, der einer Kirche in der Oblast Kostroma vorsteht. 

In einem Interview mit Radio Svoboda erinnert er an das fünfte Gebot: „Es darf kein menschliches Blut vergossen werden, ganz gleich, wie die Begründung lautet. Es gibt das Gebot ‚Du sollst nicht töten‘, das absolut ist und das der Mensch nicht übertreten kann. Die Sünde bleibt eine Sünde, auch wenn man zum Töten gezwungen wird.“

Während seiner Osterpredigt hat er zudem den russischen Angriff auf die Ukraine als „Brudermord“ gegeißelt. Wie Radio Svoboda berichtet, ist er aufgrund dieser Äußerung inzwischen zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Er habe damit die russischen Streitkräfte diskreditiert, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft.

Religiöser Kulturkampf und Raketen

Der religiöse Kulturkampf reicht aber inzwischen viel weiter. Die Journalistin Elizaveta Nesterova berichtet darüber, dass jede „unnötige“ Nennung Kiews und der Ukraine aus russischen Schulbüchern gestrichen werden soll. Das betrifft sogar die Kirchengeschichte: So soll etwa nicht mehr erwähnt werden, dass der Mönch Nestor im 11. Jahrhundert seine Chroniken im Kiewer Höhlenkloster verfasst hatte. Er wird in der russisch-orthodoxen Kirche als Heiliger verehrt, aber offenbar wird ihm seine Herkunft als Manko angekreidet. Was eine Absurdität sondergleichen ist, weil es damals weder Nationalstaaten gab noch ein russisches oder ukrainisches „Volk“.

Der traditionelle Ostergruß der russisch-orthodoxen Kirche lautet „Christus ist auferstanden“. In sozialen Medien verbreitet sich die Meldung, dass russische Truppen den Ostergruß auf ihre Raketen aufgeschrieben hätten, die im Angriff auf die ukrainische Hafenstadt Odessa eingesetzt wurden. Die entsprechenden Berichte sind noch nicht bestätigt worden. Aber sollten sie stimmen, dann legen sie beredt von der Heuchelei der russisch-orthodoxen Kirche Zeugnis ab. Der russisch-orthodoxe Publizist Sergej Tschapnin kommentierte daher diese Nachricht wie folgt: „‚Die Tötung von Unschuldigen‘ und ‚Christus‘ sind nicht einfach nur Worte, die ein Verrückter nebeneinander gestellt hat. Es wird gleichzeitig gemordet und die Eucharistie gefeiert. Die Morde werden von der Kirche abgesegnet. Die Erwachsenenmärchen über die ‚heilige Rus‘ sind für diejenigen, die sich weigern, sie zu glauben, zum Martyrium geworden.“

Die Position der Katholischen Kirche

Ein Teil der in der Ukraine lebenden orthodoxen Christen ist mit Rom uniert: Sie gehören der papsttreuen griechisch-katholischen Kirche an. Vor ihrem Verbot in der Sowjetzeit umfasste die griechisch-katholische Kirche den Großteil der westukrainischen Bevölkerung. Noch Joseph Roth setzte in einem Artikel über die deutsche „Ukrainomanie“, der 1920 erschienen war, „ukrainisch“ mit „griechisch-katholisch“ gleich.  

Die russisch-orthodoxe Kirche kam 1943 wieder in Amt und Würden, die griechisch-katholische Kirche allerdings nicht. Insofern fügte sich ihr Verbot nahtlos in die Russifizierungspolitik Josef Stalins ein. Trotzdem begreift sich die griechisch-katholische Kirche der Ukraine nach wie vor als Nationalkirche – obwohl sie heute nur in Lwiw, Iwano-Frankiwsk und Ternopil die Mehrheit der Gläubigen stellt. Ihr Oberhaupt ist Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk.

Ähnlich wie Bartholomaios vergleicht er die Leiden der Ukrainer mit dem Leiden Christi am Kreuz: „In diesem Moment erlebt die Ukraine ihre Kreuzigung, ihr Golgatha“. In einer Mitteilung verurteilte er insbesondere die Praxis der russischen Streitkräfte, ukrainische Zivilisten zu Hunderttausenden in abgehängte russische Regionen zu deportieren. 

In Zusammenarbeit mit Papst Franziskus habe sich die griechisch-katholische Kirche um eine Waffenruhe zum Osterfest bemüht, so Schewtschuk. Aber Franziskus wurde nicht erhört. In Reaktion darauf hat der Papst sein für Juni geplantes Treffen mit Patriarch Kyrill abgesagt – womit die ökumenischen Bemühungen zwischen Rom und Moskau vorerst auf Eis liegen dürften.

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